„Kein Schreibtisch-Job“ 

„Kein Schreibtisch-Job“ 

Tom Geißlers Oma war felsenfest davon überzeugt: ‚Junge’, sagte sie immer, ‚du wirst irgendwann mal bei einer Bank arbeiten’. Die großmütterliche Prophezeiung hat sich nicht erfüllt. Zum Glück, wie Geißler, Referent für die Tageskassenkoordination bei der Leipziger Messe, aus heutiger Sicht findet. Mit vielen Zahlen und größeren Geldbeträgen hat er dennoch zu tun. Aber das ist, wie man sich leicht vorstellen kann, längst nicht alles. Geißler ist in der Abteilung Digitale Geschäftsmodelle / Besucherservices beschäftigt, die wiederum in die Fachbereiche Ticketing, Tageskasse, Einlassmanagement und Hotel aufgeteilt ist. Die Herausforderungen sind mannigfaltig, gerade im Bereich Ticketing sind Messen sehr arbeits- und planungsintensive Veranstaltungen geworden. 

Es beginnt bereits mit der Wegeführung der Besucherströme, wenn es gilt, Gruppen mit und ohne Karten zu entzerren: „Wie besetze ich Kassen? Nutzen wir Sondereingänge? Bei der Buchmesse bieten wir Karten für Wochentage und das Wochenende zu unterschiedlichen Preisen an – und versuchen so, eine steuernde Wirkung zu erzielen.“ Der Trend, so Geißler, gehe eindeutig in Richtung des digitalen Kartenkaufs im Vorfeld. „Wenn ich das Nahverkehrsnetz kostenlos nutzen kann und mich nicht noch einmal extra anstellen muss, sind das schon Vorteile.“ Eine weitere logistische Herausforderung: 80 Prozent der Besucherinnen und Besucher kommen in der Zeit zwischen 9 und 12 Uhr. Bei der Publikumsmesse Haus-Garten-Freizeit im Februar gab es die Möglichkeit, neben der Tageskarte zu 14 Euro eine „Nachmittagskarte“ für nur neun Euro zu erwerben.

 

(c) nk

Auch Tom Geißler war das, was man ein typisches „Messe-Kind“ nennt: Bereits seine Mutter arbeitet hier, und so war es ganz normal, dass der Steppke schon mit fünf, sechs Jahren übers Messegelände zog – damals noch jenes der technischen Messe, unterm riesigen Doppel-M im Südosten der Stadt. Kein Wunder, dass Geißler während seines BWL-Studiums an der Fachhochschule Merseburg als Aushilfe im Tageskassen-Bereich arbeitete. Und später ein Praktikum in der Messe-Abteilung für strategische Akquisition / Neuproduktentwicklung absolvierte. Es war just jene Abteilung, die die Designers Open 2013 zur Leipziger Messe geholt hatte. 

Bei der Leistungsschau der Kreativbranche, die 2020 aus dem Messe-Portfolio fiel, arbeitete Tom Geißler zwei Jahre als Projektmanager, um dann zu einem Online-Shop zu wechseln, den ein alter Schulfreund von ihm betrieb. „Es hat großen Spaß gemacht“, erinnert sich Geißler an diese Zeit. „Aber Online bedeutet eben auch 24/7 Stress, man rennt praktisch nonstop den Vorgaben der Online-Riesen hinterher.“ Nach drei Jahren liebäugelte das Ex-Messe-Kind Geißler dann tatsächlich wieder mit einem Job bei der Messe. Wenn er zurückkommen sollte, so hatte er schon bei seinem Ausscheiden bei der Designers Open gedacht, dann in die Betreuung und Koordination des Tageskassen-Geschäfts, was er von der Pike beherrschte.

Was hat ihn gereizt? „Einerseits“, erklärt Tom Geißler, „hat man mit jungen Leuten zu tun. Früher war das ein eingeschworener Haufen. In Zeiten, wo viel über Online-Kanäle abgewickelt wird, verfügen wir über einen eher kleinen Pool fester Aushilfen. Das Bild wandelt sich bei Großveranstaltungen wie der Buchmesse, wo man auf einen Schlag 50, 60 Neue einweisen muss.“ Was ebenfalls für seine Tätigkeit spricht: „Es ist kein reiner Schreibtisch-Job. Ich komme in die Hallen rein, auch Dienstreisen fallen regelmäßig an.“ Letztes Jahr war Geißler in München, Hamburg, Stuttgart und Düsseldorf – Städte, in denen die Leipziger Messe Veranstaltungen durchführt. „Wir könnten die Tageskassen dort auch als Dienstleistung einkaufen“, erklärt Geißler, „machen das aber in der Regel selbst. Wir stellen Personal ein, bringen unsere Technik mit, bauen dort auf.“ 

Im April 2019 hat Tom Geißler seinen Job angetreten, nur ein paar Wochen nach der letzten Leipziger Buchmesse vor Corona-Zeiten. „Seitdem warte ich händeringend darauf, endlich wieder eine Buchmesse wuppen zu dürfen.“ Seine Feuertaufe wurde die Modell-Hobby-Spiel im Herbst 2019. Den ersten Messetag wird er so schnell nicht vergessen: In Halle 5 fielen wie durch Zauberhand die EC-Geräte aus, obwohl Kassen und Drehkreuze noch Freitagabend und Samstagfrüh doppelt und dreifach gecheckt wurden. Der Teufel, der im Detail steckt. „Ein Albtraum“, sagt Geißler. „Eine ehemalige Kollegin, die als Besucherin kam, hat mir spontan geholfen.“ Und: „Ich habe das Glück, dass ich auch in solchen Extremsituationen relativ ruhig bleibe. Vor den Mitarbeitern in Hektik verfallen hilft auch keinem!“

(c) nk

Entsprechend geerdet kam Tom Geißler auch durch die Monate der Pandemie. Er war im Testzentrum im Leipziger Rathaus tätig, wo ebenfalls Registrierungs-Logistik benötigt wurde, und betreute eine ganze Reihe hybrider Veranstaltungen. Dazu wurden alle Abläufe seiner Abteilung wieder und wieder auf Herz und Nieren geprüft: „Irgendwann droht man ja, in den Alltags-Routinen betriebsblind zu werden. Wir haben geschaut, wie man Prozesse optimieren, neu und besser organisieren kann.“ Sein Job, weiß Geißler, erfordert sowieso ständiges Lernen – von Beschilderung und Wegeführung bis zu den Abrechnungsprozessen, die ihn noch in Atem halten, wenn die jeweiligen Messen längst gesungen sind. Und jetzt, endlich: Ruhe vor dem Sturm: Die Buchmesse Ende April fest im Blick. Tom Geißler lächelt und strafft sich: „Ich weiß mehr, als in meinem ersten Jahr – und kann mich mehr auf die Veranstaltung freuen, als ich das 2020 hätte tun können. Es wird aufregend. Aber ich bin entspannt.“       

Poetische Archäologin

Poetische Archäologin

Als Maria Stepanova Anfang 2023 in einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ gefragt wurde, was der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sie bedeute, hob sie zuerst auf den durchaus nicht alltäglichen Umstand ab, dass die Auszeichnung erstmals für einen Gedichtband verliehen wird. Für die Autorin ein Zeichen dafür, dass Lyrik zählt: „In dunkler Zeit könnte sie sogar wichtiger und notwendiger sein als sonst. In der anderen ‚dunklen’ Zeit, der Zeit der Konzentrationslager in Europa, haben Gedichte vielen Menschen geholfen zu überleben. Wir wissen aus unterschiedlichen Erinnerungen, sowohl aus der Sowjetunion als auch aus Nazi-Deutschland: Wenn jemand genug Gedichte auswendig konnte, schuf das eine Art Schutzraum, und der Mensch konnte nicht nur als Person überleben, sondern auch den Raum der Poesie mit anderen teilen – einen Raum, der sich zu einer Art großem Zelt aufblies und eine Gruppe von Menschen darunter vereinte, die in psychischer Hinsicht überleben konnten.“ In gewöhnlichen Zeiten, so die Autorin, sei das nicht so essenziell, aber das, was jetzt passiert, ändere alles. Und sie, die Dichterin – ist sie selbst in Zeiten des Krieges dazu in der Lage, Poesie zu verfassen? „Ich schreibe Gedichte, aber es kommt mir seltsam vor“, bekannte sie in einem Radio-Interview. „Es wirkt auf mich selbst, als ob ich doch schweigen würde.“ Mit der russischen Sprache umzugehen, die heute mit Hass und Gewalt aufgeladen sei, ist für Stepanova eine große Herausforderung. Im März 2022 gehörte sie mit Vladimir Sorokin, Swetlana Alexijewitsch, Ljudmila Ulitzkaja und vielen anderen zu den Unterzeichnern eines Appells russischsprachiger Schriftsteller, innerhalb Russlands die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten. „Als Lyrikerin in dunklen Zeiten arbeite ich wie eine Minenentschärferin. Ich grabe die Sprache aus und säubere sie, versuche, ihr eine neue Existenz zu geben.“

(c) Suhrkamp Verlag

Bekannt geworden ist Maria Stepanova hierzulande zunächst als Romanautorin. Der Verlag annoncierte „Nach dem Gedächtnis“ (2018), die deutsche Übersetzung des ein Jahr zuvor im russischen Original erschienenen Buchs „Pamjati pamjati“ sogar als „Metaroman“ – tatsächlich hat Stepanova eine bestechende Form von Literatur erfunden, collagiert aus autobiografischer Erzählung, biografischer Forschung und kulturwissenschaftlichem Essay. Dazwischen spannt sie Lebenswelten auf wie ein riesiges Gemälde, mit perfekt ausgemalten Details einerseits und andererseits beschädigten, manchmal unlesbaren Stellen: „Ein diachrones Wimmelbild, das dem individuellen Schicksal einen übergreifenden Kontext gibt.“ (Barbara Villiger Heilig, Republik) Maria Stepanova hat ihr Buchprojekt mehr als 30 Jahre mit sich herumgetragen. Zunächst war es der Versuch, die Geschichte ihrer jüdisch-russischen Familienmitglieder zu bergen. „Kurios war dabei, dass meine Großmütter und -väter einen beträchtlichen Teil ihrer Energie darauf verwendet hatten, unsichtbar zu bleiben. Möglichst unauffällig zu werden, im häuslichen Dunkel unterzutauchen, sich abseits zu halten von der Weltgeschichte mit ihren überlebensgroßen Narrativen und ihrer Fehlertoleranz von ein paar Millionen Menschenleben.“ Stepanovas Roman ist da das genaue Gegenteil: Ihre assoziative, mehrdimensionale Schreibweise bedeutet einen Akt des Widerstands gegen Erinnerungsverbote und kollektiven Gedächtnisverlust. Um vom Leben der weitverzweigten Familie, allesamt „Untermieter“ der Geschichte wie ihre Urgroßmutter Sarra Ginsburg, erzählen zu können, erschafft Maria Stepanova einen Gedächtnisraum, in dem die Stimmen einer ganzen Epoche widerhallen und Dinge des privaten Lebens zu Exponaten eines Geistermuseums werden. „Hinfahren und nachsehen“, so formuliert es die Autorin einmal, das sei die ‚Grand tour’ einer neuen kollektiven Bewegung in ihrer Generation.

 

(c) Suhrkamp Verlag

Eine berühmte Autorin war Maria Stepanova schon lange vor dem Erfolg ihres ersten Prosawerks. Seit mehr als zwanzig Jahren hat sie die weltoffene Literaturszene Moskaus mitgeprägt und sich als produktive, experimentierfreudige Lyrikerin auch im angelsächsischen Raum einen Namen gemacht. Die drei Langgedichte des Bandes „Der Körper kehrt wieder“ (2020) loten mit epischem Atem die kollektive Geschichte der Sowjetunion aus, um Vergessenes und Verdrängtes heraufzuholen und den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. „Stepanova betätigt sich ein weiteres Mal als poetische Archäologin: Sie legt Verschüttetes frei, besichtigt Trümmer, setzt zusammen, was das verheerende 20. Jahrhundert auf seinen Schlachtfeldern hinterlassen hat, in der Hoffnung auf Wiederkehr des Unwiederbringlichen. Ein großes, geradezu utopisches Projekt, das die Autorin mit unbändiger Sprachkraft und unter Aufbietung ihrer immensen Belesenheit ins Werk setzt“, lobt Ilma Rakusa in der Neuen Zürcher Zeitung. Ein weiteres Mal schmiegt sich die Autorin an die Sprechweisen und Rhythmen anderer Dichterinnen und Dichter an – oder zitiert sie ironisch. Das Spektrum reicht von Puschkin und Alexander Blok über Goethe und Ezra Pound bis zu Inger Christensen. Dort, wo die 2009 gestorbene dänische Ausnahmedichterin in „Alphabet“ (1988) die Erschaffung der Welt in Sprache evoziert, beschwört Stepanova im titelgebenden Langgedicht „Der Körper kehrt wieder“ in einer Art Gegenbewegung die Reparatur der aus den Fugen geratenen Welt. Besonders beeindruckend mit seinem Feuerwerk an Metaphern, Neologismen und Wortspielen ist der dritte Zyklus des Bandes, „Krieg der Tiere und Untiere“, der bereits 2015 entstand – und mit visionären Sprachbildern auf die seit 2014 im Donbas tobenden Kämpfe reagiert. Im Gedicht unterläuft Stepanova jede Forderung nach Eindeutigkeit, lässt jeden Versuch der Machtausübung durch Sprache ins Absurde kippen: „es gibt keinen unterschied zwischen / erstem und zweitem / vaterländischem und vaterländischem / großem und stillem / atlantischem / globalem // so oder so fallen sie / alle im selben im einzigen bruder-, bürger- / wo das morgenrot aus der asche // speerspitzen klaubt“. Das blutige Schlachten wird als etwas sichtbar, das direkt am Körper ansetzt: „wie im frühjahr in wehrkommissionen / schlüsselbeine betastet werden und rücken / die stämmigen drahtigen haarigen werden genommen / ärztinnen prüfen und nicken“.

     

(c) Suhrkamp Verlag

In ihrem nun ausgezeichneten, erneut aus drei Zyklen bestehenden Gedichtband „Mädchen ohne Kleider“ (2022) setzt Maria Stepanova die „Reparatur des Lebens“ mit Mitteln der Poesie fort. Wobei ein weiteres Mal gilt, was die Autorin einmal mit Blick auf Ossip Mandelstam geschrieben hat: Dass das Gedicht „schwankend am Rand eines Abgrunds“ stehe, „zwischen Hoffnung und Urteil, Hinrichtung und Rettung“. Im titelgebenden ersten Zyklus ist das zufällig gefundene Foto einer nackten jungen Frau Anlass, die Kolonisierung des weiblichen Körpers als unendliche Geschichte männlicher Raubzüge darzustellen. Stepanova ruft die gängigen Metaphern und Topoi auf, die mit dem männlichen Blick auf den Körper verbunden sind – zugleich eine nur allzu oft geübte Praxis politischer und militärischer Gewalt. Auf die Zehnzeiler von „Mädchen ohne Kleider“ folgt mit „Kleider ohne uns“ ein sogenannter Sonettenkranz, der sich als poetisches Gegenstück zur Darstellung in Dienst genommener Frauenkörper entpuppt – eine Art Kulturgeschichte der Bekleidung, in der die Sterblichkeit des menschlichen Körpers evoziert wird. Für den im letzten Jahr verstorbenen Literaturkritiker Michael Braun bilden die drei Zyklen des Bandes „absolute Höhepunkte im aktuellen Stimmenkonzert der Weltpoesie“. 

(c) Suhrkamp Verlag

Der Ausbruch der Covid-Pandemie setzte im März 2020 einem Aufenthalt Maria Stepanovas im englischen Cambridge ein Ende. Zurück in Russland, verbrachte sie die folgenden Monate in einem Zustand der Erstarrung: Es ist die Zeit der Zerschlagung der belarussischen Protestbewegung wie der russischen Zivilgesellschaft, die Zeit scheint eingefroren. „Heute“, sagt Maria Stepanova in einem Gespräch mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja, „erscheint mir die Einsamkeit, die Sorge, der Schrecken, die ich damals empfand, wie eine Art Ouvertüre – ein Prolog zu dem, was gegenwärtig in Europa geschieht.“ Das „Winterpoem 20/21“ (2023), das in seinem Originaltitel „Swjastschennaja sima“ auf ein patriotisches Kriegslied anspielt, das nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion populär war, spricht vom Winter und vom Krieg, von Verbannung und Exil, von sozialer Isolation und existenzieller Verlassenheit. Erneut verwebt Stepanova Dichter-Stimmen, die zu ihr sprechen, in einen polyphonen Chor: Von Ovid, dem Hausgott der Verbannten, in Ungnade gefallenen, auf den sich bereits Puschkin, Brodsky oder Mandelstam beriefen, bis zu chinesischen Versen und dänischen Märchen. Heute liest Maria Stepanova das „Winterpoem 20/21“ mit anderen Augen – der Krieg hat den Blick, mit dem sie auf eigene und fremde Texte schaut, verändert. Vieles im „Winterpoem“ ist plötzlich viel näher und konkreter als zum Zeitpunkt des Schreibens. Aber stärker ist noch ein anderes Moment: „Das Gefühl, dass wir… in einer plötzlich zäh gewordenen historischen Zeit feststecken und erst langsam, dann immer schneller rückwärts rutschen, zurück in die Vergangenheit, in archaische, statische Schichten, wo jedes Wort in der Luft gefriert.“ Ein Jahr nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine, der eben nicht rückstandslos in der Formel von ‚Putins Angriffskrieg’ aufgeht, stellt Stepanova in einem Essay für die F.A.Z. schmerzhafte Fragen: Der opferreiche Sieg gegen den Aggressor im Zweiten Weltkrieg, in Schulbüchern und Heldenbiografien tausendfach erzählt, war die einzige Erinnerung, die die Menschen in Russland wirklich verband. Nun ist das Land selbst zum brutalen Angreifer geworden, und alle seine Bürger gehören unabänderlich zur Gemeinschaft jener, die das getan haben. „Zu diesem wir zu gehören, ist qualvoll“, schreibt Maria Stepanova, „aber vielleicht ist es das Einzige, was derzeit Sinn hat: Das getane Böse muss ausgeglichen und der Ort, von dem es ausging, wieder bewohnbar gemacht werden, die Sprache, die es spricht, muss sich verändern. Vielleicht wird das Stigma, das schmerzhafte Zeichen der kollektiven Mittäterschaft eines Tages zu dem Punkt, an dem der Weg von einem blinden ‚Wir’ zu einer Gesellschaft der sehenden ‚Ichs’ beginnt. Bewerkstelligen lässt sich das nur von innen.“ Die vielstimmige Beschwörung der gefrorenen und langsam wieder auftauenden Zeit wäre ein Anfang. 

Zur Person: 

Maria Stepanova, geboren am 9. Juni 1972 in Moskau, studierte am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau. Von 2007 bis 2012 leitete sie die Internet-Zeitschrift OpenSpace.ru; darüber hinaus ist sie Mitgründerin und Redakteurin der über das aktuelle kulturelle Leben in Russland kritisch informierenden Internetplattform colta.ru. 2018/19 hatte sie die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Derzeit lebt und arbeitet sie als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie ist Autorin von mehr als einem Dutzend Lyrik- und Essaysammlungen sowie Trägerin mehrerer russischer und internationaler Literaturpreise, darunter der prestigeträchtige Andrej-Belyj-Preis und das Joseph Brodsky Foundation Fellowship. Für ihren Roman „Nach dem Gedächtnis“, der bislang in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, erhielt sie 2018 in Russland den Bolschaja-Kniga-Preis sowie 2020 in Deutschland, zusammen mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja, den Brücke Berlin Preis.  

Neue Verlegerinnen braucht das Land!

Neue Verlegerinnen braucht das Land!

Im letzten November wurden erstmals 20 Verlage mit dem mit jeweils 10.000 Euro dotierten Sächsischen Verlagspreis ausgezeichnet. Einmalig wurde der Branchenpreis unter dem Dach der Kampagne „So geht sächsisch“ und im Schulterschluss von Sächsischer Staatskanzlei, Sächsischem Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit (SMWA) und Sächsischem Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) verliehen. Die prämierten Verlage erhalten mit dem Preisgeld die Gelegenheit, als Kampagnenbotschafter von der Reichweite der Kampagne zu profitieren und präsentieren sich auf der Leipziger Buchmesse. 

Zum ersten Mal gibt es in diesem Jahr eine „So geht sächsisch“-Bühne (Halle 4, Stand C 306), auf der vom 27. bis 30. April Autor:innen, Verleger:innen und Literaturschaffende aus dem gesamten Freistaat in Lesungen, Diskussionsrunden, Autorengesprächen und Vorträgen über ihre Arbeit, Zukunftsthemen, Branchentrends und ihre Neuerscheinungen mit dem Publikum ins Gespräch kommen werden. 

Dazu werden sich die Verlage am Messefreitag (28. April, 12 bis 13 Uhr, Forum Literatur, Halle 4, Stand B 500) dem Publikum vorstellen: Unter dem Motto „Sächsischer Verlagspreis – Meet the winners!“ kann man beim „Literarischen Speeddating“ die Verlage und ihre Werke in kurzen Speeddating-Runden kennenlernen.

Wir haben uns schon vorab mit zwei der Gewinnerinnen verabredet – Nora Pester (Hentrich & Hentrich) und Kirsten Witte-Hofmann (edition überland) sitzen mit ihren Verlagen beide im Leipziger Haus des Buches – und haben auch sonst einige Gemeinsamkeiten. 

2018 war für Sie beide ein, pardon: schicksalhaftes Jahr: Sie, Nora Pester, sind mit Ihrem Verlag nach Leipzig gezogen; Sie, Kirsten Witte-Hofmann, haben sich damals entschlossen, einen Verlag zu gründen. Frau Pester, was hat Sie bewogen, nach Leipzig zu gehen? 

Dr. Nora Pester: Der Grund war eigentlich ganz profan: In Berlin endete unser alter Mietvertrag, der neue hätte einen 150prozentigen Anstieg der Miete bedeutet. So kam ich auf meine alte Heimatstadt Leipzig. Es bedeutet ja eine gewisse Nähe zur Leipziger Verlagslandschaft, wenn man schon im Kinderwagen über die Buchmesse geschoben wird… 

Was hat sich durch den räumlichen Wechsel verändert? 

Pester: Während wir in Berlin ein Verlag unter vielen war, hat sich unsere Rolle mit dem Umzug nach Leipzig komplett verändert: Hier wurden wir auf einmal zivilgesellschaftlicher Akteur! So wurde ich etwa sehr schnell in den Kultursenat der Kulturstiftung des Freistaats Sachsen berufen. Ich verbringe inzwischen sehr viel Zeit mit Vorträgen und Moderation. Gerade als Verlag mit so einem Profil wird man offensichtlich auch sehr viel mehr von der Gesellschaft gefordert. Ich finde das sehr gut – aber es bindet natürlich auch Kapazitäten. Es ist und bleibt ein Balanceakt, den ich aber grundsätzlich positiv empfinde.  

Sie, Frau Witte-Hofmann, haben einen festen Job mit dem Sprung ins kalte Wasser einer Neugründung vertauscht…  

Kirsten Witte-Hofmann: Tatsächlich habe ich mich schon länger mit dem Gedanken getragen. Ich war sechs Jahre bei E. A. Seemann, habe dort als Volontärin angefangen und war dann zuletzt für die Edition Leipzig zuständig. Dort habe ich auch mit dem Autor Sebastian Ringel zusammengearbeitet. Als 2018 dann das erste Buch von ihm erschien („Wie Leipzigs Innenstadt verschwunden ist“), gab es die Edition Überland noch gar nicht. 

Wie sind sie auf den Namen gekommen? 

Witte-Hofmann: Der entwickelte sich im Zusammenspiel mit den ersten beiden Autoren, Sebastian Ringel und Barbara Handke. Sowohl im Sachbuch wie auch bei der Belletristik schien er uns passend: Man fährt quasi über Land, ist in der Region unterwegs.  

Barbara Thériaults „Die Bodenständigen. Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft“ ist 2020 als schönstes Regionalbuch ausgezeichnet worden. Die haptische Seite Ihrer Bücher scheint Ihnen wichtig zu sein?  

Witte-Hofmann: Stimmt! Wir sprechen sehr viel über diese Sachen – von der Ausstattung bis zur Frage: Wo soll das Buch gelesen werden? Die Autorinnen und Autoren sind bei uns mit in den Gestaltungsprozess einbezogen, das ist durchaus nicht üblich.  

Die „Bodenständigen“ haben exotischer Weise einen innenliegenden Farbrücken…  

Witte-Hofmann: Dort steht sogar noch ein Zitat. Das kann man aber nur lesen, wenn man das Buch kaputt macht (lacht)…  

Sie haben noch etwas gemeinsam: Beide Verlage haben den Sächsischen Verlagspreis 2022 erhalten, dotiert immerhin mit je 10.000 Euro. Was bedeutet so eine Anerkennung für Sie?  

Pester: Ich habe mich zunächst einmal sehr gefreut, dass der Preis diesmal auf so viele Schultern verteilt wurde. Das ist ein wichtiges Zeichen. Es gibt so unendlich viele hoch engagierte Kolleginnen und Kollegen, die permanent an den Grenzen ihrer Kapazitäten großartige Buch-Vorhaben umsetzen. Ich habe dann immer etwas Bauchschmerzen, wenn einzelne Leuchtturm-Projekte die ganze Branche repräsentieren sollen. Insofern wünsche ich mir eine gut aufgesetzte strukturelle Verlagsförderung – schon im Sinne von Chancengleichheit und Wettbewerbsgerechtigkeit. Ich sehe das als existenziell für unabhängige Verlage – es könnte sie ansonsten in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Wir werden mit unseren Büchern gern als Motoren gesellschaftlicher Entwicklung und Debatten gepriesen – aber wir sind keine öffentlich geförderten Institutionen. Auf Dauer ist das nur schwer stemmbar.  

Was bedeutet der Preis für Sie?  

Witte-Hofmann: Ich sehe das ähnlich. Dadurch, dass wir noch sehr jung sind, haben wir uns aber auch über die Aufmerksamkeit gefreut, die durch den Preis auf den Verlag gelenkt wird. Neben dem Preisgeld, das natürlich auch ein Rolle spielt, ist die mediale Wirkung kaum zu unterschätzen.  

Nach drei Jahren coronabedingter Pause ist die Leipziger Buchmesse zurück –was verbindet Sie mit der Messe und welche Erwartungen haben Sie? 

Pester: Trotz der allseits gestiegenen Kosten sind wir als Leipziger Verlage immer noch in einer Art Pole-Position… 

Ein Heimspiel… 

Pester: Genau! Die Leipziger Buchmesse ist als Publikumsmesse auf die Begegnung mit den Leserinnen und Lesern angelegt – das ist etwas, was wir sehr vermisst haben! Nicht zu unterschätzen ist auch die Ausstrahlung in die Region: Nicht wenige Veranstalter warten auf die Messe, weil sie in deren zeitlichem Umfeld auch Autorinnen und Autoren zu Auftritten in der Provinz locken können. Dass sich die Konditionen für „Leipzig liest“-Veranstaltungen deutlich verteuert haben, sehe ich eher kritisch – ab der zweiten Veranstaltung müssen wir für den Online-Eintrag 100 Euro statt vordem 45 bezahlen. Wir agieren alle in einem ökonomisch angespannten Umfeld – wenn man sich dann schon für den Messe-Auftritt entscheidet, reagiert man da eher sensibel.  

Für die Edition Überland ist dieser April die Buchmesse-Premiere?  

Witte-Hofmann: Die GmbH ist im Februar 2019 gegründet worden, nach dem ersten Buch. 2019 waren wir mit unseren ersten beiden Titeln am Livro-Gemeinschaftsstand kleinerer Verlage. Ich bin sehr gespannt, wie unsere Premiere jetzt ausfällt. Wir teilen uns einen Stand mit der Connewitzer Verlagsbuchhandlung, das ist schon mal schön. Viele unserer Verlage sind in Halle 5.  

Sie sind beide jeweils mit zahlreichen Veranstaltungen Start. Worauf darf man sich freuen?  

Witte-Hofmann: Es wird eine Stadtführung und einen Vortrag mit Sebastian Ringel geben, Roman Israel, der es 2022 mit seinem Roman „Nektar Meer“ auf die Hotlist geschafft hat, liest in „Horns Erben“. Und es wird mehrere Veranstaltungen zu „Demokratie in Sachsen“ geben, dem aktuellen Jahrbuch des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts. Im „Laden auf Zeit“ gibt’s eine Party von „siggi“, dem französischsprachigen Soziologie-Magazin, das bei uns erscheint.  

Pester: Wir haben zwei Veranstaltungen mit Nora Goldenbogen („Seit ich weiß, dass du lebst. Liebe und Widerstand in finstersten Zeiten“). Ich stelle auf dem Messegelände und bei Hugendubel mein Buch „Jüdisches Leipzig“ vor, Klaus Grammel hat „Fischele“, eine wahre Liebesgeschichte aus dem Ghetto von Wilna, im Gepäck. Wir präsentieren mit dem Land NRW die große Dokumentation zum Fest „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Monty Ott und Ruben Gerczikow stellen „Wir lassen uns nicht unterkriegen“, ihr Buch über jüdische Aktivist:innen in Deutschland, vor. Ganz schön viel Holz…

Das werden die Tage mit wenig Schlaf, vermute ich… 

Pester: Das bringen Buchmessen so mit sich… 

Witte-Hofmann: Wir freuen uns trotzdem riesig! 

Die edition überland wurde 2019 von Kirsten Witte-Hofmann in Leipzig gegründet. Bislang sind 12 Titel erschienen, die edition überland wartet mit einem feinen belletristischen Programm und Sachbüchern zu ausgewählten regionalen Themen auf. Das Spektrum reicht von der Erzählung über den Roman, von Autofiktion und Feuilleton bis zum klassischen Sachbuch.

https://editionueberland.de

Der traditionsreiche Verlag Hentrich & Hentrisch wird seit 2010 von Dr. Nora Pester geleitet, 2018 kam der Umzug von Berlin nach Leipzig. Mit seinem Profil – jüdische Kultur, dazu Zeitgeschichte, Politik und Gesellschaft im jüdischen Kontext – heißt es für Hentrich & Hentrich immer auch: Farbe bekennen. Pro Jahr erscheinen rund 60 Novitäten, rund 150 Veranstaltungen finden statt. 

https://www.hentrichhentrich.de

Woodstock der Literatur 

Woodstock der Literatur 

Lesezeichen (III): Ein Blick ins Buch, zwei ins Leben – wir empfehlen Ihnen unsere persönlichen Leipzig liest-Favoriten  

Wir feiern das Lesen – endlich wieder in Leipzig! Leipzig liest, das Lesefest mit über 2.400 Veranstaltungen und 2.500 Mitwirkenden, bringt den Bücherfrühling vier Tage lang zum Blühen. Tagsüber in den Hallen des Messegeländes, abends in Cafés und Bars, Museen und Szene-Clubs. Ein wenig Ausnahmezustand, eine Art Woodstock der Literatur – und zugleich die vermutlich beste Chance, Leipzig und seine Potenziale zu erkunden.Nationale und internationale Stimmen aller Genre sind zu entdecken: Von Krimi bis Sachbuch, von Kinder- und Jugendbuch bis Phantastik, von Unterhaltungsliteratur bis Manga und Comic. Die Qual der Wahl ist beträchtlich. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie spannende Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob inspirierende, herzerwärmende Kinderbücher, mitreißende Romane oder ätzende Gesellschaftssatiren – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Bis dahin! 

Wiedergutwerdung | Von Dr. Andreas Knaut, Unternehmenssprecher Leipziger Messe GmbH 

Max Czollek ist ein unbequemer Autor, der sich bereits in Büchern wie „Desintegriert euch!“ und „Gegenwartsbewältigung“ kritisch mit Fragen nach der deutschen Identität und Leitkultur auseinandergesetzt hat. Er selbst nennt sein Generalthema „Ideologiekritik einer deutschen Gegenwart“. In seinem jüngsten Buch Versöhnungstheater (Hanser) [https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/versoehnungstheater/978-3-446-27609-3/], geht es um das eigenartige Phänomen der deutschen Erinnerungskultur. Diese vollzieht sich aus seiner Sicht vor allem als „Versöhnungstheater“ – mit dem Zweck, ein neues Narrativ für moralische Selbstvergewisserung und für ein positives nationales Selbstbild zu schaffen. Ein Stück, dessen Libretto aber ohne die Stimmen der Betroffenen aufgeführt wird und bei dem unklar ist, wer eigentlich im Zuschauerraum sitzt. Längst, so Czollek, hat sich solche Erinnerungskultur zum Selbstzweck verstetigt und ihren ursprünglichen Sinnkern, niemals soll sich Gleiches wiederholen, vergessen. Czolleks Thesen muss man nicht alle teilen. Aber er stellt die richtigen Fragen – und seine Essays lesen sich flüssig und inspirierend.

Max Czollek: Versöhnungstheater. Der Autor im Gespräch mit Shelly Kupferberg. 28. April, 21 Uhr. Ariowitsch-Haus, Hinrichsenstraße 14.

Resilienz, Baby! | Von Constanze Hilsebein, Kommunikationsmanagerin Marketing

Zwei Eichhörnchen, die Gymnastik und Nüsse lieben, und ihre beste Freundin, die Häsin, stimmen gegen die Jagd und damit gegen alle anderen Tiere und Menschen. Sie wollen einfach nur in Ruhe ihre Nüsse verstecken. Alle drei haben mit ‚Nein’ gestimmt, aber niemand hat sich darum gekümmert. Jetzt heißt es, Selbstbewusstsein zu wahren und sich nicht von der eigenen Meinung abbringen zu lassen, auch wenn die Stimmung komisch ist. Eva Lindström, die zu den bedeutendsten Bilderbuch-Schöpferinnen weltweit zählt und letztes Jahr mit dem Astrid Lindgren Memorial Award – dem wichtigsten internationalen Kinder- und Jugendbuchpreis – geehrt wurde, hat sich einmal mehr selbst übertroffen: Mit Wir sind die Könige des Waldes, sozusagen (Kunstmann) ist der schwedischen Autorin und Zeichnerin ein fast schon weises Bilderbuch über Freundschaft und Solidarität gelungen. Ich lese meiner vierjährigen Tochter selbst viel vor und weiß, wie wichtig es ist, Kindern auf spielerische Weise die Welt nahezubringen. Mit Büchern, die so inspirierend sind wie die von Eva Lindström, macht das gemeinsame Entdecken doppelt Spaß.   

Eva Lindström: Wir sind die Könige des Waldes, sozusagen. Vorgestellt von der Übersetzerin des Buchs, Maike Dörries. 28. April, 16.30 Uhr, Nordisches Forum, Halle 4, Stand C 310.

Slow Travel | Von Laura Büching, Projektmanagerin Internationaler Bereich/Österreich und Schweiz, Dienstleister, Non-Book und Fachprogramm

Das Leben in vollen Zügen genießen? Ich reise leidenschaftlich gern, und das zeitgemäße Fortbewegungsmittel ist für mich dabei die Bahn. Logisch, dass ich mich besonders auf eine Veranstaltung freue, in der drei Autoren aus drei unterschiedlichen Perspektiven aufs Zugreisen blicken. Die Eisenbahn-Passion von Jaroslav Rudiš ist mir inzwischen gut bekannt – keiner kann so schön erzählen, wie er in vierzig Stunden auf so vielen Verbindungen wie möglich durch ganz Deutschland fährt. Kein Wunder: Jaroslavs Großvater war Weichensteller, sein Onkel Fahrdienstleiter und sein Cousin Lokführer. Gespannt bin ich auf die beiden anderen Gäste: In Das Dorf ist wie das Internet, es vergisst nichts (Sonderzahl) versucht Markus Köhle einen realistischen Eindruck vom Zustand Österreichs zu bekommen, in dem er dem Volk in den Railjets und Speisewägen der Nation aufs Maul schaut. Auch in Bastian Schneiders Buch Das Loch in der Innentasche meines Mantels (Sonderzahl) spielt die Bahn eine tragende Rolle, da die Figur des Romans sich mit dem Zug auf die Suche nach ihrem Autor begibt. Wenn ein feiner Verlag aus dem Gastland Österreich drei bahnverrückte Autoren präsentiert, gibt’s nur eins: einsteigen!   

In vollen Zügen: Jaroslav Rudiš, Markus Köhle und Bastian Schneider lesen aus ihren aktuellen Werken. 29. April, 17 Uhr, Galerie KUB, Kantstraße 18.  

Traumata überwinden | Von Kerstin Grüner, Projektmanagerin Internationaler Bereich, Musik, Buchkunst & Grafik

In ihrem Roman Was suchst du, Wolf? (Zsolnay) verarbeitet die heute in Warschau lebende belarussische Autorin Eva Viežnaviec die Geschichte der „Bloodlands“, wie der Historiker Timothy Snyder die einstigen Sowjetrepubliken südwestlich von Moskau nannte. Allerdings wird der Blutrausch des 20. Jahrhunderts mit all seinen Grausamkeiten bei Viežnaviec konsequent aus der Perspektive der Frauen geschildert – allen voran ihrer Großmutter. Dabei gelingt das Wunder, die Gräuel-Chroniken in beklemmend lebendige Literatur zu verwandeln. Und auch meine Lektüre endet durchaus nicht hoffnungslos; eher frage ich mich, wie sich Kriegs-Traumata überwinden lassen, ohne in künftige Generationen nachzuwirken? In Belarus wurde das Buch jedenfalls zum Überraschungserfolg und Bestseller. Veröffentlicht wurde es im PFLAŬMBAŬM Verlag, der sich der Förderung von Autorinnen in Belarus verschrieben hat und unter der Schirmherrschaft der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch steht. Ich freue mich darauf, dass zur Buchmesse nicht nur die Autorin, sondern auch ihre mutige Verlegerin in Lesung und Diskussion zu erleben sind. 

Eva Viežnaviec: Was suchst du, Wolf? Lesung und Diskussion mit Swetlana Alexijewitsch. Café Europa, 28. April, ab 15 Uhr. 

Lesung und Gespräch mit Zsolnay-Verleger Herbert Ohrlinger. naTo, 29. April, 17 Uhr. 

Zeitenwandel | Von Gritt Philipp, Projektmanagerin Belletristik/Sachbuch, Kunstbuch

Susanne Gregor, 1981 in Žilina (Tschechoslowakei) geboren, zog 1990 mit ihrer Familie nach Oberösterreich, seit 2005 wohnt sie in Wien, wo sie Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Auch Gregors Roman Wir werden fliegen (Frankfurter Verlagsanstalt) entfaltet die Geschichte der Geschwister Alan und Miša zwischen zwei Welten, Ost und West. Aus wechselnder Perspektive entwirft Susanne Gregor ein einfühlsames Porträt zweier Geschwister, die auf der Suche nach sich selbst in unterschiedliche Richtungen aufbrechen und doch umeinanderkreisen – ein warmer, ein hoffnungsvoller Roman.

Susanne Gregor: Wir werden fliegen. Lesung. 28. April, 15.30 Uhr, Forum „Die Unabhängigen“, Halle 4/D313 

Die Lage ist critical | Von Nikola Korb, Praktikantin Kommunikation

Eine „langweilige Heten-Hochzeit auf f***ing Sylt“ – so klingt es, wenn Hengameh Yaghoobifarah in ihrer taz-Kolumne „Habibitus“ losnörgelt, hier über die Vermählung unseres Finanzministers. Rechter Terror, Rassismus unter Linken, Rape Culture, fades Essen und schlechtes Netz: Seit 2016 legt Hengameh Yaghoobifarah schonungslos den Finger in die Wunden deutscher Leitkultur. Nun also Habibitus (Blumenbar) als Buch. Ich lese gern politische Texte, wenn sie nicht zu schwer und unverdaulich aufbereitet werden. Hengameh Yaghoobifarah verknüpft Humor und eine scharfe Auffassungsgabe und hält einem selbst den Spiegel vor. Gut so! Ich freue mich auf ihren Auftritt. 

Hengameh Yaghoobifarah: Habibitus. Lesung und Gespräch. 27. April, 15.15 Uhr, taz-Studio, Halle 5, C 500. 

Treffen sich zwei | Von Theresa Schicketanz, Studentin der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW)

Ewald Arenz ist Gymnasiallehrer – und das gerne. Zudem schreibt er alle zwei Jahre einen Erfolgsroman. In seinem neuen bemerken zwei Menschen eine Lücke in ihren Leben und dass sie vielleicht doch gerne mehr teilen würden. Er, ein attraktiver Schauspieler, sie eine elegante Fotografin, einige Jahre älter als er. Beide wollen sich reinstürzen ins Gefühlschaos. Und doch ist das kein Selbstläufer: Sie zweifeln, kämpfen und ringen, verlieren sich fast wieder in Ewald Arenz‘ neuem Roman Die Liebe an miesen Tagen (DuMont). In dieser Geschichte findet man sich nach ein paar Seiten selbst wieder – genau das richtige für einen Sonntagnachmittag auf der Couch, mit Keksen und Kakao. 

Ewald Arenz: Die Liebe an miesen Tagen. Lesung. 29. April, 15 Uhr, Buchhandlung Ludwig, Hauptbahnhof, Willy-Brandt-Platz 5. 

Faszination Cosplay | Von Sassette Scheinhuber, Projektmanagerin Manga-Comic-Con

Als die Cosplay-Begeisterung Ende der 1990er Jahre auch auf Deutschland überschwappte, schlüpfte ein Großteil der Akteurinnen und Akteure in die Rolle ihrer liebsten Manga- oder Anime-Charaktere – ganz nach japanischem Vorbild. Ich weiß, wovon ich rede, ich war selbst Teil der Szene. Seitdem hat sich in der Cosplay-Welt ziemlich viel getan. Neben Superheld:innen und Filmfiguren hat nun auch das Buch-Cosplay enorm an Bedeutung gewonnen. Über die Herausforderungen und die Faszination dieser Cosplay-Form wollen wir mit Cosplayer:innen sprechen: Gäste des von Mary Stormhouse moderierten Talks sind die Buch-Cosplayerinnen Bianka Behrend („Bibi“) und Kisacchi. Ich werde am Messe-Samstag nicht nur „dienstlich“ in Halle 3 dabei sein: Klar, dass mich dieses Panel als ehemalige Cosplayerin auch privat brennend interessiert. 

Buch-Cosplay – Trend oder Herzensangelegenheit? Podium mit Bianka Behrend aka Bibi und Kisacchi, Moderation Mary Stormhouse. 29. April, 16.30 Uhr, Große Bühne, Halle 3, Stand G 400.      

Familienaufstellung nach Safier | Von Julia Lücke, Pressesprecherin  

Der Beststellerautor und weltbekannter Bremer David Safier zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern Deutschlands. Seine Romane, darunter „Mieses Karma“, „Jesus liebt mich“ oder „Miss Merkel“ erreichten Millionenauflagen im In- und Ausland. Dazwischen erlaubt er sich aber auch mit viel Beifall von Publikum und Kritik bedachte Abstecher ins ernste Fach: So trug ihm der im Warschauer Ghetto spielende Roman „28 Tage lang“ den Jugendbuchpreis Buxtehuder Bulle ein. Inspiriert war seine Beschäftigung mit der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten auch autobiografisch: Sein Vater war österreichischer Jude, die Geschichte des Holocaust entsprechend präsent. In seinem neuen Roman Solange wir leben (Kindler) erzählt er nun die Geschichte seiner Eltern, die uns vom Wien des Jahres 1937 durch die Gefängnisse der Gestapo führt, später nach Palästina, wo sein Vater Joschi als Barmann und Spion arbeitet und schließlich zur See fährt. Bei der ersten Begegnung der Eltern ist Waltraut eine junge alleinerziehende Witwe, Joschi zwanzig Jahre älter als sie. Ich habe schon viele Bücher von David Safier gelesen – nun bin ich gespannt, wie der Bestseller-Autor mit subversivem Humor mit diesem nicht eben leichten Thema umgeht. 

David Safier: Solange wir leben. David Safier liest aus seinem neuen Roman und spricht mit Shelly Kupferberg. Jüdische Lebenswelten, 27. April, 20 Uhr, Ariowitsch-Haus, Hinrichsenstraße 14.

Kaleidoskop des Schreckens | Von Franziska Burghard, Projektassistentin Ausstellerservice

Sie heißen “Der letzte Vampir von Kradov”, „Nekropias Thron“ oder „Haus Waidmannsruh“, die fünfzehn handverlesenen Schauergeschichten, die der Leipziger Autor Christian von Aster im Band Das Zwielichtkaleidoskop. Schrecken, Verdammnis und Tentakel (Buchheim Verlag) versammelt hat. Ursprünglich geschrieben für Anthologien oder Pulp-Magazine, als Drehbuch oder Theaterstück entstanden, spannen die Storys einen schwarzen Bogen des Schreckens über Jahrhunderte. 2012 hat Christian von Aster den ersten Seraph, den von der Phantastischen Akademie (Mannheim) verliehenen Literaturpreis für deutschsprachige Phantastik-Literatur bekommen – total verdient. Ich selbst liebe die Bücher dieses Multitalents, der mit Leichtigkeit Genregrenzen überspringt und dessen Lesungen immer wieder großartige Erlebnisse sind, seit über einem Jahrzehnt.  

Christian von Aster: Das Zwielichtkaleidoskop. Lesung. 28. April, 17 Uhr, Phantastische Leseinsel 2, Halle 3, Stand D 401. 

Jetzt geht’s los!

Jetzt geht’s los!

Wir feiern das Lesen – endlich wieder in Leipzig! Leipzig liest, das Lesefest mit über 2.400 Veranstaltungen und 2.500 Mitwirkenden, bringt den Bücherfrühling vier Tage lang zum Blühen. Nationale und internationale Stimmen aller Genre sind zu entdecken: Von Krimi bis Sachbuch, von Kinder- und Jugendbuch bis Phantastik, von Unterhaltungsliteratur bis Manga und Comic. Die Qual der Wahl ist beträchtlich. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie spannende Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Schwimmbad-Sommerfeeling, Liebe und Widerstand in finsteren Zeiten oder das geheime Doppelleben eines vielfach preisgekrönten Schriftstellers – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns! 

Sind so kleine Stühle | Von Anja Griesebach-Wesp, Assistentin Kommunikation 

„Kein Thriller“, so stand es warnend auf dem Cover von Sebastian Fitzeks Roman „Der erste letzte Tag“. Und auch Elternabend (Droemer Knaur) gehört in die Reihe von Fitzeks Nicht-Thrillern, auch wenn sich der Titel für jemanden, der schulpflichtige Kinder hat (oder hatte), schon leicht nach Horror anhört. Denn wenn mindestens 25 Erwachsene in verkrampfter Haltung auf zu kleinen Stühlen nervös hin und her rutschen, wenn sie am liebsten ganz woanders wären, dann hört der Spaß definitiv auf. Bei Fitzek beginnt er jetzt gerade: Im Buch geraten ein Kleinkrimineller und eine Klimaaktivistin auf der Flucht in den titelgebenden Elternabend – und müssen, wenn sie nicht entdeckt werden wollen, in die Rolle der Eltern des 11jährigen Hector schlüpfen, des größten Rüpels der Schule. Na ja, wahrscheinlich entgeht niemand dem Charme eines Elternabends. Und auch ich werde mir Fitzek nicht entgehen lassen.  

Sebastian Fitzek: Elternabend. Lesung und Gespräch. 29. April, 16 Uhr, ARD-Forum, Halle 2, Stand H 301.

Seemannsköpper | Von Maren Hein, Projektmanagerin Bildung/Leseförderung

Ein Kopfsprung mit am Körper angelegten Armen vom Dreier, vom Fünfer, gar vom Siebener – die ultimative Mutprobe. Seit meiner frühen Kindheit ist das Schwimmbad meine base, und auch heute noch verbringe ich viel Freizeit in Schwimmverein und -bad. Arno Franks Roman Seemann vom Siebener (Tropen) fühlt sich an wie ein flirrender Sommertag – das 70er-Jahre-Schwimmbad als kleiner Kosmos, der das große Ganze wie in einer Nussschale spiegelt: Treffen, Lieben, Verlust, Leben. Vom Autor ganz leicht, mit einer Prise Humor erzählt. Das Schreberbad, Leipzigs älteste noch genutzte Badeanstalt, hat Ende April noch geschlossen. Doch die Kinobar Prager Frühling, in der auch an den 361 buchmessefreien Tagen des Jahres coole Veranstaltungen stattfinden, ist für diesen Abend die denkbar beste Alternative. 

Arno Frank: Seemann vom Siebener. Lesung. 28. April, 19 Uhr, Kinobar Prager Frühling, Bernhard-Göring-Straße 152.   

Digital Gold | Von Philipp Valentin Müller, Student der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW)

Hat mit Bitcoin tatsächlich eine neue Zeitrechnung begonnen? Könnte die Welt dadurch besser und gerechter werden? Oder zeigt der Crash der FTX-Börse und der Kursverfall der Kryptowährungen, dass Bitcoin und Co nur eine nerdige Spielerei sind? In seinem Buch Die orange Pille (dtv) schildert Ijoma Mangold, wie sogar er, der Literaturkritiker, der Faszination Bitcoin verfiel. Ich persönlich interessiere mich sehr für Kryptowährungen und bin überzeugt, dass sie in Zukunft fester Bestandteil unseres Alltags sein werden. Ich bin gespannt, wie der Literaturkritiker die Sache sieht. Vielleicht vorher noch Goethe lesen? Immerhin war der auch Finanzminister. Und in Faust II spielen Geld und Inflation eine Hauptrolle.

Ijoma Mangold: Die orange Pille. Warum Bitcoin weit mehr als nur ein neues Geld ist. Der Autor im Gespräch mit Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung). 28. April, 15 Uhr, Medienforum, Halle 5, Stand C 501.

Feministische Comics | Von Marlene Riedel, Projektmanagerin Leipzig liest

Die 1978 in Lund geborene Liv Strömquist ist in der DIY-Szene der 1990er Jahre groß geworden; mit Mitte 20 gab sie ein Comic-Fanzine heraus, das von Punk und der amerikanischen Riot Grrrl-Bewegung inspiriert war. Heute gehören ihre augenzwinkernden, minutiös recherchierten Sachcomics zu den erfolgreichsten Graphic-Novels weltweit. Die fünf Strömquist-Werke, die seit 2017 beim Berliner Avant Verlag erschienen sind, habe ich alle verschlungen – nun bin ich gespannt auf den neuen Streich. „Mit Astrologie sollte man sich gar nicht erst einlassen“, meinte zwar Liv Strömquists 74jährige Mutter – wie man in einem der Panels nachlesen kann. Dennoch heißt das Buch genauso: Astrologie (Avant). Der Tierkreis wird als Rahmen benutzt, um uns Menschen zu unterhalten. Dümmer wird man bei Liv Strömquist sowieso nie. Wenn ihr mich fragt: Ein Astrologiebuch für alle, die Astrologie hassen! 

Liv Strömquist: Astrologie. Die Comic-Autorin im Gespräch über ihr neues Buch. 28. April, 15.30 Uhr, Nordisches Forum, Halle 4, Stand C 310.

In der Stadt tritt Liv Strömquist bei der Nordischen Lesenacht in Connewitz auf: 28. April, 19 bis 30.30 Uhr, Werk 2, Halle A, Kochstraße 132. 

Widerstand in finstersten Zeiten | Von Kerstin Krämer, Projektdirektion Bildung, Kinder+Jugend, Manga-Comic-Con; Leitung Messemanagement

In ihrem Buch Seit ich weiß, dass du lebst. Liebe und Widerstand in finstersten Zeiten (Hentrich & Hentrich) begibt sich Nora Goldenbogen auf die Spuren der Lebensgeschichte ihrer Eltern. Ihr Vater überlebte das KZ-Sachsenhausen, ihre Mutter, eine rumänische Jüdin, die Verfolgung in Bukarest. Die Dresdner Historikerin zeichnet die bewegende Liebes- und Leidensgeschichte ihrer Eltern Netty und Hellmut Tulatz nach. Nora Goldenbogen erzählt eng entlang historischer Quellen und Dokumente, sie tut dies aber aus einer sehr persönlichen Sicht. Das macht ihr Buch authentisch und ergreifend. In Zeiten, da Antisemitismus in Deutschland weiter zum Alltag gehört – mehr als fünf antisemitische Straftaten pro Tag zählte das Bundesinnenministerium 2022! – ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur. Vielleicht braucht es solche Geschichten, um uns Mut zu machen für unsere ganz eigenen Entscheidungen zur Wahrheit?   

Nora Goldenbogen: Seit ich weiß, dass du lebst. Liebe und Widerstand in finstersten Zeiten. Lesung und Gespräch mit Nora Pester. Jüdische Lebenswelten, 28. April, 18 Uhr, Ariowitsch-Haus, Hinrichsenstraße 14

Doppelleben | Von Anja Kösler, Leipzig liest Stadtprojekte

Leipziger Messe AG , Kommunikation Team

„Ich war ein Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler, ein Niemand und weiter nichts.“ So schreibt Arno Geiger über sein Leben mit Anfang bis Mitte 20, als er studierte, Schriftsteller werden wollte, aber mit seinen Plänen nicht weiterkam. Das glückliche Geheimnis (Hanser), Arno Geigers bisher persönlichstes Buch, verwebt sein Doppelleben als Containertaucher und werdender Schriftsteller mit wesentlichen Lebensstationen, mit den gewundenen Pfaden der Liebe, mit Krankheit und Tod von Eltern und Freunden und mit den Erfahrungen des Literaturbetriebsteilnehmers. Dass der Joseph-Breitbach-Preisträger des Jahres 2018 nun auf Einladung der Breitbach-Stiftung in die Albertina kommt, ist eine große Freude. 

Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis. Leseabend der Stiftung Joseph Breitbach. 29. April, 20 Uhr, Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6.

Depressiv in Dresden | Von Sarina Libramm, Projektassistentin 

Ohne Schulabschluss, Hartz-IV-Empfängerin, Instagram-affin: Marlen Hobrack erzählt in Schrödingers Grrrl (Verbrecher Verlag) die Geschichte von Mara Wolf, die aus dem Nichts kommt und einen Roman über ihr Lebensgefühl schreibt, der den Literaturbetrieb elektrisiert. Dabei wird Mara zu einer Hochstaplerin wider Willen… Ich war bereits von Hobracks autobiografischen Sachbuch „Klassenbeste“ (Hanser 2022) begeistert, in dem sie mit Mittelklassemythen von Chancengleichheit und sozialem Aufstieg aufräumt – und auch ihre Herkunft aus Ostdeutschland explizit zum Thema macht. Umso gespannter bin ich jetzt auf ihren ersten Roman. 

Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl. Lesung und Gespräch mit Verbrecher-Verlegerin Kristine Listau. 27. April, 12 Uhr, Leseinsel Junge Verlage, Halle 5, Stand C 200. 

Das Ganze im Kleinsten entdecken | Von Darja Piekarz, Praktikantin

Wer auf die Details achtet, hat mehr vom Ganzen. Das ist die These der Kunsthistorikerin Wieteke van Zeil. Ihre Bildbetrachtungen sind sehr inspirierend. Ihr neues Buch Sieh mehr! Wie Kunst unser Denken bereichert (E. A. Seemann) zeigt nicht nur die Schönheit der Kunst, sondern gibt uns eine klare Maxime mit: Schärfe den Blick für die Feinheiten – und bilde dir erst dann eine Meinung! Als kunstinteressierte Leipzigerin freue ich mich, einen regionalen Verlag unterstützen zu können und auf einen Abend in einem der schönsten Museen der Stadt! 

Wieteke van Zeil: Sieh mehr! Wie Kunst unser Denken bereichert. Lesung und Gespräch mit Verlegerin Annika Bach. 28. April, 20 Uhr, Grassi Museum für Völkerkunde, Johannisplatz 5-11.

Coming-of-Age | Von Romana Czajka, Werkstudentin

Fünf Julias (Magas Verlag) spielen in dem gleichnamigen Jugendroman von Matheus Souza zwischen Rio und Sao Paulo die Hauptrollen. Die Protagonistinnen, fünf Mädchen namens Julia, sind 18 Jahre alt. Sie sind schwarz oder weiss, dick oder dünn – und durchweg schön. Plötzlich jedoch versinkt ganz Brasilien aufgrund eines gigantischen Hacks in den Sozialen Medien im Chaos: Wer den Namen einer Person im Netz eingibt, kann sämtliche ihrer E-Mails, Chats und Posts einsehen – was auch das Leben unserer Protagonistinnen völlig aus der Bahn schießt. Ich finde die Thematik des sorglosen Umgangs mit den Sozialen Medien spannend – und möchte mir gar nicht vorstellen, dass ich einmal von so einem Hack betroffen sein könnte. Die „Fünf Julias“ jedenfalls stellen jede brasilianische Soap gendergerecht in den Schatten. Auch cool: Übersetzerin Petra Bös hat eine Spotify-Playlist erstellt, die in chronologischer Reihenfolge alle 92 (!) im Buch erwähnten Songs enthält. 

Matheus Souza: Fünf Julias. Lesung. 29. April, 13.30 Uhr, Lesetreff, Halle 3, Stand B 400.  

Tagebuch eines Lebens | Von Sarah Annowsky, Projektassistentin

Wenn die Marketing-Managerin und Pferdetrainerin Aylin Hoffmann ein Buch schreibt, kommt, logisch, auch ihr Lieblingspferd Calimero, Spitzname Cali, vor. In erster Linie ist Du kriegst ihn nicht natürlich ein Thriller, in dem, als eine junge Frau den Chatverlauf ihres Freundes liest, eine ganz normale Beziehung ins Rutschen kommt. Es geht um Nichtloslassenkönnen, um eine toxisch gewordene Beziehung – was einigermaßen harmlos beginnt, entwickelt sich rasch zu einer Achterbahn der Gefühle. Für ihren Roman hat Aylin Hoffmann eigene Erlebnisse verarbeitet: Ein Tagebuch als Spannungsroman, das klingt nach einer aufregenden Mischung. Wer wissen möchte, wie sich Dichtung und Wahrheit zueinander verhalten, kann Aylin Hoffmann nach der Lesung auf dem Schwarzen Sofa direkt fragen.    

Aylin Hoffmann: Du kriegst ihn nicht. Lesung im Rahmen des KSM Anime Panel. 28. April, 11 Uhr, Schwarzes Sofa, Halle 1, Stand C 400/A 401. 

Schreiben übers Schreiben? | Von Daniela Cotte, Abteilungsleiterin Kommunikation Marken 2

2021 war Judith Hermann mit ihrem Roman „Daheim“ (S. Fischer) für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Ich habe das Buch vor zwei Jahren regelrecht verschlungen, da ich mich in der Protagonistin so sehr selbst wiederfinden konnte: Sowohl die Idee, in der Lebensmitte einen Neuanfang zu wagen, als auch das Meer als Zufluchtsort zu wählen, haben mich sehr fasziniert. Nun also Wir hätten uns alles gesagt (S. Fischer). Konjunktiv II, Irrealis. Da ist man sich sicher übers Unsichere. „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“, so lautet der Untertitel von Hermanns im letzten Jahr an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main gehaltenen Poetikvorlesung. Judith Hermann hat das Schreiben übers Schreiben am Ende vermieden; ihre Vorlesung ist am Ende eher selbst eine Erzählung. Eine, in der sich viel Privates verbirgt. Ich bin sehr gespannt auf die Begegnung mit Judith Hermann im Leipziger Literaturhaus. 

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt. Lesung und Gespräch mit Thorsten Ahrend. 26. April, 19.30 Uhr, Literaturhaus Leipzig, Gerichtsweg 28.