„Herzlich willkommen zum Familientreffen!“ Drei Jahre musste Burkhard Jung warten, bis er diese vier Worte anlässlich der Buchmesse-Eröffnung an der Rampe eines vollbesetzten Gewandhauses sprechen konnte. Nun war es – „endlich!“ – soweit, der Saal applaudierte sich selbst, und Leipzigs Oberbürgermeister wirkte so, als habe er diesem Moment mindestens sieben Jahre entgegengefiebert. Dabei war der ganze Abend davon gezeichnet, dass über grenzenloser Freude Schwere lastet; wie auch nicht: Seit mehr als einem Jahr tobt Putins Angriffskrieg in der Ukraine. Balsam auf die Seele war es dann schon, den Gewandhaus-Kapellmeister der Jahre 1998 – 2005, Herbert Blomstedt, an alter Wirkungsstätte mit Schuberts 6. Sinfonie zu erleben – voller Energie in stolzem Alter.
Herbert Blomstedt, voller Energie an seiner alten Wirkungsstätte (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter
Auch Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, betonte in ihrem Grußwort die Freude des Zusammenseins nach pandemiebedingter Absenz, nach einer jetzt schon unwirklich anmutenden Zeit, in der Oliver Zille und sein Team drei Mal Anlauf nahmen – und „drei Mal auf der Zielgeraden stoppen mussten“. Was hat gefehlt? Der „erste große Höhepunkt im Bücherjahr“, die erste „Aufmerksamkeitsdusche“ für die Frühjahrsnovitäten, das riesige Lesefest, wo die Vermittlung von Buchbegeisterung niederschwellig funktioniert: „Kaum ein Kind kommt hier nicht mit Geschichtenglück in Berührung. Und näht bestenfalls seit Monaten an seinem Cosplay-Kostüm.“
Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, möchte am liebsten den ganzen Saal umarmen („liebe alle!“), ist sichtlich gerührt vom Moment und darf sich qua Amt auch einmal selbst zitieren:„Ich lasse mir diese Buchmesse nicht wegnehmen – um alles in der Welt nicht!“ Dieser Schlachtruf war der meistzitierte Satz eines „Zukunftsgesprächs“ zur Leipziger Buchmesse vor Jahresfrist – und selbst wenn jemand damals Diebstahls-Absichten gehabt hätte, hätte er sich anschließend gewisslich nicht mehr getraut.
Launiger Redner: Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter
Was mit „Meaoiswiamia“, dem Gastland-Claim, wirklich gemeint ist, hat sich Alexander Van der Bellen nicht restlos erschlossen. Im Tiroler Kaunertal jedenfalls, wo der Österreichische Bundespräsident seine frühe Kindheit verlebte, hätte man eine Plakatkampagne der FPÖ unter der fremdenfeindlichen Headline „Daham statt Islam“ gar nicht verstanden. Eine beruhigende Nachricht aus der Alpenrepublik, in der man „mindestens anderthalbsprachig aufwächst“ – und die nach langer Anlaufzeit und zur allgemeinen Freude Gastland der Leipziger Buchmesse 2023 ist. Van der Bellen hielt eine listig-launige Rede, oft jenseits des Manuskripts, in der deutsche Großfeuilletonisten ihr Fett wegbekamen und österreichische Verleger ein verbales Ehrenkreuz angeheftet – natürlich für die klaglose Ausfüllung ihrer Scout-Rolle für den deutschen Buchmarkt. Ein super Move des in zweiter Amtszeit gewählten Staatsoberhaupts war es, vier junge Gäste mit ins Gewandhaus zu bringen, die nicht der Entourage aus der Wiener Hofburg entstammen: Es waren vier Buchhandlungslehrlinge, die Van der Bellen offensichtlich bereits den ein oder anderen Buchtipp vermittelt haben.
Preisübergabe: Maria Stepanova und Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter
In der Klappe der Suhrkamp-Ausgabe von Maria Stepanovas „Mädchen ohne Kleider“ von 2022 steht über die Autorin noch: „Sie lebt in Moskau“. Inzwischen lebt die Dichterin, die mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, in Berlin. In ihrer Laudatio auf die Kollegin und Freundin kommt Ilma Rakusa auch auf jenen denkwürdigen Aufsatz zu sprechen, den Maria Stepanova unlängst in der FAZ („Die russische Frage“) veröffentlichte. Aus einer existentiellen Verstörung fragt sich Stepanova, was sie hätte tun können, um den Wahnsinn des Kriegs zu verhindern? „Vielleicht wird das Stigma, das schmerzhafte Zeichen der kollektiven Mittäterschaft eines Tages zu dem Punkt, an dem der Weg von einem blinden ‚Wir’ zu einer Gesellschaft der sehenden ‚Ichs’ beginnt“, schreibt Stepanova. Und: „Bewerkstelligen lässt sich das nur von innen.“ An dieser Stelle ruft ihr Ilma Rakusa zu: „Liebe Mascha, ein sehendes ‚Ich’ bist du schon lange, wie hättest du sonst deine Gedichte schreiben können, die so viel Welt, Verantwortungsbewusstsein und poetische Schönheit enthalten, die Grenzen überwinden, mannigfache Resonanzräume auftun – und voller Vorahnungen sind?“
Das Gewandhaus-Orchester sorgt für den festlichen Rahmen (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter
In ihrer – bis auf ein von Boris Dubin ins Russische übersetztes Celan-Zitat – auf Englisch vorgetragenen Dankesrede würdigt Stepanova besonders den Umstand, dass „in einem Jahr der Verwüstung, der Angst und des Verlustes“ der Leipziger Buchpreis zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen Gedichtband, für eine poetische Aussage verliehen wurde. Doch was bewirken Gedichte? Stepanova erinnerte an Daniil Charms, der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs forderte, man solle so schreiben, dass, „wenn man ein Gedicht durch ein Fenster wirft, das Glas zerbricht“. Charms starb 1942 im belagerten Leningrad in einer Gefängniszelle den Hungertod. Was tin, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird? „Sind wir jetzt verdammt, das zwanzigste Jahrhundert immer wieder neu zu erleben“, fragte Stepanova in der aufwühlendsten Passage ihrer Rede, „seine Gefängnisse, Konzentrationslager und Propagandamaschinen, seine Grabenkriege und Flächenbombardements?“ Was tun? Zu wissen, dass man nicht allein ist, könnte helfen. „Die Arbeit des Verstehens wird, wie die Arbeit der Lyrik, nie allein getan.“
Das Futurium, gelegen zwischen Reichstag und Berliner Hauptbahnhof, direkt an der Spree, erkennt man schon aus der Ferne; mit seinen großen Panoramafenstern wirkt es wie ein kantiges Raumschiff. Tatsächlich erstrecken sich im Inneren über 3200 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf drei Ebenen. Vom Dach des Hauses hat man eine tolle Aussicht auf Spreebogen und Kanzleramt. „Haus der Zukünfte“ ist der Claim dieses Forums für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – ein Plural, der Christian Engelbrecht, Referent für Bildung und Partizipation am Futurium, sehr wichtig ist: „Weil da drinsteckt, dass wir nicht das Orakel von Delphi oder irgendein Zukunftsprognose-Institut sind.“ Stattdessen werden am Futurium verschiedene Zukunfts-Szenarien in den Bereichen Energie, Demokratie, Mobilität, Gesundheit, Arbeit vorgestellt. Die Leitfrage lautet stets: „Wie wollen wir leben?“
Am Futurium sind heute schon mögliche Trends von morgen zu sehen, nachgedacht wird über wünschbare, aber auch womöglich vermeidbare Zukünfte. Indem man Zukunfts-Optionen entwirft und vermittelt, prägt man die Zukunftsvorstellung der Besucherinnen und Besucher, kann den Lauf der Dinge beeinflussen – so die Überzeugung von Christian Engelbrecht und seinen Kollegen: „Das Nachdenken über Morgen hat Einfluss aufs Heute.“ Initiator des Projektes ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Zu den beteiligten Partnern gehören unter anderen die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft und die Fraunhofer Gesellschaft.
(c) David von Becker
Die Dauerausstellung am Futuruim untergliedert sich in drei große „Denkräume“ – Mensch, Natur und Technik. Die Fragen, die den Besucherinnen und Besuchern nahegebracht werden sollen, reichen von den Möglichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens und -arbeitens über Wege, von der Natur zu lernen bis zu einer Art „Technikfolgenabschätzung“, wie Engelbrecht erklärt: „Was bietet uns die Technik an möglichen Lösungen? Aber nicht im Sinne einer unkritischen Technik-Faszination, sondern so, wie es heute schon tagtäglich in Themenfeldern wie Gesundheitsvorsorge, Prothetik oder Robotik diskutiert wird: „Wieviel Technik wollen wir in unser Leben lassen?“
Im Untergeschoss findet man, wie in allen Museen, die heute etwas auf sich halten, das „Futurium Lab“ – ein Labor, ein Werkstattbereich, in dem sich alles um Erfinden, Experimentieren, kurz: Ausprobieren dreht. Beleuchtet werden etwa die Bereiche Bio-Design, die Zukunft der Mobilität oder der Demokratie. Im Lab integriert ist auch ein Workshop-Bereich, in dem Bildungsangebote für Erwachsene, Familien oder Schüler angeboten werden. Die Methoden, die zur Anwendung kommen, stammen aus der Zukunftsforschung oder dem Design-Thinking; mit 3-D-Drucker, Laser-Cutter oder kleinen Programmier-Aktivitäten entwickeln die Schülerinnen und Schüler eigene Zukunftsvisionen. Eigens entwickelte Bildungsmaterialien wie die „Zukunftsbox“ ermöglichen die spielerische Auseinandersetzung mit künftigen Trends. Das, was am Ende erreicht werden soll, nennt sich in UNESCO-Papers „Futures Literacy“ – Christian Engelbrecht übersetzt das mit dem Bandwurmbegriff „Zukunftsgestaltungs-Kompetenz“. Was nichts Anderes meint, als die Fähigkeit, uns alternative Zukünfte vorzustellen: „Indem wir dieses Denken in Alternativen trainieren“, sagt Engelbrecht, „fühlen wir uns nicht mehr ohnmächtig und ausgeliefert – sondern sehen neue Handlungsräume. Wir werden mündiger, etwa im Verhältnis zu Daten.“
(c) David von Becker
Das mobile Futurium bringt die Bildungsangebote und Workshops der Berliner in ländliche Regionen, an Schulen und Events überall in Deutschland. Auf der Leipziger Buchmesse, die zugleich eine der wichtigsten Bildungsmessen in Deutschland ist, wird das Futurium im JugendCampus Uverse zu Gast sein – mit einer spielerischen Auseinandersetzung mit möglichen Zukunftstrends in den Bereichen Stadt und Stadtplanung. Dabei wird es von begrünten Hochhäusern bis zur Frage gehen, wie Mobilität und Verkehr von übermorgen aussehen.
Die Geschichte von FLIPPO, der Kinderzeitung der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) beginnt 2017 an zwei Grundschulen in Schönefeld, einem Stadtteil im Leipziger Osten. Die Idee: Eine Zeitung von Kindern für Kinder, die Erwachsenen geben nichts vor, sondern helfen lediglich bei der Umsetzung. Das fängt schon beim Namen an: In einer Umfrage setzt sich „FLIPPO“ schließlich gegen „Das Marienkäferblatt“ und „Bananenkopf“ durch.
Im letzten Jahr wurde mit der Jubiläumsausgabe „Happy Birthday“ der fünfte Geburtstag des Projekts gefeiert: Darin finden sich etwa lustige Wahlplakate („Für Rockmusik auf öffentlichen WCs“), ein Comic über die böse Lehrerin Frau Cibulka oder die hübsche Rubrik „Kinder fragen ahnungslose Erwachsene“, in der man lernen kann, was ein „Glubschi“ oder ein „Frumpel“ ist. Neben freien Heften zu „Marsianern“, „Morgens länger schlafen“ oder „Corona“ gab es auch schon zwei Mal Themenhefte zu GfZK-Ausstellungen, etwa über Städte der Zukunft.
Für Wiebke Steinert, die als freie Mitarbeiterin in der Kunstvermittlung der GfZK arbeitet und sich mit weiteren Kolleginnen um das Projekt kümmert, ist die Arbeit an jeder neuen Ausgabe ein Experiment mit offenem Ausgang: „Es gibt eine Kinderredaktion, die nach demokratischen Spielregeln aushandelt, was Titel-Thema sein soll.“ Dabei kann man im Dauertakt Überraschungen erleben; geht nicht gibt’s nicht. Wer als schön rational denkender Erwachsener etwa glaubt, beim Thema „Sitzenbleiben“ laufe, na klar, alles auf Schulprobleme hinaus, landet Minuten später bei „Fußball“. Und bekommt auf sein Kopfschütteln und Schulterzucken mit entwaffnender Offenheit entgegengeschleudert, dass man beim Fußballgucken ja „vor dem Fernseher sitzt“. Zack, neues Thema!
Das Projekt FLIPPO fährt zweigleisig: Zum einen bietet die GfZK Ferienworkshops im Haus an, die dank diverser Förderungen kostenfrei sind. Zum anderen, und das ist mindestens ebenso wichtig, gibt es Kooperationen vor Ort, in den Stadtteilen, etwa mit der Clara-Wieck-Schule in Schönefeld, der Schule am Addis-Abeba-Platz oder dem Leipziger Riso Club, einer offenen Druckwerkstatt, die sich der Risographie verschrieben hat. „Die Kinder arbeiten zumeist analog“, erklärt Wiebke Steinert. „Mir ist es wichtig, dass sie erst mal das Handwerk verstehen. Am Ende digitalisiere ich dann die Arbeiten. Oder es entstehen Poster im Risodruck.“
Posterausstellung nach einem Workshop im Riso Club (c)GfZK
Im Rahmen des JugendCampus UVERSE wird FLIPPO nun zum ersten Mal auf der Leipziger Buchmesse zu Gast sein. Geplant ist am Messe-Samstag ein Plakat-Workshop zu Fake-News – ein Thema, das bei Kindern auf offene Ohren stößt und schon jetzt fester Bestandteil jeder FLIPPO-Ausgabe ist. Auf spielerische Weise lernen Kinder, wie solche Fakes funktionieren – und haben bei der Entwicklung von Headlines wie „Zehnjähriger von Smartphone verschluckt“ oder „Nutella – Die Geheimmedizin gegen alle Krankheiten!“ noch ziemlich viel diebischen Spaß. „Natürlich bekommen Kinder in Familie und Schule eine Menge Medienrummel um bestimmte Phänomene mit“, weiß Wiebke Steinert. „Wir klären da mit unserem didaktischen Wissen auf – und es entstehen Poster, die dann über das Monotypie-Verfahren direkt auf der Messe gedruckt werden können.“ Im Workshop sind ganz unterschiedliche Aufgaben möglich, so auch die Herstellung von Collagen: Witzig zum Beispiel, Überschriften aus Zeitungen auszuschneiden und mit neuen Bildern zu versehen – oder andersherum. Da die junge Zielgruppe auf der Buchmesse altersmäßig sehr heterogen sein wird (angegeben ist eine Altersgruppe zwischen 10 und 22 Jahren), dürften Steinert und ihre Kolleginnen ordentlich herausgefordert sein. Dennoch freut sich die Kunstvermittlerin aus der GfZK schon sehr auf den Messesamstag: „Hoffentlich entstehen viele tolle Poster – die dann den Weg in die nächste FLIPPO-Ausgabe finden.“ Vorgestellt wird die dann so, wie es sich gehört: Auf einer echten Kinderpressekonferenz.
Tom Geißlers Oma war felsenfest davon überzeugt: ‚Junge’, sagte sie immer, ‚du wirst irgendwann mal bei einer Bank arbeiten’. Die großmütterliche Prophezeiung hat sich nicht erfüllt. Zum Glück, wie Geißler, Referent für die Tageskassenkoordination bei der Leipziger Messe, aus heutiger Sicht findet. Mit vielen Zahlen und größeren Geldbeträgen hat er dennoch zu tun. Aber das ist, wie man sich leicht vorstellen kann, längst nicht alles. Geißler ist in der Abteilung Digitale Geschäftsmodelle / Besucherservices beschäftigt, die wiederum in die Fachbereiche Ticketing, Tageskasse, Einlassmanagement und Hotel aufgeteilt ist. Die Herausforderungen sind mannigfaltig, gerade im Bereich Ticketing sind Messen sehr arbeits- und planungsintensive Veranstaltungen geworden.
Es beginnt bereits mit der Wegeführung der Besucherströme, wenn es gilt, Gruppen mit und ohne Karten zu entzerren: „Wie besetze ich Kassen? Nutzen wir Sondereingänge? Bei der Buchmesse bieten wir Karten für Wochentage und das Wochenende zu unterschiedlichen Preisen an – und versuchen so, eine steuernde Wirkung zu erzielen.“ Der Trend, so Geißler, gehe eindeutig in Richtung des digitalen Kartenkaufs im Vorfeld. „Wenn ich das Nahverkehrsnetz kostenlos nutzen kann und mich nicht noch einmal extra anstellen muss, sind das schon Vorteile.“ Eine weitere logistische Herausforderung: 80 Prozent der Besucherinnen und Besucher kommen in der Zeit zwischen 9 und 12 Uhr. Bei der Publikumsmesse Haus-Garten-Freizeit im Februar gab es die Möglichkeit, neben der Tageskarte zu 14 Euro eine „Nachmittagskarte“ für nur neun Euro zu erwerben.
(c) nk
Auch Tom Geißler war das, was man ein typisches „Messe-Kind“ nennt: Bereits seine Mutter arbeitet hier, und so war es ganz normal, dass der Steppke schon mit fünf, sechs Jahren übers Messegelände zog – damals noch jenes der technischen Messe, unterm riesigen Doppel-M im Südosten der Stadt. Kein Wunder, dass Geißler während seines BWL-Studiums an der Fachhochschule Merseburg als Aushilfe im Tageskassen-Bereich arbeitete. Und später ein Praktikum in der Messe-Abteilung für strategische Akquisition / Neuproduktentwicklung absolvierte. Es war just jene Abteilung, die die Designers Open 2013 zur Leipziger Messe geholt hatte.
Bei der Leistungsschau der Kreativbranche, die 2020 aus dem Messe-Portfolio fiel, arbeitete Tom Geißler zwei Jahre als Projektmanager, um dann zu einem Online-Shop zu wechseln, den ein alter Schulfreund von ihm betrieb. „Es hat großen Spaß gemacht“, erinnert sich Geißler an diese Zeit. „Aber Online bedeutet eben auch 24/7 Stress, man rennt praktisch nonstop den Vorgaben der Online-Riesen hinterher.“ Nach drei Jahren liebäugelte das Ex-Messe-Kind Geißler dann tatsächlich wieder mit einem Job bei der Messe. Wenn er zurückkommen sollte, so hatte er schon bei seinem Ausscheiden bei der Designers Open gedacht, dann in die Betreuung und Koordination des Tageskassen-Geschäfts, was er von der Pike beherrschte.
Was hat ihn gereizt? „Einerseits“, erklärt Tom Geißler, „hat man mit jungen Leuten zu tun. Früher war das ein eingeschworener Haufen. In Zeiten, wo viel über Online-Kanäle abgewickelt wird, verfügen wir über einen eher kleinen Pool fester Aushilfen. Das Bild wandelt sich bei Großveranstaltungen wie der Buchmesse, wo man auf einen Schlag 50, 60 Neue einweisen muss.“ Was ebenfalls für seine Tätigkeit spricht: „Es ist kein reiner Schreibtisch-Job. Ich komme in die Hallen rein, auch Dienstreisen fallen regelmäßig an.“ Letztes Jahr war Geißler in München, Hamburg, Stuttgart und Düsseldorf – Städte, in denen die Leipziger Messe Veranstaltungen durchführt. „Wir könnten die Tageskassen dort auch als Dienstleistung einkaufen“, erklärt Geißler, „machen das aber in der Regel selbst. Wir stellen Personal ein, bringen unsere Technik mit, bauen dort auf.“
Im April 2019 hat Tom Geißler seinen Job angetreten, nur ein paar Wochen nach der letzten Leipziger Buchmesse vor Corona-Zeiten. „Seitdem warte ich händeringend darauf, endlich wieder eine Buchmesse wuppen zu dürfen.“ Seine Feuertaufe wurde die Modell-Hobby-Spiel im Herbst 2019. Den ersten Messetag wird er so schnell nicht vergessen: In Halle 5 fielen wie durch Zauberhand die EC-Geräte aus, obwohl Kassen und Drehkreuze noch Freitagabend und Samstagfrüh doppelt und dreifach gecheckt wurden. Der Teufel, der im Detail steckt. „Ein Albtraum“, sagt Geißler. „Eine ehemalige Kollegin, die als Besucherin kam, hat mir spontan geholfen.“ Und: „Ich habe das Glück, dass ich auch in solchen Extremsituationen relativ ruhig bleibe. Vor den Mitarbeitern in Hektik verfallen hilft auch keinem!“
(c) nk
Entsprechend geerdet kam Tom Geißler auch durch die Monate der Pandemie. Er war im Testzentrum im Leipziger Rathaus tätig, wo ebenfalls Registrierungs-Logistik benötigt wurde, und betreute eine ganze Reihe hybrider Veranstaltungen. Dazu wurden alle Abläufe seiner Abteilung wieder und wieder auf Herz und Nieren geprüft: „Irgendwann droht man ja, in den Alltags-Routinen betriebsblind zu werden. Wir haben geschaut, wie man Prozesse optimieren, neu und besser organisieren kann.“ Sein Job, weiß Geißler, erfordert sowieso ständiges Lernen – von Beschilderung und Wegeführung bis zu den Abrechnungsprozessen, die ihn noch in Atem halten, wenn die jeweiligen Messen längst gesungen sind. Und jetzt, endlich: Ruhe vor dem Sturm: Die Buchmesse Ende April fest im Blick. Tom Geißler lächelt und strafft sich: „Ich weiß mehr, als in meinem ersten Jahr – und kann mich mehr auf die Veranstaltung freuen, als ich das 2020 hätte tun können. Es wird aufregend. Aber ich bin entspannt.“
Als Maria Stepanova Anfang 2023 in einem Interview mit der „Jüdischen Allgemeinen“ gefragt wurde, was der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für sie bedeute, hob sie zuerst auf den durchaus nicht alltäglichen Umstand ab, dass die Auszeichnung erstmals für einen Gedichtband verliehen wird. Für die Autorin ein Zeichen dafür, dass Lyrik zählt: „In dunkler Zeit könnte sie sogar wichtiger und notwendiger sein als sonst. In der anderen ‚dunklen’ Zeit, der Zeit der Konzentrationslager in Europa, haben Gedichte vielen Menschen geholfen zu überleben. Wir wissen aus unterschiedlichen Erinnerungen, sowohl aus der Sowjetunion als auch aus Nazi-Deutschland: Wenn jemand genug Gedichte auswendig konnte, schuf das eine Art Schutzraum, und der Mensch konnte nicht nur als Person überleben, sondern auch den Raum der Poesie mit anderen teilen – einen Raum, der sich zu einer Art großem Zelt aufblies und eine Gruppe von Menschen darunter vereinte, die in psychischer Hinsicht überleben konnten.“ In gewöhnlichen Zeiten, so die Autorin, sei das nicht so essenziell, aber das, was jetzt passiert, ändere alles. Und sie, die Dichterin – ist sie selbst in Zeiten des Krieges dazu in der Lage, Poesie zu verfassen? „Ich schreibe Gedichte, aber es kommt mir seltsam vor“, bekannte sie in einem Radio-Interview. „Es wirkt auf mich selbst, als ob ich doch schweigen würde.“ Mit der russischen Sprache umzugehen, die heute mit Hass und Gewalt aufgeladen sei, ist für Stepanova eine große Herausforderung. Im März 2022 gehörte sie mit Vladimir Sorokin, Swetlana Alexijewitsch, Ljudmila Ulitzkaja und vielen anderen zu den Unterzeichnern eines Appells russischsprachiger Schriftsteller, innerhalb Russlands die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten. „Als Lyrikerin in dunklen Zeiten arbeite ich wie eine Minenentschärferin. Ich grabe die Sprache aus und säubere sie, versuche, ihr eine neue Existenz zu geben.“
(c) Suhrkamp Verlag
Bekannt geworden ist Maria Stepanova hierzulande zunächst als Romanautorin. Der Verlag annoncierte „Nach dem Gedächtnis“ (2018), die deutsche Übersetzung des ein Jahr zuvor im russischen Original erschienenen Buchs „Pamjati pamjati“ sogar als „Metaroman“ – tatsächlich hat Stepanova eine bestechende Form von Literatur erfunden, collagiert aus autobiografischer Erzählung, biografischer Forschung und kulturwissenschaftlichem Essay. Dazwischen spannt sie Lebenswelten auf wie ein riesiges Gemälde, mit perfekt ausgemalten Details einerseits und andererseits beschädigten, manchmal unlesbaren Stellen: „Ein diachrones Wimmelbild, das dem individuellen Schicksal einen übergreifenden Kontext gibt.“ (Barbara Villiger Heilig, Republik) Maria Stepanova hat ihr Buchprojekt mehr als 30 Jahre mit sich herumgetragen. Zunächst war es der Versuch, die Geschichte ihrer jüdisch-russischen Familienmitglieder zu bergen. „Kurios war dabei, dass meine Großmütter und -väter einen beträchtlichen Teil ihrer Energie darauf verwendet hatten, unsichtbar zu bleiben. Möglichst unauffällig zu werden, im häuslichen Dunkel unterzutauchen, sich abseits zu halten von der Weltgeschichte mit ihren überlebensgroßen Narrativen und ihrer Fehlertoleranz von ein paar Millionen Menschenleben.“ Stepanovas Roman ist da das genaue Gegenteil: Ihre assoziative, mehrdimensionale Schreibweise bedeutet einen Akt des Widerstands gegen Erinnerungsverbote und kollektiven Gedächtnisverlust. Um vom Leben der weitverzweigten Familie, allesamt „Untermieter“ der Geschichte wie ihre Urgroßmutter Sarra Ginsburg, erzählen zu können, erschafft Maria Stepanova einen Gedächtnisraum, in dem die Stimmen einer ganzen Epoche widerhallen und Dinge des privaten Lebens zu Exponaten eines Geistermuseums werden. „Hinfahren und nachsehen“, so formuliert es die Autorin einmal, das sei die ‚Grand tour’ einer neuen kollektiven Bewegung in ihrer Generation.
(c) Suhrkamp Verlag
Eine berühmte Autorin war Maria Stepanova schon lange vor dem Erfolg ihres ersten Prosawerks. Seit mehr als zwanzig Jahren hat sie die weltoffene Literaturszene Moskaus mitgeprägt und sich als produktive, experimentierfreudige Lyrikerin auch im angelsächsischen Raum einen Namen gemacht. Die drei Langgedichte des Bandes „Der Körper kehrt wieder“ (2020) loten mit epischem Atem die kollektive Geschichte der Sowjetunion aus, um Vergessenes und Verdrängtes heraufzuholen und den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. „Stepanova betätigt sich ein weiteres Mal als poetische Archäologin: Sie legt Verschüttetes frei, besichtigt Trümmer, setzt zusammen, was das verheerende 20. Jahrhundert auf seinen Schlachtfeldern hinterlassen hat, in der Hoffnung auf Wiederkehr des Unwiederbringlichen. Ein großes, geradezu utopisches Projekt, das die Autorin mit unbändiger Sprachkraft und unter Aufbietung ihrer immensen Belesenheit ins Werk setzt“, lobt Ilma Rakusa in der Neuen Zürcher Zeitung. Ein weiteres Mal schmiegt sich die Autorin an die Sprechweisen und Rhythmen anderer Dichterinnen und Dichter an – oder zitiert sie ironisch. Das Spektrum reicht von Puschkin und Alexander Blok über Goethe und Ezra Pound bis zu Inger Christensen. Dort, wo die 2009 gestorbene dänische Ausnahmedichterin in „Alphabet“ (1988) die Erschaffung der Welt in Sprache evoziert, beschwört Stepanova im titelgebenden Langgedicht „Der Körper kehrt wieder“ in einer Art Gegenbewegung die Reparatur der aus den Fugen geratenen Welt. Besonders beeindruckend mit seinem Feuerwerk an Metaphern, Neologismen und Wortspielen ist der dritte Zyklus des Bandes, „Krieg der Tiere und Untiere“, der bereits 2015 entstand – und mit visionären Sprachbildern auf die seit 2014 im Donbas tobenden Kämpfe reagiert. Im Gedicht unterläuft Stepanova jede Forderung nach Eindeutigkeit, lässt jeden Versuch der Machtausübung durch Sprache ins Absurde kippen: „es gibt keinen unterschied zwischen / erstem und zweitem / vaterländischem und vaterländischem / großem und stillem / atlantischem / globalem // so oder so fallen sie / alle im selben im einzigen bruder-, bürger- / wo das morgenrot aus der asche // speerspitzen klaubt“. Das blutige Schlachten wird als etwas sichtbar, das direkt am Körper ansetzt: „wie im frühjahr in wehrkommissionen / schlüsselbeine betastet werden und rücken / die stämmigen drahtigen haarigen werden genommen / ärztinnen prüfen und nicken“.
(c) Suhrkamp Verlag
In ihrem nun ausgezeichneten, erneut aus drei Zyklen bestehenden Gedichtband „Mädchen ohne Kleider“ (2022) setzt Maria Stepanova die „Reparatur des Lebens“ mit Mitteln der Poesie fort. Wobei ein weiteres Mal gilt, was die Autorin einmal mit Blick auf Ossip Mandelstam geschrieben hat: Dass das Gedicht „schwankend am Rand eines Abgrunds“ stehe, „zwischen Hoffnung und Urteil, Hinrichtung und Rettung“. Im titelgebenden ersten Zyklus ist das zufällig gefundene Foto einer nackten jungen Frau Anlass, die Kolonisierung des weiblichen Körpers als unendliche Geschichte männlicher Raubzüge darzustellen. Stepanova ruft die gängigen Metaphern und Topoi auf, die mit dem männlichen Blick auf den Körper verbunden sind – zugleich eine nur allzu oft geübte Praxis politischer und militärischer Gewalt. Auf die Zehnzeiler von „Mädchen ohne Kleider“ folgt mit „Kleider ohne uns“ ein sogenannter Sonettenkranz, der sich als poetisches Gegenstück zur Darstellung in Dienst genommener Frauenkörper entpuppt – eine Art Kulturgeschichte der Bekleidung, in der die Sterblichkeit des menschlichen Körpers evoziert wird. Für den im letzten Jahr verstorbenen Literaturkritiker Michael Braun bilden die drei Zyklen des Bandes „absolute Höhepunkte im aktuellen Stimmenkonzert der Weltpoesie“.
(c) Suhrkamp Verlag
Der Ausbruch der Covid-Pandemie setzte im März 2020 einem Aufenthalt Maria Stepanovas im englischen Cambridge ein Ende. Zurück in Russland, verbrachte sie die folgenden Monate in einem Zustand der Erstarrung: Es ist die Zeit der Zerschlagung der belarussischen Protestbewegung wie der russischen Zivilgesellschaft, die Zeit scheint eingefroren. „Heute“, sagt Maria Stepanova in einem Gespräch mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja, „erscheint mir die Einsamkeit, die Sorge, der Schrecken, die ich damals empfand, wie eine Art Ouvertüre – ein Prolog zu dem, was gegenwärtig in Europa geschieht.“ Das „Winterpoem 20/21“ (2023), das in seinem Originaltitel „Swjastschennaja sima“ auf ein patriotisches Kriegslied anspielt, das nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion populär war, spricht vom Winter und vom Krieg, von Verbannung und Exil, von sozialer Isolation und existenzieller Verlassenheit. Erneut verwebt Stepanova Dichter-Stimmen, die zu ihr sprechen, in einen polyphonen Chor: Von Ovid, dem Hausgott der Verbannten, in Ungnade gefallenen, auf den sich bereits Puschkin, Brodsky oder Mandelstam beriefen, bis zu chinesischen Versen und dänischen Märchen. Heute liest Maria Stepanova das „Winterpoem 20/21“ mit anderen Augen – der Krieg hat den Blick, mit dem sie auf eigene und fremde Texte schaut, verändert. Vieles im „Winterpoem“ ist plötzlich viel näher und konkreter als zum Zeitpunkt des Schreibens. Aber stärker ist noch ein anderes Moment: „Das Gefühl, dass wir… in einer plötzlich zäh gewordenen historischen Zeit feststecken und erst langsam, dann immer schneller rückwärts rutschen, zurück in die Vergangenheit, in archaische, statische Schichten, wo jedes Wort in der Luft gefriert.“ Ein Jahr nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine, der eben nicht rückstandslos in der Formel von ‚Putins Angriffskrieg’ aufgeht, stellt Stepanova in einem Essay für die F.A.Z. schmerzhafte Fragen: Der opferreiche Sieg gegen den Aggressor im Zweiten Weltkrieg, in Schulbüchern und Heldenbiografien tausendfach erzählt, war die einzige Erinnerung, die die Menschen in Russland wirklich verband. Nun ist das Land selbst zum brutalen Angreifer geworden, und alle seine Bürger gehören unabänderlich zur Gemeinschaft jener, die das getan haben. „Zu diesem wir zu gehören, ist qualvoll“, schreibt Maria Stepanova, „aber vielleicht ist es das Einzige, was derzeit Sinn hat: Das getane Böse muss ausgeglichen und der Ort, von dem es ausging, wieder bewohnbar gemacht werden, die Sprache, die es spricht, muss sich verändern. Vielleicht wird das Stigma, das schmerzhafte Zeichen der kollektiven Mittäterschaft eines Tages zu dem Punkt, an dem der Weg von einem blinden ‚Wir’ zu einer Gesellschaft der sehenden ‚Ichs’ beginnt. Bewerkstelligen lässt sich das nur von innen.“ Die vielstimmige Beschwörung der gefrorenen und langsam wieder auftauenden Zeit wäre ein Anfang.
Zur Person:
Maria Stepanova, geboren am 9. Juni 1972 in Moskau, studierte am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau. Von 2007 bis 2012 leitete sie die Internet-Zeitschrift OpenSpace.ru; darüber hinaus ist sie Mitgründerin und Redakteurin der über das aktuelle kulturelle Leben in Russland kritisch informierenden Internetplattform colta.ru. 2018/19 hatte sie die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Derzeit lebt und arbeitet sie als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie ist Autorin von mehr als einem Dutzend Lyrik- und Essaysammlungen sowie Trägerin mehrerer russischer und internationaler Literaturpreise, darunter der prestigeträchtige Andrej-Belyj-Preis und das Joseph Brodsky Foundation Fellowship. Für ihren Roman „Nach dem Gedächtnis“, der bislang in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, erhielt sie 2018 in Russland den Bolschaja-Kniga-Preis sowie 2020 in Deutschland, zusammen mit ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja, den Brücke Berlin Preis.
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