Einem Mann wie Jörg Wagner, der seine Dienste gewöhnlich geräuscharm im Bauch des Buchmessetankers versieht, ist es wohl nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einmal die Buchmesse grundlegend mitgestalten würde. Wir lernen uns in jenem denkwürdigen Jahr 2021 kennen, als er mit dem Team seiner Firma SHOW concept die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse notgedrungen auf die Bühne der Kongresshalle am Zoo und ins Netz stellte. Keine triviale Aufgabe, galt es doch, im je rechten Moment 17 Nominierte aus allen möglichen Welt-Gegenden per Video zuzuschalten – vom Neu-Metelner Bauernhaus der Helga Schubert bis zum Schweizer Residuum Christian Krachts. Kein Wunder also, dass es im – kein Witz! – ehrwürdigen Wagner-Saal der Kongresshalle so aussah wie in einer Server-Farm im Silicon Valley.
Damals galten, wir erinnern uns, die Ausnahmegesetze einer Pandemie – und Wagner, der seit vielen Jahren als Regisseur und Produzent der Preisverleihung fungierte, war mit seinen Profis früh in die Vorplanung involviert. „Wir waren dankbar, dass die Buchmesse beschlossen hatte, die Preisverleihung in einer neu gedachten Bühnen-Situation hybrid umzusetzen.“ Gelaufen ist es damals ein wenig nach dem Vorbild von „Hart aber fair“ – die Zuschaltung sämtlicher Nominierter über Displays erforderte ein starkes Internet und „redundante Stromversorgung“. Was, so klärt Wagner auf, hier nichts Anderes bedeutete als „doppelt abgesichert“, also: Feststrom plus Notstromaggregat. „Wir hatten für jede Schaltung einen separaten Rechner, ein Medienserver verwaltete die Einzeladressen zentral. Und es hat – toi, toi, toi! – alles funktioniert.“ Gemessen am Einsatz zu einer ‚normalen’ Buchmesse war es sicher nicht das umfangreichste Projekt von SHOW concept. „Für uns war es jedoch so etwas wie ein Ritterschlag, weil wir praktisch auf Mausklick alles abrufen mussten, was die Duplizität von ‚Präsenz’ und ‚Digital’ erfordert.“
Als Jörg Wagner 1966 in Lößnitz, am Fuß des Erzgebirges, geboren wurde, waren solche Events in etwa so weit entfernt wie die Mondlandung. Wagner wollte Lehrer für Polytechnik werden, eine Fächer-Kombination, die es so nur in der DDR gab. Jörg Wagner hätte also 1989 noch ein Studium an der damaligen TU Chemnitz draufsatteln müssen – da sein erster Sohn unterwegs war, entschied sich der werdende Vater für einen doppelten Sprung ohne Netz in den Kapitalismus und heuerte als Vertriebler bei einem Tabak-Konzern an. Nachdem er dabei auch Berührung mit Großveranstaltungen gemacht hatte, tat er sich mit seinem alten Schul-Kumpel Thomas Jähne zusammen – und gründete SHOW concept, die heute von beiden gemeinsam geführt wird; 1994 noch als Full-Service-Agentur in Chemnitz. Wenig später konzentrierte man sich auf die technische Umsetzung von Veranstaltungen, schaute sich auch jenseits des lokalen Tellerrands um – und wuchs durch Partnerschaften, etwa mit der PSR Mediengruppe. Im Jahr des WM-Sommermärchens 2006 gab es erste Zusammenarbeiten mit der Leipziger Messe, inzwischen darf sich die Firma mit 16 Mitarbeitern ganz offiziell als „Servicepartner“ von FAIRNET und Leipziger Messe. Seit 2015 hat SHOW concept, neben neu hochgezogenen Büros und einer Lagerhalle nahe der Leipziger Messe, eine feste Homebase direkt auf dem Messegelände.
Die Branche, in der Jörg Wagner mit seinem Team unterwegs ist, nimmt man natürlich wahr. „Aber viele denken: Die bauen ein paar Zelte auf und machen buntes Licht!“ Weit gefehlt – es gibt inzwischen jede Menge Standards, die zu beachten sind. Lange waren die Türen auch für Seiteneinsteiger wie Wagner und Jähne offen, seit 2002 gibt es strenge fachliche Qualifikationsvorschriften. „Von Woodstock bis dahin war High-Life“, lacht Wagner. „Inzwischen ist das Zertifikat der Standard.“ Jörg Wagner hat sich berufsbegleitend ständig weiterqualifiziert: Er ist Meister für Veranstaltungstechnik, hat sogar den Fachmeister für Veranstaltungssicherheit gemacht – und bildet in der Firma auch aus. Derzeit gehören vier Azubis zur Belegschaft. Neben dem Auf- und Abbau von Traversen, Licht, Ton und Video ist SHOW concept auch in die Planungstätigkeit der Messe und die Entwicklung von Sicherheitskonzepten involviert. Im Auftrag der FAIRNET können auch ganze Foren nebst Veranstaltungstechnik für Aussteller schlüsselfertig bereitgestellt werden; als Paradebeispiel hierfür gilt etwa die LVZ-Arena.
Lampenfieber kennt Jörg Wagner eher nicht; in der Veranstaltungs-Branche sprechen sie lieber von der „Ein-Fehler-Sicherheit“. Das heißt? „Sollte ein Fehler passieren – muss die Redundanz greifen.“ So hatte man in Pandemie-Zeiten mit mehr Personal geplant, um bei möglichen Corona-Fällen auf der sicheren Seite zu sein. Durch die Pandemie-Jahre, in denen die Branche insgesamt ziemlich gebeutelt wurde, ist SHOW concept vergleichsweise gut gekommen. Antizyklisch haben die Sachsen in Personal und Weiterbildung der Mitarbeiter investiert. Im letzten Jahr wurde sogar ein Fachinformatiker eingestellt. „Der Videotechniker aus den 1990er Jahren“, weiß Wagner, „muss heute Netzwerk können.“ Monitore, LED-Wände, dutzende Zuspielvarianten – IT spielt heute eine zentrale Rolle im Berufsalltag „Die Kunst der kommenden Jahre wird darin liegen, die Präsenz-Veranstaltungen, die wir alle lieben und für die wir brennen, zu perfektionieren. Und gleichzeitig im Digitalen weiterzukommen.“ Vor der Buchmesse Ende April, dem Neustart nach der Corona-Zwangspause, haben Wagner und seine Kollegen und Kolleginnen Respekt. Aber die Vorfreude ist allen bei SHOW concept, von den Chefs bis zum Lehrling, deutlich anzumerken. Sepp Herbergers goldenen Worte gelten natürlich auch hier: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“
Wer schon einmal das Drehkreuz zwischen Pressezentrum und Halle 1 des Neuen Messegeländes passiert hat, ist der freundlichen Frau mit den sorgfältig frisierten rötlichen Haaren wahrscheinlich begegnet. Mit Sicherheit, ohne darüber groß nachzudenken. Wer indes nicht atem- und blicklos zu einem Termin hastet – mit einem Piepton wird der Strichcode des Messe-Ausweises gescannt – dem fällt auf, dass die Frau hier keinen Job herunterreißt. Sondern das, was sie tut, gern und mit Freude erledigt. Man merkt es an ihrem offenen Blick, einem Lächeln, der Art, wie sie Fragen beantwortet. Normalerweise geht ihre Schicht von neun bis 18 Uhr. Heute, am ersten Tag der Messe Partner Pferd hat Maria Rehm schon um 13 Uhr Feierabend – und wir sind in der Lobby des Verwaltungsgebäudes auf einen Kaffee mit ihr verabredet.
Maria Rehm war Lohnbuchhalterin bei der Deutschen Reichsbahn; das Ost-Pendant zur Bundesbahn hieß zu DDR-Zeiten tatsächlich so. Nach der Vereinigung zur Deutschen Bahn AG wurde die Leipzigerin nach Dresden versetzt. „Jeden Morgen um 4 Uhr 52 mit dem ersten Zug zur Arbeit“, erinnert sie sich, „das war kein Zuckerschlecken“. Maria Rehm hat die Lohnunterlagen für Lokführer bearbeitet: „Der Ostdeutsche, der aus Leipzig nach München fuhr, hat damals 70 Prozent seines verbeamteten Kollegen aus München verdient.“ Die Bahn-Buchhalterin entschied sich für Altersteilzeit – und ging frühzeitig, aber mit Abschlägen in Rente. Um ihre nicht eben üppigen Bezüge aufzustocken, suchte sie einen Nebenverdienst. „Und wie eine Ruheständlerin habe ich mich schon gar nicht gefühlt.“
Durch den Tipp einer Freundin heuerte sie bei der Sicherheitsfirma an, die als Dienstleister auch für die Leipziger Messe tätig ist. Die Tätigkeiten sind abwechslungsreich: Sie ist bei der Eröffnung des Paulinums dabei und lernt alte Leipziger kennen, die die Sprengung der Universitätskirche auf Ulbrichts Geheiß am 30. Mai 1968 selbst erlebt haben. Sie arbeitet am Empfang der IHK, in der Kongresshalle am Zoo, hilft bei der Einkleidung von Messe-Hostessen oder an der Garderobe. Unsere „Frau für alle Fälle“ – so bezeichnen die Kolleginnen in der Firma Maria Rehm. In den 15 Jahren, die sie jetzt auf der Messe tätig ist, findet man sie mit Abstand am häufigsten am Drehkreuz.
Die Leipziger Buchmesse ist für Maria Rehm auf vielerlei Weise besonders: „Es sind mehr Medienleute da, als auf anderen Veranstaltungen. Und es wird deutlich mehr gefragt – nach Programmen, Leseorten, Parkschildern. Und auch schon mal nach dem nächsten Geldautomaten.“ Spannend sind auch die Begegnungen mit Autorinnen und Autoren: „Als Andrea Sawatzki hier durchkam, eine angenehm geerdete Person, habe ich mir für ihre Lesung freigeben lassen.“ Manchmal ist für die Frau vom Drehkreuz, wie sie lächelnd berichtet, auch Fingerspitzengefühl gefragt: „Wenn Sie mich nicht durchlassen, rufe ich den Messechef an – das habe ich durchaus schon gehört. Und wenn sich Presseleute schon vor der offiziellen Hallenöffnung zu Interviews verabredet haben, wird es auch schwierig. Mancher, der nicht an uns vorbeikommt, schimpft dann schon mal wie ein Rohrspatz. Ich versuche, die Bälle flach zu halten.“ Merke: Am Drehkreuz ist man immer auch ein wenig im diplomatischen Dienst.
In Corona-Zeiten ruhte Maria Rehms Arbeitsvertrag – doch inzwischen ist sie längst wieder im Einsatz. Die Buchmesse Ende April soll für sie die letzte am Drehkreuz werden. Die Frau, der man ihre 73 Jahre nicht ansieht, hat ihre Abschluss-Runde sehr bewusst geplant. „Ich feiere im April Geburtstag. Und dann beginnt die Saison in unserem Gartengrundstück, ein kleines Paradies im Auwald zwischen Böhlitz-Ehrenberg und Lützschena. Der Garten wird mich auffangen.“ Ihre Freundinnen glauben nicht recht an den Messe-Abschied, auch Maria Rehms Mann traut dem Frieden noch nicht: Er hat vorsorglich für Mai einen Nordsee-Urlaub für sich und seine Frau gebucht. Und noch etwas wird in diesem Jahr anders sein: Während Maria Rehm 15 Jahre lang keine Zeit für ausgiebige Buchmesse-Entdeckungen hatte – sie musste ja arbeiten! – wird sie diesmal einen Tag frei nehmen. „Ich freue mich riesig darauf!“
Eine Autostunde von Salzburg, im oberösterreichischen Ohlsdorf, kaufte Thomas Bernhard 1965 einen Vierkanthof, sein erstes Haus. Dabei ging es ihm nicht um Repräsentation oder gesellschaftliches Leben. Der Schriftsteller hatte plötzlich die Möglichkeit der Rückkehr zu Wurzeln, die es eigentlich nie gab, die aber erträumt waren: „Mein Wunsch war schon immer gewesen“, so Bernhard, „ein Haus für mich allein zu haben und wenn schon kein richtiges Haus, so doch Mauern um mich herum, in welchen ich tun und lassen kann, was ich will, in welchen ich mich einsperren kann“.
Legendär das Telefonat mit seinem Verleger: „Ich forderte von Unseld 40.000 Mark. Angeblich hatte Unseld zu diesem Zeitpunkt, wie seine Frau mir 19 Jahre später versicherte, 40 Grad Fieber gehabt. Ich forderte also damals, wie ich heute denke, für jeden Fiebergrad des Verlegers tausend Mark. Nach diesem Geschäft, das mich im Höchstmaß befriedigte und das zur Rettung meines Ohlsdorfer Narrenhauses notwendig war, fuhr ich nach Gießen, um einen Vortrag zu halten, und dachte die ganze Zeit, dass gute Geschäfte machen wenigstens so schön ist wie Schreiben.“
Wenn der Besuch Glück hat, führt Peter Fabjan, Bernhards Halbbruder und Ehrenpräsident der Thomas-Bernhard-Gesellschaft, über knarzende und schwindelerregend steile Stiegen durchs Haus und beantwortet geduldig auch noch die letzte Frage. Bis auf die, ob der erklärte Bernhard-Fan Michel Houellebecq bei seinem Besuch im Sommer 2019 eine rustikale Jacke des Dichters im Trachten-Stil als Devotionalie mitgenommen hat? Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab Fabjan 2021 jedenfalls zu Protokoll: „Seine Freude, an diesem Ort zu sein, hat sich unter anderem darin gezeigt, dass er eine Jacke anprobiert hat und, da sie ihm so perfekt passte, nicht mehr zurückgegeben hat, was toleriert wurde. Kein Entwenden!“
„Mein Hof verbirgt, was ich tue“, schrieb Bernhard im Dezember 1965 für „Die Presse“ in Wien: „Ich habe ihn zugemauert, ich habe mich eingemauert. Mit Recht. Mein Hof schützt mich. Ist er mir unerträglich, laufe ich, fahre ich weg, denn die Welt steht mir offen.“ Zu sehen ist heute in Ohlsdorf eine Art Privatkosmos der Täuschungen – als ob Bernhard ein Landadeliger gewesen wäre, ein Waidmann oder ein Maßschuh-Fetischist. Was sollen die Batterien von Spirituosen, die Rauchwaren-Reservoire für den Nichtraucher, die Gewehre für den Nichtschützen ohne Waffenschein? In der Garderobe Gummistiefel, Holzpantinen, rahmengenähte Halbschuhe, trachtengrüne Loden, jede Menge Gürtel und Hosenträger, Seidenkrawatten und raffinierte Harris-Tweeds. Am Traktor, vom Hausherrn nur alle Jubeljahre bestiegen, ist eine Plakette befestigt: Thomas Bernhard, Bauer zu Nathal.
Jakob, welche Rolle haben Comics in Deiner eigenen Lese-Biografie gespielt?
Jakob Hoffmann: Ich habe viel „Asterix“, „Lucky Luke“ und die „Lustigen Taschenbücher“ gelesen. Wichtig war auch das Magazin „Zack“, in dem es immer verschiedene Geschichten gab. Man war darauf angewiesen, sich die Hefte gegenseitig auszuleihen; die alten „Asterix“-Hefte, die ich noch habe, sind dementsprechend total zerfleddert und gehören in die Hall of Fame… In Bibliotheken gab es damals keine Comics. Inzwischen sind die ja eine ganz, ganz wichtige Quelle geworden – es gibt etliche Bibliotheken, die richtig gut aufgestellt sind in Sachen Comics. Das ist für große und kleine leidenschaftliche Comic-Leser essentiell!
Wenn Comics als Türöffner in die Lesewelt gepriesen werden, zitiert man gern Größen wie Art Spiegelman; wem das Lesen längerer Prosatexte schwerfalle, finde hier einen „visuellen Anker“ fürs Leseerlebnis. Ist damit die Geschichte schon erzählt?
Hoffmann: Man würde den Comic-Künstlerinnen und -Künstlern Unrecht tun, wenn man sie darauf reduziert, dass sie so etwas wie die einfache Form der Vermittlung von Literatur seien. Gleichzeitig wäre es etwas snobistisch zu behaupten, Comics seien etwas so Eigenständiges, dass sie auf keinen Fall das Vehikel sein dürfen, um sich mit Literatur vertraut zu machen. Ich bin davon überzeugt, dass es auch eine Lesekompetenz für Comics braucht! Und ich glaube, dass es Menschen gibt, die mit der Visualität von Comics gut zurechtkommen – für die kann es tatsächlich ein Einstieg sein in Geschichten, den sie sonst nicht bekommen hätten. Aber die einfache Lösung – Literatur ist das Erstrebenswerte, und wenn Kinder keine Motivation haben zu lesen, dann verzuckern wir das Ganze durch die Verabreichung von ein paar Bildern – die funktioniert nicht. Die Kinder kapieren die dahinterstehende Absicht schnell…
Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt…
Hoffmann: Genau! Comics besitzen eine eigene Literarizität. Und entsprechend braucht es eine eigene Lesekompetenz. Oder, besser noch: eine eigene Lesegeschichte.
Was sind Deine Erfahrungen, wie Comics auf Kinder wirken?
Hoffmann: Was im positivsten Sinne passieren kann: dass Kinder einen eigenen und wirklich auch in der Form selbst gewählten Zugang zu einer Geschichte finden. Und damit auch zu einem Thema. Im Unterschied zum Film lässt sich die Zeit selber bestimmen. Du bist autonom im Zeitstrom unterwegs. Meine Erfahrung ist, dass sich Kinder sehr frei zum Comic verhalten, ihn zum Beispiel immer wieder lesen. Natürlich interessieren sie sich für die Geschichte. Aber eben auch für die Bilder. Dadurch haben sie zwei Angebote, über die sie relativ frei verfügen können. Es gibt das Phänomen, dass Kinder anfangen Comics zu lesen, noch bevor sie Schrift lesen können. Mir selbst ging das auch so: Ich habe meine ersten „Asterix“-Comics noch nicht so richtig verstanden. Aber ich fand es toll, mir die Bilder anzuschauen. Es hat sich gegenseitig gestützt: Was sagt die Person in diesem Bild, das mir gefällt? Die guten Comics schaffen es, nicht einfach die Textebene durch die Bildebene zu wiederholen. Sondern zwei Ebenen entstehen zu lassen. Die spielerisch miteinander ins Verhältnis zu bringen – das macht Kindern Spaß!
Ein selbstbestimmter, fast schon anarchischer Raum: Mit der Taschenlampe unter der Bettdecke die halbe Nacht durchlesen – solche Geschichten kennt unsere Generation noch aus der Kindheit…
Hoffmann: Für mich ist Comiclesen bei Kindern auch ein Stück Autonomie! Die Diskussion über das Vorlesen, die gerade wieder geführt wird, finde ich total wichtig. Trotzdem gehört es auch zur Entdeckung von Büchern, dass man auch allein auf die Reise gehen kann. Wie gern lesen Kinder etwa Sachen, die noch gar nicht für sie bestimmt sind? Ich erinnere mich, wie ich mit 12 oder 13 Johannes Mario Simmel gelesen habe! Meine Eltern haben nur mit den Augen gerollt. In diesem Sinn ist unsere Zeitschrift „Polle“ etwas für Selbstleser! Das nehmen die Kinder in die Hand – und bestimmen dann vollkommen eigenständig, wie’s weitergeht: Welche Geschichte lese ich zuerst? Wie oft lese ich die? Welche überspringe ich? Vielleicht ist mir das Thema zu ernst, ich verstehe den Witz nicht, finde die Zeichnungen blöd… Alles möglich. Wir bieten einen kleinen Kosmos an. Das ist eine Form der Autonomie, die wir gut finden: Das Kinder einen je eigenen Zugang finden – sowohl in dem Tempo, mit dem sie Sachen lesen, als auch in der Auswahl ihres Lesestoffs. Manche Sachen werden ja auch nachgezeichnet, das ist bei Kindern eine wunderbare Gabe, dass sie mit- und nachzeichnen, umgestalten.
Ein starker Vorbehalt von Elternseite aus lautet: Wir können Comics nicht vorlesen…
Hoffmann: Comics markieren tatsächlich auch einen Prozess der Abnabelung von den Eltern. Eine klassische Geschichte, etwa „Huckleberry Finn“, lässt sich wunderbar vorlesen; da findest Du Deine Rolle als Vater oder Mutter ganz klar definiert. Wenn aber Kinder mit einem Comic um die Ecke kommen, denkst Du: Nee, DAS musst du schon selber lesen!
An welche Altersgruppe wendet sich euer Magazin „Polle“?
Hoffmann: Wir sagen immer, Kinder von 7 bis 12. Das ist ungefähr die Altersgruppe. Aber natürlich gibt es Siebenjährige, die noch nicht lesen können. So wie es fünfjährige gibt, die Comics schon perfekt verstehen. Auch wenn wir uns über den Inhalt der Comics verständigen, haben wir diese recht große Altersspanne im Blick.
Die Hefte werden von Erwachsenen zusammengestellt. Wie bekommt ihr mit, was bei der jungen Leserschaft ankommt – und was nicht?
Hoffmann: Da müssen wir mutmaßen; wir kommunizieren natürlich in erster Linie mit den Eltern. Wir wollen ja auch nicht, dass uns die Kinder auf Instagram Botschaften senden (lacht). Viel Feedback bekommen wir bei unseren Live-Lesungen, die wir glücklicherweise jetzt wieder regelmäßig anbieten können. Deswegen ist auch unser Kindercomicfestival „Yippie!“ total wichtig. Dort sehen wir genau, wie Dinge ankommen und funktionieren. Und wir lesen natürlich ganz viele Kindercomics. Ferdinand Lutz, der ebenfalls Teil der „Polle“-Redaktion ist, schreibt selber Comics, Wiebke Heimchen, die dritte im Bunde lektoriert dazu noch ganz viele Kindercomics. Insofern ist man im ständigen Austausch und durchaus selbstkritisch. In Schulklassen kriegst Du gnadenlos gespiegelt, was gut läuft – und was eben nicht! Die allerbesten Geschichten funktionieren für Große wie für Kleine.
Frankreich gilt gemeinhin als comicbegeisterte Nation. Ist Deutschland in Sachen Kindercomics noch ein Entwicklungsland, auch wenn etwa die Rechte an Josephine Marks „Trip mit Tropf“ (Kibitz) inzwischen an Gallimard verkauft wurden?
Hoffmann: Die Zeiten, in denen vor Comic-Lektüre mit hochnäsig-pädagogischem Zeigefinger gewarnt wurde, sind vorbei. Dazu hat das Label ‚Graphic Novel‘ viel beigetragen! In Deutschland gibt es ein ökonomisches Problem, das merken wir bei „Polle“ auch: Die Comiczeichnerinnen und -zeichner haben keine Geschichten in der Schublade, das gilt auch für die besten unter ihnen. Es dauert ziemlich lange, einen Comic herzustellen, es ist aufwändig und entsprechend teuer. Es gibt in Deutschland noch keine guten Anreize, eigenständige Kindercomics zu produzieren. Es gibt sehr gute Leute, die das machen könnten – aber zu wenig, die es sich leisten können. Anke Kuhl konnte sich ihren phantastischen Kindercomic „Manno!“ (Klett Kinderbuch) leisten, weil sie eine sehr erfolgreiche Kinderbuch-Illustratorin ist. Da ist Frankreich komplett anders aufgestellt. Ein tolles Beispiel ist der alte Lesesaal der französischen Nationalbibliothek. Der wurde nach langer Restaurierung jetzt wiedereröffnet. Die haben einen Buchbestand von 20.000 Büchern im Handapparat – 9000 davon sind Comics! Und entsprechend viele Kinder sind da. Was ebenfalls wichtig und nicht aus dem Blick zu verlieren ist – es gilt, zwischen drei Sachen zu unterscheiden: Die Kindercomics, mit denen wir uns bei „Polle“ beschäftigen, sind ein kleiner, kaum marktrelevanter Teil von unabhängigen Comics mit abgeschlossenen Geschichten. Daneben gibt es Serien wie „Asterix“ oder „Lucky Luke“, die nach wie vor gut laufen. Das sind Maschinen, die – über die Jahre gut geölt – ihre Käuferschaft finden. Und dann gibt’s natürlich: Manga. Eine komplett eigene Welt! Die ist ökonomisch sehr erfolgreich und komm bei den Kindern sehr gut an.
Wann entdecken Kinder Manga für sich?
Hoffmann: Die Manga-Welt erfüllt alle Kriterien einer autonomen Jugendkultur, das ist sehr spannend. Sie ist völlig fluide organisiert zwischen Animé und der Cosplay-Szene. Allein schon durch den banalen Umstand, dass man Manga von hinten nach vorn und von rechts nach links liest, braucht es eine eigene Lese-Kompetenz, dazu die Fähigkeit, diese ziemlich komplexen Charaktere zu entschlüsseln.
Also eher etwas für Ältere…?
Hoffmann: Es gibt auch Manga für Kinder. Aber so richtig Eintauchen in die Welt von Manga und Anime wird man wohl erst, wenn man einen eigenen Zugang zum Internet hat. Sobald wir etwa in die weiterführenden Schulen kommen, das merke ich in meiner Arbeit, ist Manga ein Riesen-Thema. Das Element der eigenen Jugendkultur wird wichtig. Die Teenager merken natürlich sofort: Die Eltern checken das nicht mehr!
Du bist in diesem Jahr Mitglied der Lesekompass-Jury. Für die erste Sonderedition des Lesekompasses 2023 werden Comics, Mangas und Co. gesucht, die besonders für die Leseförderung geeignet sind und Lesefreude bei den Kindern wecken – eine gute Idee?
Hoffmann: Zunächst: Alles, was hilft, auf gute Comics aufmerksam zu machen, ist gut. Punkt.
Ein pragmatischer Ansatz?
Hoffmann: Ja. Vielleicht ist es auch klug, zu sagen: Um Comics endlich gebührend ins Bewusstsein zu bringen, konzentrieren wir uns eine Weile auch darauf. Was in meinen Augen noch nicht ausgemacht ist: dass jeder Comic per se lesefreundlich ist oder die Lesefähigkeit fördert. Man muss sich als Leser immer einen eigenen Zugang schaffen! Das ist der große Reiz. Aber natürlich auch immer die Hürde! Und es ist immer mit einer gewissen – Achtung, Reizwort! – Anstrengung verbunden. Weil, es fordert dich als Leser heraus, in diesen Kosmos einzusteigen. Manche machen es mit großer Begeisterung; manchen fällt es total leicht, wenn Bilder mit im Spiel sind. Und anderen eben nicht. Aber da ist der Unterschied zwischen ‚guter Literatur‘ und ‚guten Comics‘ gar nicht so groß. Das Gute an dieser Initiative ist dann erreicht, wenn man das Spektrum möglicher Bücher noch einmal enorm erweitert, wenn man Comics einbezieht.
Was zeichnet gute Comics aus?
Hoffmann: Ich würde sagen, zunächst ein kluges, nicht redundantes Verhältnis von Text und Bild: dass das Bild auf den Text vertraut und umgekehrt, dass es eine Eigenständigkeit jeweils gibt. Das andere ist, was sich schon schwieriger beschreiben lässt: Es muss gut gezeichnet und erzählt sein. Es braucht zum Beispiel das richtige Timing, das finde ich total wichtig. Und es ist eine große Kunst bei Comics, dass du immer die Seiten umdrehen willst, immer wissen willst, wie’s weitergeht. Das gilt für die Bild- und die Textebene. Die Geschichte muss schließlich so erzählt werden, dass Kinder als KINDER, als autonome Leserinnen und Leser, ernst genommen werden – ohne Verniedlichung, ohne Herablassung. Man darf da ganz entspannt bleiben (lacht): Die lieben Kleinen finden sich schon zurecht!
Jakob Hoffmann, Jahrgang 1964, arbeitet hauptberuflich als Jugendbildungsreferent in einem Pfadfinder:innenverband in Frankfurt/Main. Er ist Leiter des Kindercomicfestivals YIPPIE!, Herausgeber des Kindercomicmagazins POLLE, Comicveranstalter und Kurator (Zuletzt: „Von Monstern, Mäusen und Menschen“ – Illustrierte Briefumschläge von Axel Scheffler). Zusammen mit Chantal Greikowski, Christine Kranz und Johannes Rüster gehört er zur Lesekompass-Jury 2023.
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