Ein sympathischer Hansdampf in allen Gassen ist dieser Maarten Inghels, den wir im Antwerpener Theater Het Klokhuis treffen. Inghels ist als Autor kein Unbekannter, inzwischen hat er sich stark auf konzeptionelle Poesie geworfen. Aber er macht auch Kunst, die nicht so einfach zu monetarisieren und zu kommunizieren ist. Ein schönes Beispiel ist sein „Papierflieger-Verkaufsautomat (von ungelesenen und unverkauften Büchern)“, den er an die Stadtbibliothek Antwerpen vermietet hat.
Wir wissen doch alle, dass es weitaus mehr ungelesene als gelesene Bücher gibt.
Maarten Inghels
Dafür hat er die 38 Rest-Exemplare seines 2012 erschienenen, von der Kritik hochgelobten Debütromans De Handel in emotionele Goederen (Der Handel mit emotionalen Gütern), die der Verlag schon makulieren wollte, zurückgekauft, daraus Papierflieger gefaltet, die im Automat für 99 Cent das Stück verkauft. „Wir wissen doch alle, dass es weitaus mehr ungelesene als gelesene Bücher gibt“, erklärt uns der Autor mit unschuldigem Augenaufschlag.
Inghels, 1988 im belgischen Borgerhout geboren, machte sich als Dichter, Romanautor und multidisziplinärer Künstler einen Namen und gilt als Schlüsselfigur einer neuen Generation flämischer Dichter. Er debütierte 2008 mit seinem Lyrikband „Tumult“, dem viele weitere Gedichtbände und Romane folgten. Von 2016 bis 2018 war er Stadtdichter von Antwerpen und ist Ko-Initiator des sozial-literarischen Projekts Das einsame Begräbnis, bei dem Dichter vereinsamt Verstorbene zu ihrem Begräbnis mit einem persönlichen Gedicht würdigen. Auf Deutsch liegt von Inghels Es gibt keine bellenden Hunde mehr (hochroth, 2013) vor, sowie gemeinsam mit F. Starik „Das einsame Begräbnis“ (Edition Korrespondenzen, 2016)
Dazu inszeniert Maarten Inghels Poesie auf spektakuläre Weise mit eigenen Kunstwerken im öffentlichen Raum. Spektakulär etwa eine 25 Meter lange Sand-Skulptur mit den Worten SAVE OUR SOULS. In anderthalb Jahren errichtete er sie aus 15 Tonnen Sand in Limburg, nahe dem kleinen Örtchen Maaseik in Limburg, an der belgisch-niederländischen Grenze. Für Inghels ist das SOS ein „hilfloser Schrei nach Hilfe“, hat doch die Maas dort regelmäßig Hochwasser in Herbst und Winter, während die Sommer von katastrophalen Dürren gekennzeichnet sind. Im letzten Winter wurde das 40.000 Euro teure temporäre Kunstwerk von den Fluten der Maas weggespült.
Maarten Inghels letztes Buch Please look at the Basement (Bitte schauen Sie im Keller nach) fand der Schreiber dieser Zeilen so lustig, dass er es dem Dichter noch in der Theaterkneipe von Het Klokhuis abkaufen musste. Inghels hat rund 300 selbstgebastelte Fahndungsplakate nach entlaufenen Haustieren, die er über 15 Jahre in ganz Europa gesammelt hat, zwischen Buchdeckel gebracht. „Ich liebe das handgemachte, trashige Design“, lacht er. Und damit nicht genug: Zehn Jahre später hat er sich quer durch Europa telefoniert und nachgefragt, was aus all den vierbeinigen oder gefiederten Freunden einerseits, aber auch aus Herrchen oder Frauchen geworden ist. „Was“, kichert Inghels, „mag all die Tiere dazu gebracht haben, ihren eigenen Weg zu gehen? Auch Tiere haben ihre Rechte!“ Das Buch ist eine wunderbare Ode an die bizarren Begebenheiten im Reich der Haustiere und Zweibeiner – wie auch an die schräge Typo selbst gemachter Poster.
Wann & Wo?
21. März, 16.30 Uhr, Kopje Koffie mit Maarten Inghels, Messestand Gastland Niederlande/Flandern, Halle 4, D 300/ C 302
23. März, 19 Uhr, Lesung und Performance mit Maarten Inghels und Annelies Verbeke, Galerie Intershop, Spinnereistraße 7, Halle 10 G
Im Norden Amsterdams wo sich alte Maschinenhallen und Werftgebäude in den letzten 15 Jahren in Kreativ-Spaces verwandelt haben, finden wir das Designstudio VOUW. Justus Bruns und Mingus Vogel haben es 2017 mit der Überzeugung gegründet, dass Technologie nicht nur auf Effizienz und Produktivität ausgerichtet sein muss. Die Pioniere des Slowtech entwickeln Designs, die Menschen in der echten Welt auf eine positive Weise zusammenführen. Ein beeindruckender Riesen-Raum, in dem an Rechnern und mit solidem Handwerkszeug gearbeitet wird. In der großen Halle von VOUW Design treffen wir auf eine Reihe von digitalen Literaturprojekten, die auch in Leipzig zu Gast sein werden. Hier geht es nicht um E-Books oder Hörbücher, sondern – die technologische Revolution macht’s möglich! – ein völlig neues Genre.
VER – Abkürzung zum Herzen: Für die Dichterin, Schriftstellerin und Performerin Dorien Dijkhuis ist die Poesie das intuitivste und sinnlichste Genre – es spricht, so sagt sie, „unser Reptilien-Gehirn“ an. „Kann man sein Gehirn, die Gedanken, ja das Denken selbst einfach abschalten und quasi „eine Abkürzung zum Herzen“ nehmen? Diese Frage bildet für Dijkhuis den Ausgangspunkt für das Vorhaben, Virtual Reality mit Lyrik zu kombinieren – und damit „einen Schritt übers Papier hinaus“ zu gehen. Gemeinsam mit dem VR-Entwickler Harm van de Ven hat sich Dijkhuis nun an die Entwicklung eines neuen Mixed-Genres gemacht. In VER betritt man eine intime, handgezeichnete Welt. Die Stimme der Dichterin nimmt einen mit, man hört geigen- und Cello-Musik, die eigens für VER komponiert wurde, und schon findet man sich inmitten eines erstaunlichen Universums wieder, das sich langsam um einen herumbewegt. „Bislang waren wir mit einer Demo-Version unserer VR-Installation auf zwei kleineren Festivals in den Niederlanden und haben tolle Reaktionen bekommen. Nach Leipzig kommen wir mit einer eigens erstellten deutschen Version.“ Dorien Dijkhuis hofft, so auch Menschen zu erreichen, die bislang mit Poesie fremdeln. „Wir wollen Türen zur Dichtung hin öffnen.“
StoryScope – Die Geschichtenerzählmaschine: Schon im letzten Jahr sorgten Ramon Verberne und Mira Van Kuijeren von der Stichting Interactive Culture für Furore auf der Leipziger Buchmesse. Ihr StoryScope im Kinder- und Jugendbereich der Messe war ständig dicht umlagert. Und auch in diesem Jahr wird die moderne Laterna Magica wieder live zu erleben sein. Das StoryScope sieht wie eine magische Kiste aus. Man bewegt Würfel über eine leuchtende Glasplatte und erweckt so Silhouetten auf dem Bildschirm zum Leben. Die Schattenrisse und die Kulisse stammen aus den Büchern erfolgreicher Kinderbuchautoren und -autorinnen. Dazu können Kinder im Handumdrehen eigene Figuren oder Gegenstände zeichnen und sie dem StoryScope hinzufügen.
„Gerade in Zeiten, wo die Kids von klein auf extrem bildschirmfixiert sind, erlaubt unser Ansatz, dass sie ihre eigenen kreativen Ideen in Geschichten packen können“, erklärt Ramon Verberne. Für Leipzig haben sich die smarten Niederländer zwei StoryScope-Versionen ausgedacht: In der ersten spielt man mit den Geschichten aus der Monstersee-Welt vom flämischen Autor Leo Timmers.
In der zweiten Version spielt Bob Popcorn die Hauptrolle, eine Figur, die alle Herzen im Sturm erobert und aus den Büchern des Illustrators Martijn van der Linden und die Schriftstellerin Maranke Rinck stammt.
Wann & Wo:
VER: 21. bis 24. März, ab 17 Uhr, Schaubühne Lindenfels
StoryScope: 21. bis 24. März, 18-18 Uhr, Halle 3, A 602, am Familiencafé
Als Nominierte, Branchenprofis und Publikum an einem strahlenden Donnerstag im März 2015 unterm Glashallendach der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Sparte Belletristik entgegenfiebern, ist der Lyriker Jan Wagner, dessen Band „Regentonnenvariationen“ sich unter den Nominierten befindet, kein bisschen nervös. Noch heute, fast zehn Jahre später, erinnert er sich gut an die Situation: „Es war damals die erste Nominierung eines Lyrikbandes“, sagt er ohne alle Koketterie, „ich konnte da ohne Erwartung, ohne alle Aufregung sitzen. Weil ich dachte: Ich habe meinen Preis ja schon!“
Und in der Tat: Die bis dahin nie ausgereizte Offenheit der Leipziger Auszeichnung gegenüber Genre-Grenzen machte 2015 schon aus der Nominierung der „Regentonnenvariationen“ eine Sensation. Die Jury urteilte: „Ein Gedichtband, in dem die Regentonne zur Wundertüte wird, der Giersch zur Gischt, Unkraut und unreiner Reim ihren Charme entfalten und die Lust am Spiel mit der Sprache vor den strengen Formen nicht Halt macht: Lyrik voller Geistesgegenwart.“ Eine Wochenzeitung musste dennoch fragen: „Ist seine Poesie wirklich so gut?“ So gut, dass ihr kein Roman, noch nicht einmal ein Erzählband, das Wasser reichen konnte? Die Jurorin Meike Feßmann sprach, sehr zurecht, von einem „Paukenschlag für die Lyrik“.
Wer kennt sie nicht, die berühmte, von Hans Magnus Enzensberger ermittelte „Lyrikkonstante“: „Die Zahl von Lesern, die einen neuen, einigermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen“, befand der Autor 1989, „lässt sich empirisch ziemlich genau bestimmen. Sie liegt bei plusminus 1354.“ Von dieser Quote dürften die meisten lebenden Dichterinnen und Dichter inzwischen allerdings träumen: Im vielerorts ums Überleben kämpfenden Buchhandel ist oft nicht irrsinnig viel Platz für sie. „Lyrik ist schwürig“, kalauerte schon Wiglaf Droste. Hat sich seit der für Furore sorgenden Leipziger Auszeichnung für Jan Wagner an der Wahrnehmung von Lyrik etwas grundstürzend geändert? „Auf jeden Fall“, findet der Dichter – auch wenn sich unsere Aufmerksamkeit und die Verkaufszahlen inzwischen wieder in Richtung der Enzensbergerschen ‚Konstante’ entwickelt hätten: „Obwohl sie schon so viele Jahrtausende existiert, war Lyrik nie eine Sache fürs Massenpublikum“, sagt Wagner. „Es handelt sich um ein treues Publikum, kein außergewöhnlich großes.“
Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: Das ist undenkbar.
Jan Wagner
Dabei ist, so findet Wagner, Lyrik etwas, das eigentlich jede Leserin, jeden Leser angeht. „Lyrik ist nichts Fremdes! Die Sprache, die sie benutzt, ist unsere Sprache, die wir tagtäglich nutzen. Und auch die lyrischen Verfahren – zu vergleichen, Metaphern oder Wortneubildungen zu benutzen – sind Teil unseres Alltags. Insofern ist das Publikum groß – auch wenn es oft nicht ahnt, dass es das Publikum ist.“ In „Die Sandale des Propheten“, einem Band mit „beiläufiger Prosa“, schrieb Jan Wagner schon 2011: „Das Publikum ist riesig, auch wenn es davon vielleicht noch nichts weiß oder wissen will.“ Die Frage sollte also nicht sein, „ob es möglich ist, von der Poesie zu leben. Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: Das ist undenkbar.“
So geht die Arbeit einfach weiter. „Es gibt immer das nächste Gedicht, das man schreiben muss – und will!“ Zweiundzwanzig Jahre nach seinem Debüt „Probebohrung im Himmel“ hat Jan Wagner im letzten Herbst den Band „Steine & Erden“ veröffentlicht. „Es geht immer nur um den morgigen Text. Und die schöne Überraschung des neuen Gedichts, das zu schreiben ist.“
Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt als Lyriker, Essayist und Übersetzer in Berlin. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017).
Jan Wagner: Steine & Erden. Gedichte. Hanser Berlin 2023, 112 Seiten, 22 Euro
Egal, wen Daniel Schade ins Ost-Passage Theater (OPT) einlädt: Wer zum ersten Mal unter der riesigen Gewölbedecke des Gründerzeitgebäudes in der Konradstraße 27 steht, ist sprachlos – und begeistert. 1909 als Markthalle errichtet, wurde der Bau 1912, in der ersten Kino-Boom-Zeit, zum Lichtspieltheater umgewidmet. Eine Weile war es das zweitgrößte Kino der Stadt. Vor seiner Schließung war es im Leipziger Osten als Lichtschauspielhaus („Lichtscher“) bekannt. 1962 war, wegen bautechnischer Mängel und fehlender Sanierungskapazitäten, Schluss – das Haus fiel in einen Dornröschenschlaf und bröselte mehr und mehr auseinander. 2008/09 wurde das Baudenkmal wachgeküsst, die Außenfassade nach denkmalpflegerischen Standards saniert. Aldi Nord hieß der Prinz, der das Gebäude im ursprünglichen Sinn nutzen wollte. Fortan wurde es durch eine Zwischendecke geteilt: Unten eine Aldi-Filiale, oben das alte Tonnengewölbe, ein optisches Juwel – aber ungenutzt. Und hier kommen Daniel und seine Freunde ins Spiel.
Daniel Schade, im OPT heute für künstlerische Prozesse, die Öffentlichkeitsarbeit und Administration verantwortlich, ist in Wittenberg aufgewachsen. In Leipzig studierte er Philosophie, Soziologie und Theaterwissenschaften und produzierte schon während seines Studiums mit der freien Theater-Kompanie gruppe tag. Nach seinem Magister-Abschluss war er unter anderem für den Verein Notenspur tätig, am Geyserhaus arbeitete er als Produktionsleiter mit einem Arbeitslosentheater. „Eine bunte Truppe, 25 U-25 Arbeitslose, ‚Arbeitslose gibt es nicht’ hieß unser wichtigstes Stück.“ Aus den Vernetzungen in die freie Szene der Stadt und den nicht selten prekären Produktionsbedingungen entwickelte sich der Wunsch nach einem eigenen Haus: „Wollen wir nicht unser eigenes Theater aufmachen?“ Im Leipziger Osten schienen dafür am ehesten noch Freiräume zu existieren. Irgendwann entdeckten die Theater-Direktoren in spe dann das vor sich hinträumende Tonnengewölbe überm Aldi in der Konradstraße. „Wir haben uns sofort verliebt“, sagt Daniel Schade.
2011 konnte man den damaligen Eigentümer für eine Nutzung der oberen Etage als Nachbarschaftsbühne begeistern. Bis zur feierlichen Eröffnung brauchte es allerdings noch einen Eigentümerwechsel und fast sieben weitere Jahre. 2017 bekam der gemeinnützige Ost-Passage Theater e. V. einen Mietvertrag. „Dann haben wir mit gefühlten 5000 Ehrenamtsstunden und einer Reihe von Fachfirmen den Umbau gewuppt.“ Am 9. März 2018 konnte die Eröffnung des OPT gefeiert werden. Die Bandbereite des Programms, das von einem harten Kern von 14 Leuten und vielen Ehrenamtlichen getragen wird, reicht von Theater, Musik und Kino bis zu Lesungen, Diskussionen und Workshops. Gerade die Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen wird großgeschrieben. „Aus unseren Projekten wissen wir, dass man migrantische Milieus am besten über die Kinder aufschließt.“ So gibt es am Haus etwa eine offene Mädchen-Theaterwerkstatt, die letztes Jahr Shakespeares „Sommernachtstraum“ auf die Bretter gebracht hat.
Die Literatur steht, seien wir ehrlich, nicht im absoluten Zentrum der Arbeit des OPT. Für Daniel Schade wird sie jedoch immer wichtiger. „Letztlich ist Text ein ganz wichtiger Grundbaustein für Theater.“ Sehr gut funktionieren erwartungsgemäß die Kooperationen mit Lesebühnen wie den Anemonen; auch mit Orinoco, einem Hybrid aus Buchhandlung, Antiquariat und Bibliothek für fremdsprachige Bücher in der Mariannenstraße arbeitet man im Multikulti-Kiez gern zusammen. Highlights im Jahr sind die Veranstaltungen des Literarischen Herbsts – die Show Beste erste Bücher mit den Debüts der Saison genießt nach fünf Jahren schon Klassiker-Status. Das gilt natürlich auch für Leipzig liest. „Nach unserer Eröffnung Anfang März 2018 wollten wir natürlich beim Lesefestival groß einsteigen“, erinnert sich Daniel Schade. „Und es passte! Alle waren begeistert, das Leipzig liest-Team schlägt uns seitdem immer sehr tolle Autorinnen und Autoren vor. Für uns sind die Abende inhaltlich und wirtschaftlich attraktiv.“ In diesem Jahr ist etwa Toxische Pommes („Ein schönes Ausländerkind“) oder Karen Köhler mit ihrem ersten Kinderbuch („Himmelwärts“) dabei, legendär ist der Messe-Salon der Edition Outbird aus Gera, die auch viele Leipziger Szene-Größen im Programm haben.
Das OPT ist in sehr kurzer Zeit zu einem enorm wichtigen Kultur-Ort im wilden Leipziger Osten geworden. „Wir haben das Haus mit null Geld aufgebaut“, sagt Schade, „inzwischen wirtschaften wir mit einem Haushalt von annähernd 400.000 Euro.“ An die emotionale Berg-und-Tal-Fahrt muss der Kultur-Aktivist heute noch denken: „Im Februar 2020 sind wir in die institutionelle Förderung aufgenommen worden, gleich danach kamen die Lockdowns.“ Corona war für den Kulturbetrieb aber auch eine Chance, in Technik zu investieren. Und digitale Formate wie kulturrelevant, der regelmäßige Radio-Talk des OPT zur Lage der Kultur in Leipzig, ist auch nach mehr als 70 (!) Sendungen noch hoch relevant. Folgerichtig, dass das OPT mit seinem shabby chick nun die Location für die Leipzig liest Pressekonferenz abgibt. „Wir haben ein bisschen Lampenfieber“, sagt Daniel Schade und zwinkert uns zum Abschied zu. „Wird schon schiefgehen!“
Die Vorab-Pressekonferenz zur Leipziger Buchmesse 2024 findet am Donnerstag, 22. Februar 2024, 11:00 Uhr im Ost-Passage Theater, Konradstraße 27, statt.
Als Britta Jürgs 1997 ihren Verlag gründete, tat sie es wegen Büchern, die sie selbst vermisste: Texte von und über Autorinnen, Journalistinnen, bildenden Künstlerinnen oder Filmemacherinnen vor allem aus dem 1920er und 1930er Jahren, starke Frauen allesamt, nicht wenige davon jüdisch. Gut zwanzig Jahre war es da her, dass der Stern-Journalist Jürgen Serke mit einer achtteiligen Serie über „Die verbrannten Dichter“ in der alten Bundesrepublik Furore machte. Die damals 66jährige Irmgard Keun etwa spürte Serke in einer Bonner Dachkammer auf, es war der Beginn zahlreicher Wieder- und Neuentdeckungen. Dennoch waren, als Britta Jürgs begann, noch viele Schätze zu heben. Wieso der Blick zurück, wo junge Verlags-Startups heute oft aufs neueste vom Neuen fliegen? „Ich habe gemerkt“, so Jürgs, „dass diese Frauen absolut modern sind, gar nicht so weit von uns und unseren Erfahrungen entfernt, wie man vermuten könnte. Ich war überzeugt, dass sie auch anderen viel zu sagen haben.“ AvivAnennt sie ihren Verlag – wie Frühling auf Hebräisch und mit einer schönen Symmetrie aus großem „A“ vorn und hinten. „Viva, das Leben, steckt auch drin“, ergänzt Jürgs lachend.
In diesem Jahr feiern gleich mehrere der bei AvivA wiederentdeckten Frauen runde Geburtstage. Von der vor 120 Jahren in Berlin geborenen Ruth Landshoff-York, einer Nichte des Verlegers Samuel Fischer, die in Murnaus „Nosferatu“ mitwirkte und 1937 in die USA emigrieren musste, erschienen bislang sechs Bücher. Ebenfalls 120. Geburtstag würde die in Wien geborene Lili Grün feiern, die in den Roaring Twenties zur Berliner Kabarett-Szene gehörte und ihre Erlebnisse in dem Roman „Alles ist Jazz“ verarbeitete. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und sofort nach ihrer Ankunft im weißrussischen Maly Trostinec ermordet.
„Die Bräutigame der Babette Bomberling“, ein Roman von Alice Berend (1875-1938), 1915 bei S. Fischer erschienen, hatte es einst zu einiger Berühmtheit gebracht – Britta Jürgs fand das Buch in einem Antiquariat, las begeistert und begann, zur Autorin zu recherchieren: Die 1875 geborene Schwester der Malerin Charlotte Berend-Corinth veröffentlichte vor allem zwischen 1910 und 1920 zahlreiche Romane, die in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren erschienen und ihr den Ruf eines „weiblichen Fontane“ einbrachten. Auch Berend musste 1933 vor den Nazis fliehen und starb mittellos in Italien.
Romane, Biografien, Feuilletons, Reiseberichte: In 26 Jahren ist die Backlist des in einer parkettknarzenden Altbauwohnung in Moabit residierenden Verlags auf rund 120 Titel angewachsen, pro Jahr kommen rund acht neue dazu. So ist, wie es in der Jurybegründung zum Kurt Wolff Preis heißt, „quer durch die Epochen, Kontinente und Genres eine kleine Universalbibliothek entstanden“. Britta Jürgs ist, Hand in Hand mit großartigen Fachleuten fürs Übersetzen, Edieren und Nachwortschreiben, längt weiter durch Zeiten und Sprachräume geeilt. „Alle Frauen müssten gemeinsam Blumen auf Aphra Behns Grab streuen“, befand schon Virginia Woolf. Heute gilt die englische Autorin Aphra Behn (1640 – 1689) als Ikone der feministischen Literatur. Doch ihr Werk ist Geheimtipp geblieben. Mit Hilfe des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz hat AvivA das geändert. Ursprünglich war ein Band geplant, doch da Behns Werk quer durch alle Genres geht, hat sich Jürgs entschieden, die 620 Seiten auf zwei Bände aufzuteilen – und dem Ganzen einen schmucken Schuber zu spendieren, auch wenn der heute fast so teuer sein kann wie ein Buch. „Das ist meine große Freiheit“, sagt Britta Jürgs. Ihre älteste Autorin ist Christine de Pizan. Ihr „Buch von der Stadt der Frauen“, ein Beispiel früher feministischer Literaturkritik, erschien 1404 – noch vor dem Buchdruck!
Seit 2012 erscheint, zwei Mal im Jahr zu den Buchmessen, die 1986 gegründete Rezensionszeitschrift Virginia Frauenbuchkritik bei Aviva. Jürgs ist eine der Herausgeberinnen – und betreut unter anderem die Krimi-Rubrik. Was ihr Gelegenheit gibt, jenseits des eigenen Verlags-Kosmos’ zu lesen. Dort hat sich ihre Krimi-Leidenschaft noch nicht niedergeschlagen – nicht schlimm, findet Jürgs: „Ich lese ja auch zeitgenössische Literatur. Und, ja: Bücher von Autoren.“ Die Netzwerkerin und Aktivistin, die ihren Verlag zum 20. Geburtstag in zwanzig unabhängigen Buchhandlungen vorgestellt hat („Ein Kraftakt!“), setzt sich auch nach ihrer Zeit als Vorstandsvorsitzende der Kurt Wolff Stiftung für die Belange der Indies ein – derzeit etwa für eine strukturelle Verlagsförderung, die angesichts der aktuellen Geldsorgen der Ampel wieder einmal im Verschiebe-Modus gelandet ist. „Wir haben schon viel erreicht“, meint Britta Jürgs. „Aber es ist noch Luft nach oben.“
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