Zauber des Anfangs 

Zauber des Anfangs 

Welcher Ort wäre für diesen Abend besser geeignet? Das Ost-Passage Theater (OTP) ist eine ehemalige Markthalle, die als Lichtspielhaus genutzt wurde, wegen Einsturzgefahr schließen musste und heute, nach unwahrscheinlich viel Einsatz durch Engagierte vor Ort, wieder ein unabhängiger Kulturraum ist – über einer Filiale von Aldi Nord. Und auch das Format ist ein Glücksfall: „Beste erste Bücher“ ist ein großer Abend der Romandebüts, bei dem die Texte im Mittelpunkt stehen. Es wird gelesen und punktgenau anmoderiert – kein Geschwafel, keine Fragen á la „Wie bist du zum Schreiben gekommen?“. Pate für das Konzept stand bei unserem ersten Literarischen Herbst im Oktober 2019 ein Lesungsformat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), die „Institutsprosa“. Wer Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre der Meinung war, dass die Literatur, die in Leipzig und Hildesheim, den damals noch einzigen akademischen Schreibschulen der Republik, entstand, zwar handwerklich perfekt und sprachlich ausgefeilt gewesen sei, aber leider nichts zu erzählen habe, brachte das gern auf eben diese Formel. Das Schmähetikett ist inzwischen zu einer positiv besetzten Trademark geworden: „Institutsprosa“ nennt sich eine von unserem Mitstreiter Jörn Dege organisierte Veranstaltung, die seit einigen Jahren zu Buchmesse-Zeiten für rappelvolle Räume am DLL sorgt.

Kristin Höller liest aus „Schöner als überall“ (c) Gert Mothes

Für den Literarischen Herbst haben wir die Grundidee ins OTP verpflanzt: Unter dem imposanten Tonnengewölbe an der Eisenbahnstraße wird aus sechs besonders vielversprechenden Erstlingen gelesen. Bei der Auswahl achten wir auf eine möglichst große Bandbreite der Texte – in Bezug auf die Autorinnen und Autoren selbst, den Stil und die verhandelten Themen der Bücher. Zur Premiere 2019 ging es um die Langzeitfolgen eines Verrats unter Freundinnen im rauen Berlin kurz nach der Wende (Lene Albrecht „Wir, im Fenster“, Aufbau), um geheimnisvolle Verknüpfungen zwischen Avantgarde-Tanztheater der 1020er und Tech-Start-ups der Gegenwart (Berit Glanz „Pixeltänzer“, Schöffling), um das Erwachsenwerden in der Provinz: die Verwundbarkeit, Neugier und Wut, die großen Pläne und Sackgassen, in denen sie oftmals enden (Kristin Höller „Schöner als überall“, Suhrkamp), es ging um den rätselhaften Tod eines Jugendfreundes, der schmerzhafte Fragen aufwirft (Tom Müller „Die jüngsten Tage“, Rowohlt), um den Wartestand zwischen Rausch und Sinnsuche von jungen Menschen im mondänen München der Jetztzeit (Désirée Opela „In Limbo“, Faber & Faber) und es ging schließlich um einen drückenden Spätsommer in Rumänien 1989 nahe der Grenze samt den persönlichen Verstrickungen am Vorabend eines politischen Umsturzes (Nadine Schneider „Drei Kilometer“, Jung und Jung). 

Deniz Ohde liest bei Beste erste Bücher 2020 aus „Streulicht“ © Gert Mothes

2019 gestartet, wurde „Beste erste Bücher“ schnell zu einem der erfolgreichsten Formate des Literarischen Herbsts. Mit Berit Glanz und Tom Müller waren schon im ersten Jahr zwei der von uns Eingeladenen Finalisten für den ZDF-aspekte-Literaturpreis. Seitdem kann man im OTP in schöner Regelmäßigkeit Anwärter auf höhere Literaturbetriebs-Weihen hautnah erleben. Etwas Namedropping gefällig? Wir sprechen etwa von Deniz Ohde (aspekte-Literaturpreis 2020 und Shortlist Deutscher Buchpreis für „Streulicht“), Ariane Koch (aspekte-Literaturpreis 2021 für „Die Aufdrängung“), Verena Keßler (Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium 2021 für „Die Gespenster von Demmin“), Ferdinand Schmalz (der mit „Mein Lieblingstier heißt Winter“ 2017 schon den Bachmannpreis gewann und es mit dem fertigen Buch 2021 auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis schaffte), Behzad Karim Khani (Shortlist aspekte-Literaturpreis, Debütpreis Harbourfront-Literaturfestival 2022 für „Hund, Wolf, Schakal“), Charlotte Gneuß („aspekte“-Literaturpreis und Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2023 für „Gittersee“), Dana Vowinckel (Mara-Cassens-Preis 2023 und Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 für „Gewässer im Ziplock“) oder Clemens Böckmann (Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2024 für „Was du kriegen kannst“). Ehrensache, dass man die „Besten“ auch gleich vor Ort erwerben kann – der Büchertisch wird seit 2019 von einer unserer sieben Leipziger Partnerbuchhandlungen betreut. 

Raus aus der Komfortzone: Der Literaturbetrieb entdeckt den Leipziger Osten © Gert Mothes

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“: Dieser Vers aus „Stufen“, einem der bekanntesten Gedichte des Schriftstellers Hermann Hesse, ist in die Alltagssprache eingegangen. Er verweist aber auch darauf, wie eng die Rede vom Debüt mit der Schauseite des Buchmarkts verwoben ist: Wetten auf die Zukunft werden, wie an der Börse, abgeschlossen, fast so wichtig wieder Text zwischen zwei Buchdeckeln ist das Gesicht, die Geschichte des Autors, der Autorin, die auf der Bühne des Literaturbetriebs erstmals in Erscheinung treten. Nachdem es Debütromane in der Corona-Pandemie besonders schwer hatten, Veranstaltungsformate wie der Open Mike, bei denen Verlage und Agenten junge Talente entdecken, zeitweilig nur digital stattfanden, so dass sogar Autorenverbände wie der VS Alarm schlugen, investieren die Verlage nach wie vor in nachwachsende Autorinnen und Autoren. 

Bachmann-Preisträger Ferdinand Schmatz bei Beste erste Bücher 2021 © Gert Mothes

Der deutschsprachige Autorennachwuchs ist mehrheitlich jung – die meisten sind in den 80er/90er Jahren geboren – und weiblich; rund drei Viertel der literarischen Debüts stammen von Frauen. In glücklichen Momenten gehen literarische Qualität und Markterfolg Hand in Hand: Der im Juli im Rowohlt-Verlag erschienene Debütroman „Die schönste Version” von Ruth-Maria Thomas ist jetzt schon ein voller Erfolg: Die FAZ nennt das Buch „ein berückendes Generationenporträt der Millennials”. Es war nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 und für den aspekte-Literaturpreis 2024, stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Die in der Lausitz aufgewachsene Autorin hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig an der Universität Leipzig studiert – und im zurückliegenden Sommersemester ihren Bachelor gemacht. Chapeau! 

Mit dem Debüt auf die SPIEGEL-Bestsellerliste: Ruth-Maria Thomas bei Beste erste Bücher, Oktober 2024 © Gert Mothes

Unser Autor Nils Kahlefendt organisiert seit 2019 zusammen mit Jörn Dege und Anja Kösler den Literarischen Herbst – Leipziger Festival für Literatur.

Die Welt erlesen 

Die Welt erlesen 

Sie heißen exotisch „Tschiwawa“ (August-Bebel-Grundschule, Leipzig), einheimisch-direkt „Schulz“ (Lessing-Gymnasium, Kamenz) oder „Käthe“ (Käthe-Kollwitz-Gymnasium, Zwickau), augenzwinkernd „Schlaumeier“ (Grundschule Leubnitz, Werdau) oder „Vogelscheuche“ (Werner-Vogel-Schulzentrum, Leipzig), manchmal auch, nomen est omen, „Crux“ (Evangelisches Kreuzgymnasium, Dresden) – in Sachsen gibt es eine gute dreistellige Anzahl aktiver Schülerzeitungen – 172 haben sich 2024 am Sächsischen Jugendjournalismuspreis beteiligt, der jährlich vom von der Jugendpresse Sachsen e. V. und dem Sächsischen Kultusministerium verliehen wird. Dabei zeigt sich: Die Sächsische Schülerzeitungslandschaft ist höchst lebendig! Das gilt fürs Erscheinungsbild – die Optik reicht hier von der handabgezogenen A5-Kladde bis zum professionell layouteten Mag mit über 100 Seiten – wie für die thematische Spannbreite: Eine Umfrage zum Lieblingsessen findet sich da ebenso wie Reportagen über Beleidigungen im Alltag oder häusliche Gewalt.

 

Bunt und vielfältig: Das Universum der Schülerzeitungen in Sachsen (c)nk

Das alles erfahre ich von Chris Janecki, der seit Anfang 2024 als Medienpädagoge im Team der Jugendpresse Sachsen arbeitet. Chris hat seinen Bachelor in Kultur- und Medienpädagogik in Merseburg gemacht; neben der Jugendpresse engagiert er sich ehren- und hauptamtlich in weiteren Vereinen, so etwa dem Landesfilmdienst. Wir treffen uns im zweiten Stock der Leipziger VILLA in der zentrumsnahen Lessingstraße, wo die Jugendpresse Sachsen ihr Büro hat. 1990 besetzten Bürgerrechtler die ehemalige Stadtleitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ), inzwischen ist das Haus seit mehr als 33 Jahren ein Soziokulturelles Zentrum, unter dessen Dach dutzende Vereine, Initiativen und Organisationen beheimatet sind und pro Woche über 100 Veranstaltungen mit mehr als 1.500 Besuchern stattfinden.

 

Was mit Medien: Im Büro der Jugendpresse (c)nk

Die Jugendpresse Sachsen e. V. – eine von zwölf regionalen Gliederungen, die unter dem Dachverband Jugendpresse Deutschland tätig sind – ist ein Verband junger Medienmacher, dessen Ziel es ist, Medienkompetenz zu fördern und junge Medienschaffende zu unterstützen. Über die Ausrichtung des Sächsischen Jugendjournalismuspreises hinaus geschieht das auch über Workshops und Netzwerktreffen. So bieten Chris und seine Mitstreiter:innen etwa medienpädagogische Workshops zu Themen wie Fakenews oder Cyber-Mobbing an Schulen an und arbeiten sachsenweit mit Schülerzeitungen aller Coleur zusammen. Außerdem stellt die Jugendpresse Sachsen den Jugendpresseausweis aus, der es Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten ermöglicht, ihre journalistische Tätigkeit nachzuweisen und beispielsweise Presseveranstaltungen zu besuchen und darüber zu berichten.

 

(c)nk

Unter dem Motto Die Welt erlesen organisiert die die Jugendpresse Sachsen in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse seit 2022 einen Medientag, bei dem Schülerzeitungs-Redaktionen aus ganz Sachsen die Chance haben, auf der Buchmesse zu berichten, Interviews zu führen und einen Blick hinter die Kulissen des Großevents zu werfen. Alle Beiträge werden nicht nur in den eigenen Zeitungen, Podcasts oder Social Media-Plattformen veröffentlicht, sondern auch auf einem gemeinsamen Blog. 2024 reichte die Palette der Beiträge der jungen Redakteurinnen und Redakteure vom Porträt eines veganen Kinderbuchverlags über Foto-Impressionen von der Manga-Comic-Con (MCC) und Buch-Rezensionen bis zu einem selbstproduzierten Podcast zweier Gymnasiastinnen aus Dresden. 

Es geht ums Mitmachen und Dabeisein!

Chris Janecki, Jugendpresse Sachsen e. V.

„Die Schülerzeitungs-Redaktionen können einen Blick hinter die Kulissen der Buchmesse werfen“, erklärt Chris, „sie erhalten eine Akkreditierung und Zugang zum Pressebereich, ganz wie ihre erwachsenen Kollegen. Wir treffen uns vorab einmal alle zusammen online, um mögliche Themen zu besprechen oder technisch-organisatorische Fragen zu klären. Wir können zum Beispiel auch Aufnahmegeräte oder Kameras verleihen.“ So kann es auch am Messe-Freitag im März 2025 gut sein, dass sich Autorinnen und Autoren, Verlegerinnen und Verleger oder wild kostümierte Mangakas mit Mikrofonen und Kameras konfrontiert sehen. Kisch- oder Grimme-Preis-verdächtige Stücke mögen dabei nicht entstehen – aber das sei auch nicht gewollt, sagt Chris Janecki: „Es geht ums Mitmachen und Dabeisein, auch wenn kein journalistisches Top-Ergebnis dabei herauskommt.“ Und das ist spannend genug: Wir erfahren, wie Kinder und Jugendliche die Welt sehen, was sie begeistert – und welche Medien sie wählen, um sich auszudrücken. Gut möglich, dass der eine oder die andere nach einem Tag auf der Leipziger Buchmesse beschließt, „etwas mit Medien“ zu machen. Und der Messe als Praktikant oder Volontärin für LVZ, Kreuzer oder Mephisto 97,6 erhalten bleibt. Im Leben, wissen wir, sieht man sich meist zwei Mal.

   

(c)nk

Die Welt erlesen – Der Medientag der Leipziger Buchmesse: Freitag, 28. März 2025

Infos und Anmeldung: chris.janecki@jugendpresse-sachsen.de

„Wie eine warme Umarmung“ 

„Wie eine warme Umarmung“ 

So etwas hat Katja Stergar, Direktorin der Slowenischen Buchagentur JAK und damit auch zuständig für die Buchmesse-Auftritte des Balkan-Landes, noch nicht erlebt: Als am 21. März dieses Jahres, Messebeginn in Leipzig und gleichzeitig Welttag der Poesie, die Lyrik-Empfehlungen veröffentlicht wurden, standen – wow! – gleich drei Übersetzungen aus dem Slowenischen auf der Bestenliste! Wie immer hatten Kritikerinnen und Kritiker zehn deutschsprachige und zehn ins Deutsche übersetzte Gedichtbände ausgewählt, beachtet wurden Neuerscheinungen von Anfang 2023 bis März 2024. „Drei von sieben, das gab es noch nie“, begeistert sich Stergar, „ich habe das recherchiert. Wir hatten in unserem Gastland-Programm Lyrik im Fokus – und offensichtlich hat das deutsche Publikum slowenische Poesie ins Herz geschlossen.“ Die Österreicherin Daniela Strigl hatte die Lyrik-Auswahl „Mein Gedicht ist mein Gesicht“ von Srečko Kosovel (Otto Müller) empfohlen, Nico Bleutge den Band „nicht fisch“ von Ana Pepelnik (Parasitenpresse) und Joachim Sartorius „Steine aus dem Himmel“, eine Sammlung der späten Lyrik von Tomaž Šalamun (Suhrkamp). 

„Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen“, heißt es bei Bert Brecht. Welche Rolle, will ich von Katja Stergar wissen, spielt die Leipziger Buchmesse, nachdem die Auftritte in Frankfurt im Oktober 2023 – unter dem Motto: „Waben der Worte“ war Slowenien da Gastland – und  Bologna im April 2024 – da war man Ehrengast der Internationalen Kinderbuchmesse – absolviert sind? „Während wir in Frankfurt eher Panels zu Fragen rund ums Verlegen organisieren, von Deep Reading bis zu Leserforschung, haben wir in Leipzig deutlich mehr Autoren-Präsentationen und literarische Diskussionsrunden – ganz einfach, weil Leipzig neben der Messe mit Leipzig liest auch ein großes Literaturfestival ist. Als die Lyrikempfehlungen, genau passend zur Leipziger Buchmesse 2024, herauskamen, waren wir froh, dass wir eine ganze Reihe Dichterinnen und Dichter dabeihatten.“ 

In Leipzig, so erklärt Katja Stergar, ist es eher möglich, Autorinnen und Autoren vorzustellen, die noch nicht so bekannt beim deutschsprachigen Lesepublikum sind. Zudem gebe es in Leipzig deutlich mehr Slots für Autorinnen und Autoren – als die JAK-Chefin ihr Budget für Frankfurt im Herbst 2024 gesichert hatte, war Open Books bereits ausgebucht. Bewährt hat sich, egal ob am Main oder an der Pleiße, wenn medial noch wenig durchgesetzte Autorinnen und Autoren mit prominenten Kollegen zusammenspannt. So präsentierte die JAK den slowenischen Autor Vinko Möderndorfer und dessen aktuellen Roman „Die andere Vergangenheit“ (Residenz) gemeinsam mit Reinhard Kaiser-Mühlecker, dessen Roman „Brennende Felder“ zum Auftakt der Buch Wien mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Die Essayistin und Journalistin Marie Luise Knott präsentierte den dritten auf Deutsch vorliegenden Roman des großen, 1987 gestorbenen Enfant terrible der slowenischen Literatur, Vitomil Zupan, der in „Levitan“ (Guggolz) über seine Haftjahre nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt. Deutsche Leser kennen Zupan durch seinen begeistert aufgenommenen Roman „Menuett für Gitarre (zu 25 Schuss)“, ebenfalls bei Guggolz erschienen.  

Verleger aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz haben in Leipzig einfach etwas mehr Zeit, sind offener für Gespräche.

Katja Stergar, Direktorin JAK

Die Leipziger Buchmesse ist für Katja Stergar zudem ein idealer Treffpunkt mit Verlegerinnen und Verlegern aus dem deutschsprachigen Raum. „Unsere Kollegen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben in Leipzig etwas mehr Zeit, sie sind hier offener, entspannter“, weiß Stergar. „Natürlich haben wir ihnen im Vorfeld eine Menge guter Titel vorgeschlagen. Aber wir alle wissen: Entscheidungen brauchen in unserer Branche Zeit!“ Was der JAK derzeit nicht gerade in die Karten spielt: 2024 haben drei bewährte Agenten, die sich um die Auslandsrechte für slowenische Autoren kümmerten, das Business verlassen. „Wenn man weiß, dass es insgesamt weniger als ein Dutzend Agenturen gibt, ist das schon eine Hausnummer.“ Autorinnen und Autoren wie die Bachmannpreis-Gewinnerinnen Maja Haderlap und Ana Marwan oder der umtriebige Aleš Šteger sind im deutschsprachigen Raum durchgesetzt – schwieriger ist es mit spannenden jungen Talenten, die vielleicht erst in Literaturmagazinen oder Anthologien übersetzt wurden. 

Ein schöner Nebeneffekt der diversen Ehrengast-Auftritte ist, dass man „niemanden mehr auf der Landkarte zeigen muss, wo Slowenien liegt“, das Land, dessen Sprache von ungefähr zwei Millionen Menschen gesprochen wird. Katja Stergar weiß, dass sie in ihrem Job eher Marathon-Läuferin als Sprinterin ist. Aber sie glaubt fest an die Qualität „ihrer“ Autorinnen und Autoren. „Als jemand, der volle Straßenbahnen und drangvolle Enge in Lese-Orten liebt, freue ich mich auf Leipzig. Die Stadt ist für alle, die in der Buchbranche arbeiten, wie eine warme Umarmung.“ Noch wird am Programm für März 2025 gefeilt – neben Literatur für Erwachsene will Stergar auch spannende Bücher und Autoren für junge Leser nach Leipzig holen. Und, wer weiß: Vielleicht gelingt es ihr ja sogar, den erst 21-jährigen slowenischen RB-Fußball-Star Benjamin Šeško als Leseförderungs-Multiplikator zu gewinnen? Stergar, die selbst beinahe eine Leistungssport-Karriere hingelegt hätte, weiß, dass das Vorurteil von den TikTok-fixierten Sport-Stars häufig nicht stimmt. Literatur und Fußball zusammenzubinden, das wäre aus Sicht der JAK-Direktorin ideal. „Wir müssen Kinder und Jugendliche erreichen, die eher mit Büchern fremdeln, wir müssen raus aus der Komfortzone!“ 

Als ich Katja Stergar zum Abschied nach ihrem Leipziger Lieblings-Lese-Ort frage, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: Das UT Connewitz, Location der legendären „Balkannächte“. Als Sloweniens vielleicht berühmtester Autorenexport-Artikel Slavoj Žižek zur Leipziger Buchmesse im April 2023 gemeinsam und mit Jela Krečič über „Philosophie in der Popkultur“ referierte, im Rahmen des Traduki-Programms „Zwischen den Zeilen“ war das – da stand die Schlange derer, die noch in das alte Kino wollten, fast bis zum Connewitzer Kreuz. „Ein Anblick, den ich nie vergessen werde!“ 

Der Dauerglücksfall

Der Dauerglücksfall

Auf dem Tisch in der Grieg-Begegnungsstätte liegt ein Stapel Bücher, daneben griffbereit Wasser und Säfte. Um den Tisch ein knappes Dutzend Frauen und Männer, die sich bereits ein Exemplar vom Stapel genommen haben und neugierig blättern, erste Sätze miteinander wechseln. Die Gruppe kennt sich nicht, auf den Abend-Termin Mitte November ist man wahlweise über eine Kreuzer-Anzeige, den Newsletter der Grieg-Begegnungsstätte, Instagram, oder Facebook gestoßen. Eine Buchhändlerin ist dabei, eine Theaterfrau, sogar eine Übersetzerin aus dem Norwegischen. Worum geht es? Die Leipziger Buchmesse im kommenden März, bei der Norwegen Gastland ist, wirft ihre Schatten voraus. „Und so wollen auch wir auf den besonderen Schwerpunkt der norwegischen Literatur vorbereiten“, sagt Christoph Siems, privat eifriger Leser und Geschäftsführer der Begegnungsstätte. „Ab sofort laden wir, in Zusammenarbeit mit NORLA, einmal monatlich zu einem norwegischen Lesekreis in unseren Salon.“ 

In der Leipziger Talstraße werden nicht nur Partituren gelesen (c) Grieg-Begegnungsstätte e.V.

Lesekreis? Thomas Böhm, 2019 Projektkoordinator des norwegischen Gastlandauftritts in Frankfurt und auch diesmal beratend im Vorbereitungs-Team für Leipzig, erklärt, warum es geht. Beim Gastlandauftritt in Leipzig stehe das Gespräch über Bücher im Mittelpunkt. Auf der Suche nach Formaten, die Menschen verbinden, sei man, unter anderem, beim guten, alten Lesekreis gelandet. In Köln, wo Böhm von 1999 bis 2010 das Literaturhaus leitete, gehörte er zehn Jahre einem Lesekreis an – am Ende fühlte man sich dort so aufgehoben „wie in einer Familie“. Eigentlich, so Böhm, sei Lesen ja eine sehr private Beschäftigung, der man sich in der Regel allein, im stillen Kämmerlein, hingibt. Nun auf Gleichgesinnte zu treffen, die das gleiche Buch lesen, sei eine „Ausnahmesituation“, die durch den Lesekreis „zum Dauerglücksfall“ werde: „Ganz so, als hätte man das Buch mit den Augen aller anderen gelesen“. 

Die Idee von NORLA: Bis März soll in neu gegründeten Lesekreisen aus der Fülle der norwegischen Literatur geschöpft werden – egal, ob Klassiker oder Novitäten. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren können dann spätestens im März 2025 zur Leipziger Buchmesse getroffen werden. Wieso aber avancierte die Grieg-Begegnungsstätte in der Talstraße 10 zum Gründungsort des deutschlandweit ersten norwegischen Lesekreises? Wer über die Begegnungen zwischen Deutschland und Norwegen spricht, kommt an der Adresse buchstäblich nicht vorbei. Das hat zum einen mit der Musik zu tun: Der Norweger Edvard Grieg hatte nicht nur in der Musikstadt Leipzig studiert, er war zeitlebens mit dem hier ansässigen Musikverlag C. F. Peters verbunden. In der Beletage des Verlagssitzes in der Talstraße gaben sich Berühmtheiten wie Grieg, Johannes Brahms oder Max Reger die Klinke in die Hand, Grieg hatte im Dachgeschoss sogar eine eigene Gästewohnung. Mit der 2005 eröffneten Grieg-Begegnungsstätte folgte man dem ausdrücklichen Wunsch Henri Hinrichsens (1868-1942) – dessen Bemühungen um seinen „Hauskomponisten“ ist es zu verdanken, dass wir heute auch einen Norweger zum Kern der Musikstadt Leipzig zählen.

Seit 2005 ist die Wohnung im ersten Stockwerk mit einer Ausstellung zum Leben Griegs und mit einem historischen Konzertsalon aus der Zeit um 1900 für das Publikum geöffnet. Außerdem gehören Lesungen, Vorträge, Empfänge und Workshops zu den Vereinsaktivitäten, häufig mit dem Fokus auf Norwegen, der Geschichte des Musikverlages C. F. Peters oder dem Musikleben Leipzigs. Gelegentlich gibt es dort aber auch literarische Sternstunden – so wie zur Leipziger Buchmesse 2024: Regina Kammerer, Verlagsleiterin von Luchterhand und btb, ist im März für ihr Engagement für die norwegische Literatur und Kultur und die deutsch-norwegischen Beziehungen zum Ritter 1. Klasse des Königlich Norwegischen Verdienstordens ernannt worden. Der Verdienstorden wurde 1985 durch König Olaf V. von Norwegen gestiftet. Zu den Gästen in der Talstraße gehörte auch Karl Ove Knausgård, der für die Laudatio eigens aus London angereist kam. Kammerer hat sich jahrzehntelang für Stimmen aus Norwegen stark gemacht und dabei Bestseller wie Maja Lunde oder eben Knausgård ermöglicht, sich aber genauso auch um die Veröffentlichung bislang weniger bekannter Autoren wie etwa Kjell Askildsen verdient gemacht. 

Lesekreis-Auftakt mit Bestsellerautor Tore Renberg (c)nk

Für den Auftakt des Leipziger Lesekreises haben Thomas Böhm und NORLA auf den druckfrischen Roman eines der populärsten norwegischen Autoren gesetzt: „Die Lungenschwimmprobe“ von Tore Renberg (Luchterhand) spielt im barocken Leipzig des Jahres 1681 und ist, akribisch recherchiert, nach einer wahren Begebenheit erzählt: Die junge Anna Voigt sieht sich dem schlimmen Vorwurf ausgesetzt, ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Ihr Vater beauftragt einen jungen Rechtsgelehrten namens Christian Thomasius mit ihrer Verteidigung, dazu findet sich ein Arzt, der Annas Verteidigung auf wissenschaftliche Füße stellen will – der Fall gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin. Als Renberg 2018 auf die Geschichte der Anna Voigt stieß, begann er Deutsch zu lernen, um selbst in sächsischen Archiven, Museen und Kirchenbüchern recherchieren zu können. Bis kurz vor Weihnachten werden die Mitglieder des frisch aus der Taufe gehobenen Leipziger Lesekreises „Die Lungenschwimmprobe“ gelesen haben – was bei einem Roman, den „Aftenposten“ schon mal als „rauschendes Lesefest“ bezeichnet hat, kein Problem sein dürfte. Im März, kurz vor der Buchmesse, wird man Tore Renberg dann zum Stadtspaziergang auf Anna Voigts und Christian Thomasius’ Spuren treffen.

Wir möchten Buchhandlungen und Lesekreise in ganz Deutschland für norwegische Literatur gewinnen!

Thomas Böhm

 

„Darüber hinaus“, so wünschen es sich NORLA und Thomas Böhm, „möchten wir Lesekreise und Buchhandlungen in ganz Deutschland animieren, sich mit norwegischer Literatur zu beschäftigen.“ NORLA wird in den kommenden Wochen Lesekreis-Materialien vorbereiten, Norwegische Autorinnen und Autoren sind bereit, in Buchhandlungen zu lesen UND begleitend in Lesekreisen aufzutreten. „Die Initiative“, so Böhm, „kann dabei von der Buchhandlung oder vom Lesekreis ausgehen. Wir freuen uns über jede Anfrage.“ 

Der norwegische Lesekreis Leipzig trifft sich einmal im Monat, donnerstags 19 Uhr, in der Grieg-Begegnungsstätte, Talstraße 10. Nächster Termin ist der 19. Dezember 2024. 

Kontaktadresse für Buchhandlungen/Lesekreise, die norwegische Literatur kennenlernen möchten: norwegischerlesekreis@gmx.de

Alles außer flach! 

Alles außer flach! 

Wenn die Welt sich verändert, verändert sich auch die Literatur: Das war das Credo, dem die Kuratorinnen des Gastlandauftritts Niederlande & Flandern auf der Leipziger Buchmesse, Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, folgten. Unter dem Motto „Alles außer flach!“ haben Nederlands LetterenfondsFlanders Literature und ihre Partner ein fulminantes Programm mit mehr als 40 Mitwirkenden auf die Beine gestellt: Die meisten der rund 100 Veranstaltungen auf dem Messegelände, wo ein attraktiver Gastland-Stand mit Buchausstellung, Café und eng getakteten Gesprächen lockte, und an zahlreichen Locations in der Stadt, wurden von den Leipzigern und ihren Gästen regelrecht überrannt. Im Rahmenprogramm gab es unter anderem vier Ausstellungen und drei digitale Literaturinstallationen. Wie viel gab es zu sehen und zu hören! 

Leben zwischen West und Ost: Lisa Weeda & Dmitrij Kapitelman mit Moderatorin Bettina Baltschev (ganz rechts) und Sprecherin Jasmin Galonski (ganz links) (c)Johanna Baschke

Mit der Krise tanzen: Während bei der Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus gleich drei Ministerpräsidenten – Mark Rutte (Niederlande), Jan Jambon (Flandern, Chef des Europäischen Kulturrats) und Michael Kretschmer (Sachsen) – zu ihren Lieblings-Lektüren einvernommen wurden (Rutte glänzte mit einem formvollendeten „Zauberberg“-Privatissimum), konnte man an diesem ungewöhnlich milden Märzabend auch in die Schaubühne Lindenfels, das temporäre Headquarterdes Gastlandauftritts, radeln. Dort traf man auf Lisa Weeda und Dmitrij Kapitelman („Eine Formalie in Kiew“, Hanser), deren beider Wurzeln in der Ukraine liegen. Reden über ein Leben zwischen West und Ost, Frieden und Krieg. „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren” – das hat die große Choreografin Pina Bausch einmal gesagt. Ein Satz, den die niederländische Schriftstellerin Lisa Weeda mit ihrem neuen Buch Tanz, tanz Revolution (Kanon Verlag, übersetzt von Birgit Erdmann) aufgreift und ein kühnes Roman-Experiment präsentiert, dass sich von zwei Seiten lesen lässt, von Ost wie von West. Bereits in ihrem gefeierten Debütroman „Alexandra” hatte sich Weeda auf die Reise in den Osten Europas gemacht. Auf den Spuren ihrer Großmutter war sie in die Ukraine gereist. Besulia, das fiktive Land, das in ihrem neuen Roman von seinem Nachbarn angegriffen wurde, ist leicht mit der Ukraine zu verwechseln. Die zahlreichen Toten, die der Krieg tagtäglich produziert, und die wie von Zauberhand im Alltag der vom Krieg verschont bleibenden Menschen anderer Länder auftauchen, können im Roman, frei nach Pina Bausch, wieder lebendig getanzt werden. Weeda ist in den Niederlanden geboren, ihre Vorfahren stammen aus der Ukraine. Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman erzählt in Eine Formalie in Kiew (Hanser Berlin) die Geschichte einer ukrainischen Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der längst besser sächselt als die Beamtin, bei der er in Leipzig den deutschen Pass beantragt. Doch weil der Bürokratie keine Formalie zu klein ist, wenn es um Einwanderer geht, reist er in seine Geburtsstadt Kiew – mit der ihn, bis auf seine Kindheitserinnerungen, nichts mehr verbindet. Auffällig war in Leipzig, wie selbstverständlich und hellwach sich die neuen Stimmen aus den Niederlanden und Flandern mit derzeit aktuellen politischen Themen auseinandersetzen. Klimakrise, Kolonialismus, die Folgen der weltweiten Migrationsbewegungen und der Krieg in Europa oder Nahost bestimmten zahlreiche Lesungen, Diskussionen und Performances.

  

Die Zukunft ist weiblich: Gaea Schoeters & Connie Palmen (v. l.) in der Schaubühne © Gert Mothes 

Weibliche Wut, weiblicher Blick: Die Geschichte der Menschheit war lange eine Geschichte der Männer. Doch die Zeiten ändern sich. In ihrer neuen Essay-Sammlung Vor allem Frauen (Diogenes, übersetzt von Lisa Mensing) untersucht die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen die Arbeit von elf Frauen und einem Mann, die ihr Leben und Arbeiten geprägt haben. Palmen, die Anfang der Neunziger als Schriftstellerin debütierte, gehört, nach der Generation von Hugo Claus, Willem Frederik Hermans, Harry Mulisch oder Cees Nooteboom, zu den niederländischen und flämischen Schriftstellern, die man auch im deutschsprachigen Raum kennt und schätzt. Zuletzt hatte Palmen den Roman „Du sagst es“ (2016) veröffentlicht, der die Beziehung des Dichterpaars Sylvia Plath und Ted Hughes behandelt und an ihm auf teils ironische Weise die Frage, wie sehr man für die Kunst leiden muss. Auf diese beiden Galionsfiguren ihres Lebens und Schreibens kommt Palmen auch in ihrem neuen Essayband zurück – neben Ted Hughes ist Philip Roth der einzige darin thematisierte Mann. An ihren Vorbildern hebt Palmen jeweils eine Eigenschaft besonders hervor – etwa Virginia Woolfs Autonomie, Sylvia Plaths Wahrhaftigkeit oder Joan Didions Unnahbarkeit. Die flämische Schriftstellerin, Übersetzerin und Librettistin Gaea Schoeters wiederum ist Mitglied der feministischen Gruppe Fixdit und Mitverfasserin des Manifests „Optimistische Wut”, das sich mit Sexismus in der Literatur befasst. In ihrem aktuellen Roman Trophäe (Zsolnay, übersetzt von Lisa Mensing) geht ihr Protagonist die ultimative Konfrontation mit der Natur ein und wirft ethische Fragen zum Postkolonialismus auf. An starken, streitbaren Frauen, die endlich die weiblichen Seiten der Weltgeschichte aufschlagen, herrschte im Gastlandprogramm kein Mangel.

Übersetzerinnen im Rampenlicht: Alexandra Koch (Niederländische Stiftung für Literatur) mit Andrea Kluitmann, Lotte Hammond und Lisa Mensing ©Gert Mothes 

Ohne Übersetzerinnen – keine Weltliteratur: Dass die Niederlande und Flandern eine ganze Programmlinie für die Fährleute der Literatur reservierten, war ein genialer Schachzug. Als man 2016 in Frankfurt zu Gast war, löste das eine Flut von literarischen Übersetzungen, Auftritten und Residenzen aus; rund 250 neue Titel erschienen damals in deutscher Übersetzung. Eine literarische Flutwelle, die seitdem munter weiter rollt: Seit Anfang 2023 bis zur Messe im März erschienen mehr als 100 deutsche Übersetzungen niederländischsprachiger Literatur. Die Literaturstiftungen aus den Niederlanden und Flandern setzen sich zusammen mit den deutschsprachigen Verlagen dafür ein, den nagelneuen Übersetzungen so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu verschaffen: Die Leipziger Buchmesse bot für dieses Vorhaben die perfekte Bühne. Am Übersetzerforum und am Gastlandstand wurde den Übersetzerinnen und Übersetzern der rote Teppich ausgerollt: Täglich führte ein interaktiver Mini-Workshop in die Kunst des Übersetzens ein, Übersetzerinnen gaben Einblicke in die einschüchternde Aufgabe, Klassiker (neu) zu übersetzen, verschiedene Organisationen zeigten, wie die Arbeit von Übersetzerinnen von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Immer kamen sympathische Vertreterinnen und Vertreter ihres Berufsstands zu Wort, die offen und ehrlich von den Höhen und Tiefen ihres Berufslebens berichten – und beim Publikum eine regelrechte Charme-Offensive in Sachen Liebe zur niederländischen Sprache und Literatur eröffneten. 

Glückliche Preisträgerinnen: Romkje de Bildt (Niederländische Stiftung für Literatur) überreicht denElse-Otten-Übersetzerpreis an Simone Schroth und Christina Siever © Gert Mothes  

Fährfrauen: Es war 2014, als der C.H. Beck-Lektor Ulrich Nolte an einer sogenannten Publishers-Tour des Nederlands Letterenfonds, der Literaturstiftung der Niederlande, teilnahm. An einem schönen Abend in der Amsterdamer Keizersgracht, in der Uitgeverij Balans, wurde Nolte fast verschwörerisch von Cheflektor Jan Geurt Gaarland beiseite genommen: „Du, Ulrich, schau mal: Dieses Werk hier ist in alle großen Sprachen übersetzt, aber noch nicht ins Deutsche – wollt ihr das nicht machen?“ Als „Zuckerl“ ließ Gaarland noch durchblicken, dass schon am Band gearbeitet würde. „Wir haben uns bei der Ehre gepackt gefühlt“, sagte Nolte nun im Übersetzerforum der Leipziger Buchmesse. Dort wurde, zehn Jahre, nachdem alles begann, der Else-Otten-Übersetzerpreis an Simone Schroth (*1974) und Christina Siever (*1982) vergeben. Die beiden übersetzten die 2023 bei C.H. Beck unter dem Titel „Ich will die Chronistin dieser Zeit werden“ erschienenen Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum, die vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Sie sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein Standardwerk jüdischer Erinnerungskultur – aber auch große Literatur auf fast 1000 Seiten. Nach zehn Jahren hat sich ein Kreis geschlossen. Der mit 5000 Euro dotierte Else-Otten-Übersetzerpreis wird alle drei Jahre vom Letterenfonds vergeben; ausgezeichnet wird die beste deutsche Übersetzung eines niederländischsprachigen Werks der vorangehenden drei Jahre. Es klingt verrückt, ist aber wahr: Die in Zürich lebende Christina Siever, die den Tagebuch-Part der Ausgabe übernommen hat, und die Brief-Übersetzerin Simone Schroth, die als Dozentin an der Lancaster University in Großbritannien arbeitet, haben sich am Tag vor der Preisvergabe das erste Mal persönlich gesehen – und am Abend trotzdem gleich eine gemeinsame Lesung bestritten. Die beiden Frauen, die die Initiative #namethetranslator unterstützen, freuen sich über die Wertschätzung ihrer Arbeit: „Das Beste im Leben kommt unverhofft und als Geschenk“, sagte Simone Schroth. „Eigentlich geht der Preis an Etty, wir sind die Fährfrauen. Aber je sichtbarer wir werden, desto besser ist es für das Projekt.“ 

Gedicht-Typo wie ein Zirkusplakat: Matthijs de Ridder präsentiert eine Seite aus Paul van Ostaijens „Besetzte Stadt“ © Gert Mothes 

Flämische Avantgarde: Zur Leipziger Buchmesse konnte das Publikum mit der Übersetzerin Anna Eble und dem Autor und Herausgeber Matthijs de Ridder das einzige Gedicht der Welt lesen, das aussieht wie ein Zirkusplakat – „Großer Zirkus“ aus Paul van Ostaijens Riesen-Wurf Besetzte Stadt (1921). Mit diesem Band verarbeitete der flämische Dichter die Zerstörung und Besetzung Antwerpens durch deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg. „Besetzte Stadt“ ist eines der ehrgeizigsten literarischen Experimente der niederländisch-sprachigen Welt – und wurde von van Ostaijen mit einer Typographie bedacht, die die Narben der Zeit trägt. Er war davon überzeugt, dass eine Welt, die in Schutt und Asche liegt, nur mittels einer zertrümmerten Sprache beschrieben werden kann. Im Heidelberger Wunderhorn Verlag erscheint nun, pünktlich zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern, die erste Übersetzung des kompletten Gedichtbands im Original-Layout: Ein verlegerischer Coup! 

Der kleine Heidelberger Wunderhorn Verlag bringt Bücher von und über Paul van Ostaijen ans deutsche Lesepublikum © Gert Mothes 

Wir erfahren all das in fast akzentfreiem Deutsch vom flamboyanten Gelehrten Matthijs de Ridder. Dessen fast 1000-seitiger Biografie-Ziegelstein „Paul van Ostaijen. Der Dichter, der die Welt verändern wollte“ (2023) erhielt begeisterte Kritiken und wurde für den flämischen Literaturpreis De Boon nominiert. Kataklump, eine Adaption von Paul van Ostaijens Abenteuern mit der deutschen Avantgarde, ist eben in deutscher Übersetzung bei Wunderhorn erschienen. Am Gastland-Messestand und in der Schaubühne Lindenfels konnten deutsche Leserinnen und Leser tief in die Welt der flämischen Avantgarde eintauchen – vom täglichen Leseatelier über eine Ausstellung bis zur multimedialen Performance und einer intimen nächtlichen Radiosendung. Paul van Ostaijen hätte das gefallen!

 

Ein literarisches Statement: Müllensiefen liest Hilbig beim Abschlussabend des Gastland-Programms © Johanna Baschke 

Alles außer Hass: So war am Messe-Samstag das Abschlussprogramm überschrieben, gedacht als Antwort auf den Zulauf für Rechtspopulisten in den Niederlanden, in Flandern und in Deutschland. Und so lasen niederländische, flämische und deutsche Autorinnen und Autoren aus Texten, die Mut machen sollten, sich gegen Hass, für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Leise Töne dominierten an diesem Abend, der in Kooperation mit dem Sächsischen Literaturrat organisiert wurde: Domenico Müllensiefen hatte einen Text von Wolfgang Hilbig ausgesucht, der in der DDR nicht so schreiben wollte, wie man es von ihm verlangte. Gijs Wilbrink erinnerte mit einem Text von Rebecca Solnit an die Frauenproteste in den USA gegen das atomare Wettrüsten in den 1980er Jahren. Die Leipziger Autorin und Performerin Martina Hefter las ein Gedicht der unlängst verstorbenen Dichterin Elke Erb und ein Fragment aus Marlene Haushofers „Die Wand“. Und Lisa Weeda las Gedichte des großen ukrainisch-amerikanischen Poeten Ilya Kaminsky, die an die russische Okkupation der Ostukraine erinnern. Ein Abend, der wie der gesamte Gastlandauftritt Verbindungen knüpfte, Freundschaften stiftete, die die Leipziger Buchmesse 2024 überdauern. Kooperationen mit Buchmarkt-Profis und Medien sind angestoßen, um den Kontakt zum deutschen Publikum zu halten – und weiter zu fördern. Behoorlijk briljant, beste collega’s!