Leben und Schreiben

Leben und Schreiben

In der täglich größer werdenden wundersamen Welt der Podcasts wird viel geredet. Die Halbwertzeit des großen Palavers ist oft recht kurz. Wenn sich Katja Gasser in ihrem Podcast den Luxus erlaubt, abseits des Tagesgeschäfts mit österreichischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern über das Leben und das Schreiben zu sprechen, und darüber, wie beides zusammenwirkt, scheint sie intuitiv einem Diktum zu folgen: Wieso allgemein bleiben, wenn es auch persönlich geht? Was das bedeutet, kann man als Hörer etwa in Folge Zwei erfahren, die nicht lange nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mit der österreichisch-ukrainischen Autorin und Tanja Maljartschuk aufgezeichnet wurde. 

Zu diesem Zeitpunkt war die Bachmannpreisträgerin des Jahres 2018 in ungezählten Interviews wider Willen zur Erklärerin der Ukraine und zur Kommentatorin der schrecklichen Ereignisse im Land ihrer Herkunft geworden. Als Gasser Maljartschuk auf ihre „tollen Haare“ anspricht, bricht es aus der Autorin heraus: „Ich habe gestern erst verstanden, dass der Frühling angekommen ist, überall blühen die Bäume und zwitschern die Vögel. Ich habe das alles übersehen! Ich bin noch immer im Februar 2022, fühle mich wie gefesselt – dieser Krieg hat aus mir ein Monster gemacht.“ Auf diesen Moment angesprochen, in dem beide Frauen kurz davor zu stehen scheinen, in Tränen auszubrechen, sagt Gasser, dass sie sich Teile dieses intensiven Dialogs „für immer“ merken wird. „Ich habe in jeder Episode etwas gelernt, etwas erfahren, was ich bis dahin nicht gewusst habe.“ Es soll „um etwas gehen“, das ist Gassers Anspruch, für den Podcast und fürs Gastland-Programm insgesamt: „Wir möchten eine gute Mischung zwischen einer ‚humanistischen Heiterkeit’ und einem ‚sehr ernst gemeinten Ernst’ finden.“  

Der Podcast „Literaturgespräche aus dem Rosa Salon“ ist Teil des Gastlandauftritts Österreichs auf der Leipziger Buchmesse 2023. Seit März 2022 erscheinen die Folgen zweiwöchentlich, mit Ausnahme einer kleinen Sommerpause. Bis zum April 2023 will Gasser möglichst viele Autorinnen und Autoren vorstellen – alle werden beim Gastlandauftritt dabei sein. Bei der Auswahl ihrer Gesprächspartner*innen wägt die Kuratorin beständig ab; sie möchte ein möglichst „polyperspektivisches Bild“ zeichnen und dabei berühmte Namen und Newcomer gleichermaßen berücksichtigen. 

Meaoiswiamia: Der Schriftsteller Josef Winkler ist Gasser Gast in Folge Acht (c)Marlene Nemeth

Katja Gasser spricht mit ihren Gästen über grundlegende Fragen des Mensch-Seins, des Schreibens, des Lesens. „In diesem Podcast“, sagt sie, „dreht sich letztlich alles um das Leben selbst.“ Und schiebt nach: „Es gibt ja keine Literatur jenseits der Welt, jenseits des Menschen.“ Spricht man länger mit Gasser, wird klar, dass solche Sätze nicht leichthin dahingesagt sind, weil sie gut klingen. Sie sind Resultat einer langen Karriere im TV-Literaturressort des Österreichischen Rundfunks (ORF). „Ich habe immer hart um die Relevanz von Literatur im Fernsehen kämpfen müssen“, erklärt Gasser. „Literatur ist keine elitäre Angelegenheit, keine Minderheiten-Veranstaltung, und sie prägt mein Leben sehr zentral!“ Genau das will sie auch im Podcast zeigen – ohne einer Simplifizierung des literarischen das Wort zu reden. Sich selbst nimmt sie dabei nicht besonders wichtig. Es geht ihr um den Transport einer Grundhaltung. „Ich möchte nicht, dass man Literatur in eine Ecke schiebt, die nur dann bewässert wird, wenn alle anderen schon Wasser gehabt haben.“ 

In den einzelnen Folgen überlässt sich Gasser den Dynamiken der Unterhaltung; sie hört zu, fragt nach, lässt sich überraschen – Tugenden, die in Kulturgesprächen nicht durchgängig verbreitet sind. Sie ist freier als im stärker durchformatierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Einige dramaturgische Elemente wiederholen sich – etwa der Beginn der ersten Folgen, in denen die Moderatorin versucht, einen gemeinsam erlebten Moment mit ihrem jeweiligen Gast in Erinnerung zu rufen. Originell auch die Bitte an die Gäste, einen Gegenstand mitzubringen, ohne den ihr Alltag nicht denkbar wäre. In den ersten Folgen wird hier erstaunlich oft Technik ausgepackt: Doron Rabinovici hat seinen Laptop dabei, Teresa Präauer ihre Kopfhörer („Ich bin eine richtige Radiosüchtlerin“), Reinhard Kaiser-Mühlecker das Ladegerät seines Smartphones, das für ihn, via Internet, die Verbindung zur Welt sicherstellt. Die letzte Stufe des Gesprächs ist die Rubrik „Meyers Fragen“; Gasser ist Fan des des Schweizer Schriftstellers Thomas Meyer, der es in der Kunst des erkenntnisbringenden, kommunikationsfördernden Fragestellens zu einiger Meisterschaft gebracht hat. Seit letztem Herbst greift Gasser, quasi als Eisbrecher zu Beginn des Gesprächs, auf den berühmten Proust-Fragenkatalog zurück, den Zeitschriften wie Vanity Fair in den USA und das FAZ-Magazin in Deutschland populär gemacht haben. „Wie würdest du deine aktuelle Geistesverfassung beschreiben“, fragt Gasser etwa den Autoren Paul Ferstl, der schlagfertig antwortet: „Unzurechnungsfähig-zuverlässig.“ 

Der Podcast ist für Katja Gasser, ähnlich wie die von ihr erfundene Porträt-Reihe Archive des Schreibens, ein mediales „Herzensprojekt“. Während sie als Kuratorin des Gastlandauftritts zur temporären Kultur-Managerin mit hundert Debatten und gefühlt tausend Telefonaten im Monat geworden ist, wollte sie auch eine Wiese beackern, die sie inhaltlich ausfüllt und zugleich das Projekt prägt. In den „Literaturgesprächen“ geht es um die großen und kleinen Fragen des Lebens, um die Freude an der Literatur und das große Glück des Lesens. Sehr frei zitiert Gasser den großen Sprachkünstler Ernst Jandl, wenn sie sagt: „Das sein kein Scheißn Podcast!“ Wie recht sie hat.      

Ideen Raum geben 

Ideen Raum geben 

Für Christian Merkel ist die Zeit des permanenten Ausnahmezustands vorbei. Seit im Mai nach vier Jahren die erste OTWorld in Präsenz über die Bühne ging, und sich in den Leipziger Messehallen an die 20.000 Orthopädie-Profis, Mediziner und Physiotherapeuten aus 86 Ländern trafen, reißen für den Teamleiter bei der Leipziger Messe-Tochter die Herausforderungen nicht ab. Ein Projekt jagt das nächste, „mein Überstundenkonto ist ordentlich gefüllt“. Daran wird sich so schnell nichts ändern, denn in diesen Tagen heißt es für Merkel erneut: Go! Die heiße Vorbereitungs-Phase der Leipziger Buchmesse beginnt. „Es wird wieder volle Hallen geben“, ist er sich sicher. „Aber wir werden nicht bruchlos an den Messen vor der Pandemie anknüpfen.“ Nach coronabedingter Zwangspause kommt das Frühjahrs-Highlight der Buch- und Medienbranche mit einem neuen Hallenkonzept zurück: So rückt das Kinder- und Jugendsegment künftig in Halle 3 – und damit eng an die direkt benachbarte Manga-Comic-Con. Dort soll, deutlich unterschieden von den bislang üblichen Messe-Foren, ein Workshop-Campus für Initiativen, Institutionen und Vereine entstehen, die an den Schnittstellen von politischer und kultureller Bildung aktiv sind. Das Konzept sieht eine Zusammenführung von zentralem Veranstaltungs- und Ausstellungbereich vor. „Jetzt gilt es, die Idee auf die Straße zu bringen, physisch umzusetzen“, sagt Merkel. „Unsere Aufgabe ist es, im Austausch mit dem Buchmesse-Team, den baulichen Rahmen für das Konzept zu schaffen.“  

Der Wahl-Leipziger Christian Merkel wohnt in Gohlis, stammt aber aus Mittelhessen. Aufgewachsen ist er im Vogelsberg. Ob er die Schulpartys seines Jahrgangs organisierte, ist nicht so genau überliefert. Vermutlich ist das Jahr in der Stadtbibliothek Lauterbach daran schuld, dass ihn das Management von Events in Bann zog. Während seines Bundesfreiwilligendienstes konnte er sich dort in die Organisation innovativer Veranstaltungsformate stürzen. „Als Bufdi in der Bibliothek habe ich Blut geleckt“. Berührungspunkte mit den gar nicht mehr so neuen Bundesländern hatte Merkel, wie viele seiner Generation, kaum. Einzige Ausnahme war eine Tour durch den Osten, die er nach dem Abi mit fünf Kumpels in einem alten VW-Bus abriss: Berlin, Ostsee, Thüringen. Die Klassiker. Dazu, eher auf der Durchreise: Klein-Paris: „Da habe ich mich ein Stück weit in Leipzig verliebt, das ist geblieben.“ Ein duales Hochschulstudium Messe-, Kongress- und Eventmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Ravensburg (DHBW), mit dem Arbeitsvertrag der FAIRNET in der Tasche war die Ideal-Variante, beide Lieben – Event und pulsierende Großstadt – zu vereinen. Für drei Jahre pendelte Merkel zwischen Bodensee und Leipzig. 2017 startete er als Projektmanager in einem FAIRNET-Team, das sich primär um Systemstandbau kümmert. 2022 stieg er zum Teamleiter auf. 

Feiern zum Tag der Deutschen Einheit 2021 in Halle/Saale (c)Fairnet

Das Kerngeschäft bei FAIRNET ist es, Marken in Räume zu übersetzen und sie konkret erlebbar zu machen – sei es durch Auftritte auf Messen und Kongressen, durch Präsentationen in Showrooms, Events oder andere Formate der Markenkommunikation. „Es gibt Messe-Teams, die sich hier vor Ort um den Standbau kümmern, wir sind aber auch an anderen Standorten mit Rundum-Lösungen dabei, wo an alles gedacht ist – vom Strom bis zu Hängepunkten und Parkplätzen.“ Andere Teams sind mit der Organisation und Umsetzung von Events beschäftigt – so erhielt FAIRNET nach europaweiten Ausschreibungen den Zuschlag für die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit in Halle/Saale (2021) und Erfurt (2022), auch bei der Konzeption der Leipziger Markt Musik  ist die Messe-Tochter am Start. „Am Ende geht es bei uns immer um die technische Durchführung“, sagt Merkel, „vom Standbau über die Event-Lösung ist alles dabei“. Die Leipziger Buchmesse ist in Christian Merkels Jahreskreis eine ganz besondere Veranstaltung. Mit der Leipziger Volkszeitung etwa hat er die Umsetzung der beim Publikum höchst populären „LVZ-Autorenarena“ geplant; eine ganz besondere Herausforderung sind die Projekte, die fürs eigene Haus entstehen: „Im Austausch mit dem Projekt-Team ist man dann direkt in die Messe-Entwicklung involviert. Wie jetzt beim Bildungs-Campus sorgen wir dafür, dass die PS auf die Straße kommen.“ 

Markt Musik im Herzen der Messestadt (c)Fairnet

Die Corona-Pandemie und die kurzfristige Absage der Leipziger Buchmesse zogen Christian Merkel für Momente den Boden unter dem Füßen weg. „Die Messe war durchgeplant, die LKW’s konfektioniert. Als uns die Nachricht erreichte, war da erst mal: Leere.“ Noch im Februar 2020 waren Merkel und seine Kollegen auf Dienstreise in Frankfurt und Düsseldorf, auf der EuroShop, der Messe für Laden- und Messebau. Dann wurde dem Messegeschäft der Stecker gezogen, die Buchmesse in Leipzig war nur der Anfang. „Die ersten zwei, drei Monate dachte man: OK, dann geht’s im Herbst wieder los.“ Relativ schnell erfolgte bei FAIRNET dann die Umorientierung. Als die ersten Impfzentren gebaut wurden, war Merkel ebenso mit dabei wie bei der Errichtung des Testzentrums im Neuen Rathaus, in Kooperation mit den Median Kliniken. „Ob ich einen Messestand plane oder ein Testzentrum, ist von der Struktur her ähnlich. Beides ist Projekt-Management, und damit unser täglich Brot. Dennoch habe ich mir nicht träumen lassen, dass ich mal zur täglichen Abstimmung mit dem Oberarzt eines Testzentrums antanze.“ Im September 2021 war Christian Merkel für die FAIRNET in die Organisation des Autofreien Tags in Leipzig eingebunden. Für einen Tag war der Leipziger Innenstadtring nicht für Autos zugänglich. „Langweilig war es nie. Trotzdem bin ich froh, dass ich mich mit der Buchmesse endlich wieder ums Kerngeschäft kümmern kann, für das wir brennen.“ 

LVZ-Autorenarena 2016 (c)Leipziger Buchmesse/Tom Schulze

Hat Corona das Geschäft für einen Dienstleister wie FAIRNET geändert? Die Lernkurve bei Merkel und seinen Kollegen verläuft steil. „Im jetzt laufenden Restart merken wir, dass Flächen und Ausstellerzahlen kleiner werden.“ Standbauten sind schon mal weniger voluminös oder extravagant. „Man besinnt sich wieder stärker auf Inhalte“, das findet Merkel nicht schlecht. Hochwertige Systemlösungen boomen. Kunden, die ehedem individuell gebaut haben, suchen nach guten, wiederverwendbaren Konzepten. Nachhaltigkeit ist nicht mehr nur ein Wort. „Für die Kleinststände, die auf der Buchmesse sehr verbreitet sind, arbeiten wir inzwischen mit Stoffbahnen, die in einen Alu-Rahmen eingespannt sind. Das sieht toll aus!“ Vor Corona war diese mit Partnern entwickelte Systemstand-Lösung gerade am Durchstarten, jetzt wächst dieser Bereich exponentiell. 

2020, im ersten Lockdown-Monat, fühlte sich das Homeoffice noch ganz kuschelig an. Doch bald merkte das fünfköpfige Team, dass man sich, um erfolgreich zusammen arbeiten zu können, nicht nur auf einem Splitscreen, sondern regelmäßig in echt sehen sollte. „Inzwischen können wir 40 Prozent unserer Arbeit mobil erledigen“, sagt Merkel lachend. „Ich glaube aber, dass das kaum einer bei uns voll ausschöpft.“ Im zu den Messehallen ausgerichteten FAIRNET-Großraumbüro tobt also (fast) immer voll das Leben. Materialknappheit hin, Personalengpass her: Christian Merkel ist verdammt froh, dass die Signale endlich wieder auf Grün stehen – passender Weise auch die Hausfarbe der FAIRNET.  

„Wir brauchen die Leipziger Buchmesse!“

„Wir brauchen die Leipziger Buchmesse!“

Aufbau war bei der buchmesse_popup im Mai dabei; ein Ersatz für die pandemiebedingt abgesagte Leipziger Buchmesse konnte das aber nicht wirklich sein?

Constanze Neumann: Von unserer Seite gab es das Engagement, um klar zu zeigen: Wir brauchen die Leipziger Buchmesse! Mein Interesse war nicht, etwas Neues zu etablieren, was dann fortgeführt werden soll. Mein Wunsch und der unserer Verlagsgruppe ist es, dass Leipzig an der Veranstaltung anknüpft, die wir bis 2019 kannten – und die die meisten von uns ziemlich gelungen fanden.

Ich brenne sehr für diese Messe, auch weil ich um ihre Tradition und Bedeutung weiß.

Constanze Neumann, Verlagsleiterin von Aufbau und Blumenbar

Was hat Ihnen als Verlagsleiterin und auch als Autorin in Corona-Zeiten gefehlt?

Neumann: Ganz klar: Der Austausch mit den Leserinnen und Lesern.

Also etwas, das schon in der DNA der Publikumsmesse in Leipzig angelegt ist?

Neumann: Genau. Für Autorinnen und Autoren ist es in den letzten zweieinhalb Jahren deutlich schwieriger geworden, Leserinnen und Leser live zu erreichen – wenn sie nicht bereits über einen gewissen Bekanntheits-Bonus verfügen.

Spüren Sie mit Blick auf Herbst und Winter Verunsicherungen bei Lesungs-Veranstaltern?

Neumann: Ja, natürlich. Deutlich gewachsene Kostenblöcke betreffen alle, auf die eine oder andere Art und Weise. Ob das bei uns exorbitante Papierkosten sind, oder Veranstalter, die noch nicht wissen, ob sie ihre Räume warm bekommen – manchmal hat man das Gefühl, es wartet jeden Tag eine neue, nicht ganz so schöne Überraschung auf uns. Dass es an allen Ecken und Enden schwieriger wird, ist wohl jedem klar.

Insofern wäre es ja nur logisch, wenn viele Hoffnungen jetzt schon in den Frühling gehen. Gibt es bei Ihnen bereits erste Pläne und Projektionen für April 2023?

Neumann: Unsere Programme stehen, diese Woche ist Vertreterkonferenz. Wir hoffen natürlich, dass viele unserer Autorinnen und Autoren bei Leipzig liest dabei sein können. Wir werden in Frankfurt jetzt noch einmal einen Gemeinschaftsstand mit Suhrkamp, Hanser und C.H. Beck haben. Für Leipzig planen wir einen eigenen Auftritt. Unterm Aufbau-Dach versammeln sich ja auch einige kleinere Label wie die Andere Bibliothek, Edition Braus oder Chr. Links. Wir wissen, dass die Leute neugierig sind! Gerade in Leipzig will man natürlich wissen: Was passiert bei Chr. Links?

Der Verlag hat erst in Pandemie-Zeiten am Moritzplatz angedockt, es ist also der erste Auftritt als Teil der Aufbau-Gruppe…

Neumann: 2019 hatte Christoph Links noch seinen eigenen Stand in Leipzig; 2020 sollte er erstmals bei uns mit dabei sein.

Für Sie als Leipzigerin ist die Messe ein Heimspiel, auch wenn Sie aus Berlin anreisen?

Neumann: Ich brenne sehr für diese Messe, auch weil ich um ihre Tradition und Bedeutung weiß. Es gibt Dinge, bei denen wir in Pandemie-Zeiten gemerkt haben, dass sie durchaus verzichtbar sind – man muss nicht für einen Sechzig-Minuten-Termin von Berlin nach München reisen. Zwanghaftes Reisen, auch für kleinere Termine, ist wohl eher out. Wenn man sich bereits gut kennt, ist ein monatliches jour fixe über Zoom oder Teams sehr OK. Da muss keiner in den Zug steigen. Bei der Messe ist das nicht so – die wird gebraucht! Nicht zuletzt wegen der vielen ungeplanten Begegnungen.

„Wir müssen wieder loslaufen!“

„Wir müssen wieder loslaufen!“

Die Buchmesse in den Hallen stattfinden zu lassen, ist Ihr oberstes Credo. Wenn wir jedoch eines aus der Pandemie gelernt haben, dann, dass Pläne nicht immer aufgehen…

Oliver Zille: Wir sind gebrannte Kinder. Dabei hatte alles, was wir in der Vergangenheit getan haben, seinen Sinn und seine Begründung. Am Ende hat es nicht gereicht. Blicke in die Glaskugel helfen nicht. Aber das uns Mögliche haben wir in Gang gesetzt – übrigens im Einvernehmen mit der Branche. Es ist zwingend notwendig, Sichtbarkeit für Literatur herzustellen!

Ist Leipzig 2023, nach menschlichem Ermessen, gesichert?  

Zille: Wir sind überzeugt davon. Wir haben nach drei Jahren Zwangspause diese Buchmesse wieder zu etablieren. Der späte Termin soll garantieren, dass es eine physische Messe mit Publikum in den Hallen geben kann. Aber Messen sind auch vor der Pandemie kein Konstrukt gewesen, das man sich am grünen Tisch ausdenkt und dann in die Praxis umsetzt. Es ist etwas, das man gemeinsam mit seinen Kunden realisiert. Die haben wir allerdings drei Jahre mehr oder weniger nicht gesehen. Drei Jahre, in denen sich die Situation für uns alle dramatisch verändert hat. Es gilt, gemeinsam einen neuen Anfang zu finden. Das wird ein Marathon – aber wir müssen jetzt einfach wieder loslaufen!  

Das „Denken in Szenarien“, von dem bei Zukunftstreffen mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth noch die Rede war, ist vom Tisch?  

Zille: Denken in Szenarien bedeutet auch, die Rahmenbedingungen, in denen man arbeitet, mitzudenken. Es wird nicht möglich sein, einen Plan A, B und C mit gleicher Seriosität parallel voranzutreiben – und dann einen davon aus der Tasche zu ziehen. Unsere Dienstleister sind extrem motiviert, die Leipziger Buchmesse wieder in Schwung zu bringen. Aber sie ächzen unter den derzeitigen Bedingungen, unter Personal-Engpässen, unter gewaltigen Auftragsüberhängen. Wir haben die Zeitkette so gebaut, dass wir flexibel reagieren – und unsere Formate in verschiedenen Größen funktionieren können.  

Wer bis zum 30. September bucht, tut das zu den Konditionen der Leipziger Buchmesse 2019.

Oliver Zille

Die Messe hat länger gebraucht, diese Rahmenbedingungen zu definieren, vieles musste neu gedacht werden – der in den Sommer gezogene Akquise-Start zeugt davon. Worauf sollte man als potentieller Aussteller achten? 

Zille: Wenn man bis zum 30. September bucht, tut man das zu den moderaten Konditionen der Leipziger Buchmesse 2019. Zusätzlich sind Fördermöglichkeiten im Rahmen des vom BKM aufgelegten Programms Neustart Kultur geplant – zum Frühbucher-Rabatt kommt also eine weitere Vergünstigung. Wie sich die Konditionen genau darstellen, werden wir noch deutlich vor Ende der Frühbucher-Phase kommunizieren.   

In vorpandemischen Zeiten konnte man sich bis gefühlt Ultimo anmelden – das ändern Sie nun. Bis zum Anmeldeschluss 15. November bezahlt ein Aussteller, der sich im Eiltempo wieder zurückzieht, 25 Prozent – danach sind 100 Prozent fällig, wie es normalerweise mit einer Zulassung üblich ist. 

Zille: Nach den Erfahrungen des Frühjahrs mussten wir hier etwas verändern. Wir gehen davon aus, dass auch Aussteller, die sich vorher angemeldet haben, noch mal einen „Realität-Check“ zum 15. November machen. Das macht die Sache auch für uns planbar. So hätten wir genügend Vorlauf, mit unseren Dienstleistern auch ein kleineres Format auf dem Messegelände zu bauen. Natürlich kann man sich auch nach dem 15. November noch anmelden – aber eben zu anderen Konditionen und eventuell nicht in der erhofften Wunsch-Platzierung. Ich weiß, man soll sich vor solchen Aussagen hüten, aber: Wenn wir 75 Prozent der Ausstellerinnen und Aussteller aus vorpandemischen Zeiten in Leipzig haben würden, wäre das ein Erfolg.  

Sie haben den Termin der Messe nach hinten verlegt, nicht aber die gesamte Zeitkette: Die Anmeldung für „Leipzig liest“ endet wie gewohnt am 30. November. Sind die lokalen Partner, in in Corona-Zeiten teils heftig bluten mussten, wieder mit im Boot?  

Zille: Es gibt größere Orte, die seit 20 Jahren feste Programm-Bestandteile sind, dazu kommen fallweise kleinere Partner. Die Mehrzahl unserer Partner plant mit dem April-Termin. Aber es gilt natürlich auch hier, was für alle jetzt in Gang gesetzten Prozesse gilt: Ganz ohne Bewegungen auf dem Weg wird es nicht gehen, mit dieser Rest-Unruhe müssen wir klarkommen.   

Wie geht es personell beim Lesefestival der Buchmesse weiter?  

Zille: Es passt zur fortschreitenden Digitalisierung der Buchmesse-Organisation, dass wir mit Unterstützung des BKM unsere „Leipzig liest“-Datenbank aufrüsten. Die Verschränkung dessen, was über die Datenbank läuft, mit dem „Gesamtwissen“ der Buchmesse ist ein entscheidender Punkt. In vorpandemischen Zeiten hat er vielleicht eine nachgeordnete Rolle gespielt – aber das hat sich deutlich geändert. Deshalb wollen wir die klassischen „Leipzig liest“-Stellen in die Messe holen, den Job mit eigenen Leuten wuppen. Wir werden aber weiterhin vertrauensvoll auch mit Freien zusammenarbeiten, die den „Leipzig liest“-Organismus aus dem Effeff kennen.  

Ein Organismus, der stetem Wandel unterliegt: Warum wurde das Hallen-Layout geändert? 

Zille: Wir haben uns überlegt, was die wichtigsten Entwicklungsfelder der Leipziger Buchmesse für die Zukunft sein werden. Eine unserer Hauptaufgaben ist zweifellos, Kinder und Jugendliche zum gedruckten Buch, zu den Medien zu bringen. Deshalb wollen wir die Bereiche Manga-Comic-Con (MCC), Fantasy, Kinder- und Jugendbuch stärker miteinander verschränken. In Halle 2, also in direkter Nachbarschaft zum Congress Center Leipzig, werden wir die Themenbereiche Fachbuch/Wissenschaft, Belletristik und Sachbuch, Buchkunst & Grafik, Reise, Hörbuch sowie den Bildungsbereich konzentrieren.   

Wie wird es nach der Geschäftsaufgabe von abooks.de mit der Antiquariatsmesse weitergehen?  

Zille: Die Nachricht hat uns kurzfristig erreicht. Wir überlegen, eine Fläche mit antiquarischen Angeboten ins Messe-Layout zu integrieren; derzeit laufen Gespräche darüber mit lokalen Antiquariatspartnern. Ich sehe diese Bemühung als eine Brücke in eine noch zu definierende Zukunft.  

Messen machen ist wie Atmen oder Fahrradfahren: Man verlernt es nicht, oder? 

Zille (lacht): Man darf aber auch nicht aufhören zu treten. Sonst fällt man vom Rad. Aber jetzt ernsthaft: Unser Arbeitsalltag hat sich radikal verändert. Wir schauen, klar, auf unsere Kunden, müssen aber ebenso fest unsere Dienstleister und deren Lage im Blick behalten. Es gibt keine Routinen, nichts Eingespieltes mehr. Die Messen in den nächsten Jahren werden sich von denen, die wir kannten, deutlich unterscheiden. Wir wissen nur noch nicht genau wie.  

Welcher Ihrer Pinnwand-Sprüche im Büro erweist sich gerade als besonders wertvoll? 

Zille: Douglas Adams: „Don’t panic!“   

Der Text ist die leicht bearbeitete Fassung eines Gesprächs, das am 9. August auf boersenblatt.net erschienen ist.

„Vielgestaltigkeit erzählen“

„Vielgestaltigkeit erzählen“

Ich würde mit der ersten Frage gern Ihre „Meaoiswiamia“-Podcast-Methode aufnehmen, getreu dem schönen Motto: Warum allgemein reden, wenn’s auch persönlich geht? Österreich ist seit 2001 mit einem größeren Auftritt in Leipzig präsent – was verbindet die Literaturjournalistin Katja Gasser mit Leipzig? Haben Sie Freunde hier? 

Katja Gasser: Ich kenne Leipzig und die Buchmesse im Wesentlichen aus der Perspektive meines Kamerateams und der Produktionsfirma, mit der ich arbeite. Ein Buchmesse-Auftritt gestaltet sich für eine TV-Journalistin so, dass man vier Tage lang im Grunde mit dem Kamerateam zusammenklebt. Das Team, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, zählt für mich zu den liebenswürdigsten und patentesten Teams, mit denen ich je zu tun gehabt habe. Meine Empfindungen für Leipzig sind also wesentlich von diesen Leuten geprägt: Beide haben die DDR erlebt, sie haben mir ihre Umbruchs-Geschichten und die ihrer Familien erzählt. Was weiter zurückliegt als meine ersten Leipzig-Erfahrungen: Ich habe schon immer empfunden, dass das österreichische Gemüt – was immer das auch ist! – näher am ostdeutschen als am westdeutschen Gemüt ist: ich weiß, wie prekär es ist, so etwas zu sagen (lacht). 

Können Sie das erklären?  

Gasser: Das Nicht-endgültig-zu-Erklärende ist vielleicht wichtiger Bestandteil dieses Empfindens. Ich glaube, es hat wesentlich damit zu tun, dass die sogenannte „Ost-Erfahrung“ – ich bezeichne das jetzt behelfsmäßig so – näher an der österreichischen Erfahrung ist: auch wenn ‚wir‘, also Österreich, den Eisernen Vorhang nicht quer durchs Land gezogen hatten. Aber wir sind in der historischen, politischen und geographischen Prägung durch den Osten, den Südosten Europas viel stärker gezeichnet als etwa Norddeutschland.  Es ist also auch kein Zufall, dass viele Autorinnen und Autoren aus dem südosteuropäischen Raum ihre ersten Publikations-Schritte auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in kleineren österreichischen Verlagen gemacht haben – um dann nicht selten einen größeren deutschen Verlag zu finden. 

Haben Sie eigentlich Leipziger Lieblingsorte?

Gasser: Lieblingsorte? Schwer zu sagen. Ich kann mit einem Bild aufwarten: es war ein windiger, regnerischer, wenig freundlicher Tag während einer der Leipziger Buchmessen, und das Kamerateam und ich waren auf der Suche nach Bildern von der Stadt. Und da trafen wir auf dem zentralen Marktplatz Leipzigs einen Pianisten an, der gegen alle Wetter-Widrigkeiten anspielte – und das sehr intensiv, schön. Dieses Bild hat sich in mir abgelegt: als ein Symbol für Würde und Widerständigkeit. Dieses Bild grundiert meinen Leipzig-Eindruck. Im Grunde bin ich aber eine klassische Leipzig-Touristin, die sich kaum über die üblichen Orte hinaus wirklich auskennt. Durch meine Fernseharbeit, meine Interviews bin ich natürlich auch an Orte gekommen, über die man als regulärer Tourist nicht stolpert – aber die könnte ich jetzt nicht benennen. Als TV-Journalistin bin ich ein Orientierungs-Dummie, weil ich immer an die Leute vor Ort gebunden bin, die mit mir arbeiten: die sind in der Regel so freundlich, mich mit dem Auto abzuholen und herumzulotsen. Was dazu führt, dass ich mich geografisch ausklinke. Meine Tendenz zum Lemming ist diesbezüglich sehr ausgeprägt. Als visueller Mensch bin ich nicht zufällig beim Fernsehen gelandet; ich könnte Ihnen Details in den Outskirts von Leipzig beschreiben – aber nicht sagen, wo genau das gewesen war.  

Wie gefällt Ihnen Ihr künftiges Gastland-Hauptquartier, die Schaubühne Lindenfels?  

Gasser: Es ist kein Zufall, dass sich auch Gastländer vor uns diesen Ort gewünscht und dann auch bespielt haben. Er verbindet ein niederschwelliges Kunst- und Kulturverständnis mit sehr hoher Professionalität auf diesem Gebiet. Man spürt dem Ort an, dass er offen ist für viele – und zugleich sehr präzise in dem, was dort geboten wird. Genau in dieser Kombination sehe ich auch den Österreich-Auftritt in Leipzig angelegt.  

Normalerweise haben staatstragende Veranstaltungen wie Gastlandauftritte eineindeutige, leicht eingängige Slogans…  

Gasser: Das war auch ein hartes Ringen, das durchzusetzen… 

Das kann ich mir vorstellen. Mit „Meaoiswiamia“ referieren Sie auf Avantgardistisches von Ernst Jandl bis zur Band Attwenger. Wie ist es zu dieser Sprachskulptur gekommen – und was wollen Sie mit ihr transportieren?  

Gasser: Mir war es einerseits wichtig, dass wir mit diesem Claim zeigen: Wir sind eine KUNST-Veranstaltung, eine literarische Veranstaltung – und zwar nicht irgendeine, sondern eine, die einen sehr expliziten Bezug zu Avantgarde-Traditionen hat, für die ja die österreichische Literatur in Deutschland immer wieder gerühmt wird. 

Wir wollen uns als Land zeigen, das die Kapazitäten hat, sich über ein enges Wir-Verständnis hinaus als kulturell, literarisch, sprachlich, religiös vielgestaltig zu zeigen.  

Katja Gasser

Gleichzeitig war mir bewusst, dass wir auch eine politische Setzung brauchen. „Meaoiswiamia“ ermöglicht, dass sich ein Land auch mit einem Fragezeichen präsentiert. Wir erleben ja im Moment identitätspolitische Verschärfungen auf sehr unterschiedlichen Ebenen – und mir war ganz wichtig, dass wir im Claim selbst mit einem offenen „Wir“-Wort auftreten. Im Bewusstsein, dass jede Konstruktion von „Wir“ eine sehr schwierige, mitunter auch gefährliche Geschichte ist. Wir wollen uns als Land zeigen, das die Kapazitäten hat, sich über ein enges Wir-Verständnis hinaus als kulturell, literarisch, sprachlich, religiös vielgestaltig zu zeigen.  

Sie setzen stark auf Vielfalt: Sind Mehrsprachigkeit und Multikulturalität die richtigen Assoziationen?  

Gasser: Ja, und zwar nicht in einem propagandistischen Sinn, sondern im Sinne einer großen Selbstverständlichkeit: es ist einfach so, dass Österreich ein multikulturelles und mehrsprachiges Land ist, das ist Fakt. Und das aus unterschiedlichsten Gründen, nicht zuletzt historisch bedingt. 

Für mich ist es zentral, im Kontext des Gastlandauftritts auch die Frage virulent zu halten, wer ‚wir‘ sein wollen. Welche Konzepte bilden die Grundlage unsers Verständnisses davon, was Gesellschaft sein soll? Und daran gebunden die Frage, welche Rolle bei all dem die Literatur, die Kunst spielt.   

Wir wollen als Gastland 2023 kein Nischenprogramm haben, keine Sparten, wo wir etwa österreichische Migranten-Literatur zeigen. Sondern dass wir im Herzen unseres Programms diese Vielgestaltigkeit erzählen!  

Sie selbst sind, in Klagenfurt geboren, mehrsprachig aufgewachsen…?  

Gasser: Das ist sicher eine Grundschärfung meines Bewusstseins, dass ich aus einer zweisprachigen Region komme. Es gibt ja in Österreich mehrere anerkannte Volksgruppen, eine der autochthonen Minderheiten Österreichs sind die Kärntner Slowenen – und ich komme aus einer Familie, die slowenischsprachig geprägt ist. Diese Prägung hat sicher mit dazu geführt, dass ich mich unter anderem in meiner Arbeit als TV-Journalistin sehr auf die südosteuropäischen Literaturen spezialisiert, Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum vorgestellt habe. Der Zufall der Biografie spielt also sicher mit, mein kämpferisches Naturell hat wohl auch darin seine Wurzeln. Ich bin aber auch unabhängig von der eigenen Lebensgeschichte politisch davon überzeugt, dass wir gar keine andere realistische Lösung haben, als zu versuchen, dieses „Viele“ im Zentrum anzuerkennen – und daraus so etwas wie Gesellschaft zu zimmern. Immer unter der Voraussetzung von Ideen wie Gerechtigkeit und Solidarität. Ich habe in einem der Texte, die ich rund ums Gastland geschrieben habe, festgehalten, dass für mich die Anerkennung dieser Vielfalt die einzig nicht-ideologische Setzung ist! Alles, was dieses Faktum nicht anerkennen möchte, ist Ideologie. 

Gibt es denn aus Ihrer Sicht in Deutschland Klischees, die österreichische Literatur betreffend, die Sie ärgerlich finden und die Sie mit Ihrem Programm aufbrechen, wenn nicht gar in die Rumpelkammer verbannen möchten?  

Gasser: Zuviel der Ehre. Ich finde es grundsätzlich unvernünftig, gegen Klischees auftreten zu wollen. Vielleicht sogar etwas infantil (lacht). Klischees haben auch etwas Gutes. Ich mache zum Beispiel jetzt die Erfahrung, dass das immer etwas verniedlichende Bild des Österreichers uns durchaus gut bekommt: Man mag uns! Das kommt unserem Projekt auch zugute (lacht). Ich will weniger gegen Klischees auftreten, als mit einem Selbstverständnis – das auch nicht auftrumpfend ist! – zu zeigen, was dieses Land literarisch zu bieten hat. Und das ist viel mehr, als man kennt.  

Mehr als Thomas Bernhard…  

Gasser: Absolut. Einer unserer Programmhöhepunkte im April 2023 wird die Show „Werdet Österreicher!“ in der Schaubühne Lindenfels sein. Dort werden zwei der bekanntesten Kabarettisten Österreichs, Stermann & Grissemann, mit diversen Autorinnen und Autoren einen Abend gestalten. Vorausgehen wird diesem Abend ein Literaturwettbewerb der schule für dichtung in wien in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Gesucht wird da der österreichischste Text der Gegenwart. Wir fordern also dazu auf, Bernhard, Jandl & Co. zu übertrumpfen.  

Ich entnehme Ihren Worten eine gewisse Fähigkeit zur Selbstironie… 

Gasser: Das ist natürlich eine Grundvoraussetzung, um das Leben generell zu überstehen (lacht). Ironiefähigkeit empfiehlt sich auch bei der Leitung eines Gastland-Auftritts. Auf dem Terrain der Kunst haben wir – Gottseidank! – die Möglichkeit, Dinge, die sonst in die Katastrophe führen, anders anzugehen.  

Lassen Sie uns darüber sprechen, was uns bis zum April 2023 erwartet. Die erste Raketenstufe ist ja bereits gezündet: Sie haben Mitte Mai in Berlin eine Literaturhaus-Tour eröffnet. Was haben Sie in den nächsten Monaten vor?  

Gasser: In den letzten Monaten waren wir damit beschäftigt, die Projekte und unseren Claim zu entwickeln, der Startschuss fiel im letzten März in Leipzig. Die Fortsetzung fand das im Mai in Berlin. Es gab jetzt im LCB wieder einen „Langen Abend der Österreichischen Literatur“. Im September wird „Literatur on Tour“ richtig Fahrt aufnehmen. Wir haben insgesamt mehr als 30 Veranstaltungen in Deutschland und der Schweiz, wo wir – meist mit musikalischen Acts – die ganze Vielfalt der österreichischen Literatur zeigen wollen. Meist in Konstellationen, die so in Literatur-Institutionen sonst nicht stattgefunden hätten. Begleitet wird das von unserem Podcast-Projekt und weiteren Aktivitäten in den Sozialen Medien. Anfang 2023 richtet sich unser Fokus dann verstärkt nach Leipzig. Unsere Präsenz 2023 startet, so der Plan, mit einer Ausstellung des zeichnerischen Werks von einer der interessantesten und bekanntesten österreichischen Künstlerinnen des 20.Jahrhundersts, die ein ausgeprägtes Naheverhältnis zur österreichischen Literaturszene hatte: Maria Lassnig. Rund um Maria Lassnig, zu der es spannende Buchpublikationen gibt in unterschiedlichen österreichischen Verlagen, sind mehrere Aktivitäten geplant. Darüber hinaus:  Im Literaturhaus Leipzig wird es eine Nicolas-Mahler-Ausstellung geben, in der Schaubühne eine Woche mit österreichischen Literaturverfilmungen. Nikolaus Habjan wird ein ganzes Wochenende lang auftreten mit einem Kult-Stück von Werner Schwab, „Die Präsidentinnen“, das Burgtheater wird Leipzig mit einem herausragenden Gastspiel beehren: darüber und darauf freue ich mich sehr: Details möchte ich noch keine verraten. 

Wir versuchen, unseren Gastlandauftritt im Vorfeld auf sehr unterschiedlichen Ebenen anzukündigen und mitzuzählen – nicht nur auf dem Feld des Literarischen.

Katja Gasser

Wir versuchen, unseren Gastlandauftritt im Vorfeld also auf sehr unterschiedlichen Ebenen anzukündigen und mitzuzählen – nicht nur auf dem Feld des Literarischen. So wird es auch während der Buchmesse weitergehen: Mit einer großen Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek („50 Jahre österreichische Literatur“) in der DNB Leipzig, im Leipziger Theater der Jungen Welt werden wir während der Buchmesse einen Tag lang Workshops mit österreichischen Kinder- und Jugendbuch-Illustratoren abhalten. Dazu wird das ‚Dschungel Wien‘ – eines der herausragendsten Kinder- und Jugendtheater Österreichs – ein Gastspiel am TdJW haben. Und so weiter, und so weiter… Wir versuchen, an sehr unterschiedlichen Stellen die unterschiedlichsten Kunstsparten sichtbar zu machen – auch mit dem Wunsch, über diesen Moment der Leipziger Buchmesse hinaus Netzwerke zu schaffen, die dann über den April 2023 weit hinaustragen. 

Wenn man sich auf das Projekt, Österreicher zu werden, ordentlich vorbereiten will – welche Bücher sollte man dann in den Sommer mitnehmen? Und: Was lesen Sie gerade?  

Gasser: Ich lese gerade ein Buch, das nicht direkt mit unserem Auftritt zu tun hat, aber von einem Autor stammt, den ich für einen der relevantesten der Gegenwart halte: „Mesopotamien“ von Serhij Zhadan. Was österreichische Novitäten betrifft, tue ich mich schwer, ein Buch besonders hervorzuheben. Vielleicht so viel: Der Claim „Meaoiswiamia“ ist ja nicht bei mir am Schreibtisch entstanden. Ich habe mehrere Autorinnen und Autoren darum gebeten, darüber nachzudenken, wie wir als Gastland heißen könnten. „Meaoiswiamia“ ist eine Erfindung von Thomas Stangl, der zuletzt gemeinsam mit Anne Weber ein Buch über „Gute und böse Literatur“ bei Matthes & Seitz veröffentlicht hat. Das liegt mir sehr am Herzen, wie überhaupt Thomas Stangl – ein Leuchtstern der österreichischen Gegenwartsliteratur, der in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist. Im August kommt sein neuer großer Roman „Quecksilberlicht“ (Matthes & Seitz Berlin) heraus, dazu ein Erzählband in seinem ‚Herkunftsverlag‘, dem österreichischen Droschl-Verlag. Das andere Buch, das ich erwähnen möchte, kommt aus einem tollen, jungen österreichischen Verlag – Alexander Lippmanns Roman „Innere Gewalt“ ist bei Bahoe Books erschienen; eine Geschichte darüber, was es heißt, einer mehr oder minder sinnlosen Arbeit nachzugehen. Insgesamt kann ich nur sagen: liebe Leserinnen: schaut Euch auf dem österreichischen Buchmarkt um: es gibt Hochkarätiges zu entdecken! 

Katja Gasser ist Literaturkritikerin und Kulturjournalistin, 2019 wurde sie mit dem Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet. Seit 2008 leitet sie das ORF-TV-Literaturressort; in dieser Funktion ist sie zur Zeit freigestellt, weil sie die künstlerische Leitung des Gastlandprojekts ,Österreich bei der Leipziger Buchmesse 23’ übernommen hat.