Grass, zum Letzten

Grass, zum Letzten

Der 87-jährige Nobelpreisträger hatte in den letzten Jahren seine öffentlichen Auftritte spürbar reduziert. Größere Exkursionen mied er möglichst ganz, denn das jahrzehntelange Pfeifenrauchen hatte seine Lunge ziemlich zugesetzt, sodass es ohne Sauerstoffmaschine kaum noch ging. Und damit ließ sich schlecht reisen. Als ich ihn dann aber fragte, ob er bereit wäre, den ersten Band der „Freipass“-Reihe, dem neuen Jahrbuch der Günter und Ute Grass Stiftung, während der Leipziger Buchmesse vorzustellen, wurde er ganz hellhörig. Mit der Veranstaltungsreihe verband er nur gute Erinnerungen: volle Säle bei den Lesungen aus seinen belletristischen Büchern des Steidl-Verlages, lebhafte Diskussionen zu den zeitgeschichtlichen Dokumentationen bei uns, darunter 2010 die Buchpremiere im Saal des Alten Rathauses zu seiner Stasi-Akte. Schließlich kamen wir überein, dass ihn ein Fahrer von uns zu Hause bei Lübeck abholte, die ganze Zeit in Leipzig begleitete und am Folgetag wieder nach Hause brachte. Dazwischen lagen zwei fulminante Auftritte: seine Lesung in der überfüllten Universitätsbibliothek Albertina und eine politisch scharfe Diskussion auf dem „Blauen Sofa“ des ZDF in der großen Glashalle der Messe vor mehr als 500 Zuhörern. Das war am 13. und 14. März 2015. Genau einen Monat später, am 13. April, verstarb er an einer Lungeninfektion. Die Lesung seiner zwölfseitigen Ballade „Netajis Weltreise“ bei Leipzig liest war sein letzter literarischer Auftritt. Für alle Beteiligte ein denkwürdiges Erlebnis.

Christoph Links, geboren 1954 in Caputh bei Potsdam, ist Verleger und Publizist. Der von ihm im Dezember 1989 gegründete Ch. Links Verlag war einer der ersten Independents, die nach Aufhebung der Zensur in der DDR die Arbeit aufnahmen.

Dämonen

Dämonen

Von allen Episoden jenes unvergesslichen Besuchs ist dies die unvergesslichste: Suhrkamp hatte mich eingeladen, auf dem legendären Blauen Sofa zu lesen. Danach gab es einen Empfang mit Wein. Unter solchen Umständen vergesse ich oft die Zeit und so kommt es, dass ich üblicherweise fast der letzte Gast bin, der weggeht. Plötzlich finde ich mich also ganz allein im nächtlichen Leipzig wieder, zu mitternächtlicher Stunde, in mir rauscht der Wein, ich habe mich verlaufen, es weht ein starker Wind und bläht die Schöße meines damals noch langen Mantels. Irgendwo von der Seite, aus der Dunkelheit, erreicht mich die heisere Stimme eines obdachlosen Greises: „Gehen Sie ins Büro?“ Es kommt mir vor, als wolle er mich veräppeln, also antworte ich wütend: „Nein, in die Hölle!” Er verzieht sich ängstlich. Vielleicht sehe ich wirklich irgendwie dämonisch aus – die Schöße meines Mantels, der entschlossene Gang, die wirren Haare. Fehlen der Huf, die Hörner, die Aureole. Erst als mir einfällt, dass diese Straßenbahnschienen zum Hauptbahnhof führen müssen, gelingt es mir, das Hotel zu finden.

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk, dem früheren galizischen Stanislau, gilt heute als Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Für seinen Roman „Zwölf Ringe“ (Suhrkamp 2005) wurde er 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. 2014 erschien der von Andruchowytsch herausgegebene Band Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“ (Suhrkamp).

Liebeserklärung

Liebeserklärung

Die Leipziger sind – und das auch in der DDR-Zeit – das beste, das hellhörigste, das reaktionsfähigste Publikum, das sicheiner, der vorliest, wünschen kann. Das heißt, ich habe nirgends lieber gelesen als in Leipzig.

Martin Walser, geboren am 24. März 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee – und hat seinen Geburtstag schon oft in der Messestadt gefeiert. Im zuletzt erschienenen Tagebuchband „Schreiben und Leben“ (Rowohlt 2014) finden sich auch Notate einer frühen Leipzig-Reise im März 1981.

Spaß haben auf der eigenen Party

Spaß haben auf der eigenen Party

Messe-Köpfe, Folge 1: Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse.

Wer sich fragt, was ein Buchmesse-Direktor eigentlich an den 361 messefreien Tagen im Jahr tut, sollte an eine Binsenweisheit erinnert werden: Nach der Messe ist vor der Messe. Jahr für Jahr gilt es, über 2000 Aussteller, hunderte Veranstaltungspartner, Autoren, Verleger, Buchhändler, Bibliothekare mit intelligent gebauten Programmen auf die Messe zu bringen. Das kostet Zeit. Und Kraft. „Wir arbeiten jetzt nicht nur auf Hochtouren an unseren Projekten für 2016, auch für die Folgejahre werden heute die Weichen gestellt.“ Im Schnitt hundert Tage ist Oliver Zille pro Jahr in dieser Mission auf Reisen – so wie gerade eben in Frankfurt. Auch hier jagt ein Termin den anderen, vom traditionellen Leipziger Buchmesseempfang bis zur Friedenspreisverleihung in der Paulskirche.

Harte Arbeit. Und Adrenalin

Alles Planen, Bedenken, Umstürzen und neu Denken verdichtet sich, keine Frage, in jenen vier prallgefüllten Buchmessetagen im März, wenn Leipzig zur temporären Hauptstadt der Literatur wird. Für nicht wenige, die hier leben, so etwas wie eine fünfte Jahreszeit. Auch Zille macht da keine Ausnahme. „Das ist“, erklärt er, „als würdest du ein Jahr lang eine Party vorbereiten – und plötzlich steigt sie. Du musst trainiert sein, damit sie dir auch Spaß macht.“ Der Terminkalender ist übervoll, oft scheint es, als besäße der Chef die Gabe der Multilokalität. Ein Trick? „Mein Adrenalinspiegel ist der entscheidende Kniff“, lacht Zille. Was so leicht ausschaut, erfordert harte und konzentrierte Vorbereitung. Das Trainingslager des Buchmesse-Direktors: Viel Sport, auch übers Jahr – im Sommer sieht man ihn auf dem Rad und mit Inlinern auf dem BMW-Gelände im Norden der Stadt, im Winter zieht er im Schwimmbad seine Bahnen.

Entschleunigung, bitte!

Und dann gibt es, zum Glück, ja noch die Bücher. Mittelosteuropa steht nicht nur im Fokus der Leipziger Buchmesse, sondern auch ganz oben auf der Lese-Agenda ihres Chefs. Kein Zufall: Als Kind besuchte er eine Russisch-Spezialschule, und zu DDR-Zeiten war Osten die einzige Himmelsrichtung, in die man einiger Maßen barrierefrei reisen konnte. Wenn es die Zeit erlaubt, reist der Vielflieger Zille auf den Flügeln der Phantasie, ganz ohne Dienstverpflichtung. Wobei: Perfekt trennen lässt sich das eine vom andern ja nie: Eines seiner intensivsten Leseerlebnisse der letzten Jahre war die Lektüre von Saša Stanišićs Roman „Vor dem Fest“. 2014 konnte er dem Autor unter der Glashallenkuppel zum Preis der Leipziger Buchmesse gratulieren (http://www.preis-der-leipziger-buchmesse.de/de/Preistraeger/Archiv/2014). Eben liegt die „Anleitung zum Gehen“ von Edo Popovic (http://www.randomhouse.de/Buch/Anleitung-zum-Gehen/Edo-Popovic/e352223.rhd) auf seinem Nachttisch. Keiner der üblichen Ratgeber, sondern ein poetisch-philosophischer Essay, in dem der kroatische Autor sich mit unserem fatalen Drang zu Selbstoptimierung und Leben auf der Überholspur auseinandersetzt. In seinem persönlichen Umfeld arbeitet Zille eher an Entschleunigung: Auf Facebook, Twitter & Co wird man ihn nicht treffen. Auf ein gutes Gespräch schon.

Alles auf Anfang

Für Oliver Zille war die Wende ein Glücksfall. Bis in den aufregenden Herbst 1989 verlief sein Leben unspektakulär gradlinig: Kaufmännische Lehre bei den Leipziger Außenhandelsbetrieben, zu denen auch Buchexport und die Messe gehörten, Studium der Außenwirtschaft an der Hochschule für Ökonomie in Berlin, der erste Job als persönlicher Referent des Generaldirektors der Leipziger Messe. Als die Universalmesse in Nachwendezeiten in einzelne Fachmessen umgebaut wurde, bekam Zille seine Chance als Projektleiter bei der Buchmesse. „Eigentlich war damals alles auf Null gestellt“, sagt er heute. „Aber ich hatte Ehrgeiz und Willen, mir ein Arbeitsgebiet zu schaffen.“ Learning by doing: Zille volontiert in München, bei Hugendubel, Droemer Knaur, dem Deutschen Taschenbuchverlag; aus den Kontakten zu Branchenköpfen wie Rudolf Frankl (dtv) oder „BuchMarkt“-Chef Christian von Zittwitz, die Wissen und Kontakte bereitwillig weitergeben, sind längst Freundschaften geworden. In den Führungsetagen der großen Buchhandelsfirmen ist man Leipzig gegenüber aufgeschlossen und neugierig – an die Chance einer zweiten deutschen Buchmesse glaubt indes kaum einer. Zille schon. „Mit langem Atem und guten Ideen können wir es schaffen“, davon ist er überzeugt. Heute gehen einem solche Sätze leicht über die Lippen. Doch Anfang der 90er Jahre sucht nicht nur die Leipziger Buchmesse ihren Platz, auch Zille ist ein Suchender. Soll er, wie viele seiner Generation, in den Westen gehen, dort neu durchstarten? Es ist der erfahrene Messe-Doyen Kurt Schoop, Interimsgeschäftsführer in Leipzig, der ihn zum Bleiben bewegt. „Sie kriegen Ihre Chance, machen Sie!“ Zille ist wenig älter als 30, als er 1993 seine erste Buchmesse leitet. Mit dem Umzug aufs neue Messegelände wird fünf Jahre später ein weiteres, spannendes Buchmesse-Kapitel aufgeschlagen.

Team-Player

Worin sieht Zille die größten Herausforderungen für die Zukunft? „Es muss uns gelingen, den Wandel in der Branche so produktiv mitzugestalten, dass wir für unsere Kunden unverzichtbar bleiben – auch wenn mit der Digitalisierung neue Geschäftsmodelle entstehen, mit Autoren oder Selfpublishern neue Zielgruppen relevant werden oder sich das Lese- und Kaufverhalten der Menschen ändert.“ Herausforderungen, die sich, von Peking bis Guadalajara, rund um den Erdball stellen – weshalb die 1994 von Peter Weidhaas initiierte Internationale Konferenz der Buchmesse-Direktoren (http://www.boersenblatt.net/artikel-11.__conference_of_international_bookfairs_.804160.html) für Zilles eigenes „Buchmesseleben“ eminent wichtig ist. Seit 1998 ist er Mitglied in diesem Kreis – und auch hier haben sich langjährige Freundschaften entwickelt, so etwa zu Joel Makow, dem Direktor der Buchmesse Jerusalem. Der Austausch mit den Kollegen aus Paris, Prag, Bukarest, Bologna oder New York weitet den Blick. Das Gelingen der eigenen Veranstaltung, weiß Zille, steht und fällt mit einer guten Mannschaft. Die ist in Leipzig über die Jahre mit der Messe gewachsen – und hier sind die Qualitäten des Direktors als Team-Player gefragt. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht in der Administration versinke, sondern auch inhaltlich arbeite.“ Die eben gegründete Arbeitsgruppe, die sich um die Integration von jungen Start-ups in den Buchmesse-Kosmos kümmert, leitet der Chef selbst. „In solchen Projekten lade ich meine Batterien wieder auf.“

Der Goldene Nagel

Im letzten Sommer wurde die Etage, in der das Buchmesseteam seit dem Umzug vor die Tore der Stadt arbeitet, komplett umgebaut. Bessere Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter und Praktikanten; nach fast 20 Jahren brauchte die stetig gewachsene Mannschaft einfach mehr Platz. Beim schweißtreibenden Umräumen und Sichten der Materialberge aus 25 Buchmesse-Jahren muss viel gelacht worden sein. Unter den Fundstücken manch Kurioses, auch jene selbst gebastelte Auszeichnung, die die Messe-Praktikanten spontan ihrem Chef überreichten, als der 2010 mit der „Goldenen Nadel“ des Börsenvereins (http://www.boersenverein.de/de/403748) , einer der höchsten Auszeichnungen des Branchenverbands, zurückkehrte. Zu Hause haben sie Oliver Zille ganz einfach den „Goldenen Nagel“ in die Bürowand geschlagen. Der dazugehörige Sinnspruch: „Leipzig mag’s größer!“

Oliver Zille, 1960 in Leipzig geboren, absolvierte ein Außenwirtschaftsstudium an der Hochschule für Ökonomie in Berlin. Ab 1991 zeichnete er als Projektleiter in der Leipziger Messe für die Bereiche Buch, Medien, Druck und Papier sowie Aus- und Weiterbildung verantwortlich. Seit 1993 leitet er die Leipziger Buchmesse sowie die angeschlossenen Teilmessen und Kongresse, seit 2004 ist er Mitglied der Geschäftsleitung der Leipziger Messe GmbH und Direktor der Leipziger Buchmesse. Oliver Zille ist verheiratet; er hat einen 24jährigen Sohn und eine 22jährige Tochter.

Frl. Ursula

Frl. Ursula

Die schönste Lesung hatte ich 2003 zusammen mit Helmut Krausser im Einrichtungshaus smow, wo wir „Frl. Ursula“, den letzten Roman unseres im Jahr zuvor tödlich verunglückten Freundes Heiner Link vorstellten. Das Buch hatte zu diesem Zeitpunkt noch kaum Aufmerksamkeit bekommen. Wir rechneten deshalb nicht mit großem Andrang. Doch als wir ankamen, war das smow schon über und über voll mit Zuhörern. Dafür, dass es keine traurige, sondern eine sehr komische Lesung wurde, sorgte Heiners Text, ein Sittenbild der Vorstadt voll haarsträubender Nachbarschaftserotik. Die Leipziger Volkszeitung schrieb: „Liebe und Verführung sind manchmal ganz schöne Irrtümer, bisweilen aber auch kurzweilig und charmant. Ein hübsches Buch. ,Ich wär’ froh, wenn Sie’s sich besorgen’, sagt Oswald.“ Die Leute sind unserem Rat gefolgt, und ein Jahr später hat sogar Elke Heidenreich den Roman besprochen, sodass er am Ende noch ein Bestseller wurde. Dass er unter einem günstigen Stern stand, spürten wir schon im smow.

Georg M. Oswald, geboren 1963 im oberbayrischen Weßling, arbeitete nach seinem Jurastudium als Rechtsanwalt und Autor in München. Zuletzt legte er den inzwischen verfilmten Roman „Unter Feinden“ (Piper 2012) vor. 2013 übernahm Oswald die Leitung des Berlin Verlags.