„Die Zukunft liegt in unserer Hand!“

„Die Zukunft liegt in unserer Hand!“

Politik gilt vielen Jugendlichen eher als unsexy. Wie sind Sie mit dem sperrigen Thema in Berührung gekommen?

June Tomiak: Ich wurde relativ spät, Ende der neunten Klasse, als Klassensprecherin an meiner Schule in Charlottenburg-Wilmersdorf gewählt und habe dann praktisch alles auf einmal gemacht: Ich bin von meiner Schule in den Bezirk delegiert worden, und war dann auch im Vorstand des Landesschülerausschusses. Also, quasi alles einmal im Schnelldurchlauf – ich fand das total spannend.

Was hat Sie besonders interessiert?

Tomiak: Alles Mögliche! Wir haben in Berlin zum Beispiel große Probleme mit dem baulichen Zustand der Schulen, es gibt da einen regelrechten Sanierungsstau. Und was für mich eine große Rolle gespielt hat: Ich wollte mitentscheiden, wie mein Schulalltag aussieht. Angefangen von der Frage, wie ich meine Pausenzeiten verbringe, bis hin zur Diskussion über Handyverbote. Alle technischen Geräte sollten nur noch unter Aufsicht benutzt werden, das fand ich ziemlich daneben!

Sie hatten das Gefühl, als Sprecherin etwas tun, sich einbringen zu können? Wurden Sie ernst genommen?

Tomiak: Ich habe mitbekommen, dass man Dinge verändern kann. Das war eine Erkenntnis, die mich stark geprägt hat. Geärgert hat mich der generöse Ton mancher Politiker, in der Art: Die Jungen haben ja ganz hübsche Ideen, aber jetzt lasst uns doch mal wieder zur Tagesordnung übergehen…

Das hat sie herausgefordert? Sie wollten mehr?

Tomiak: Absolut. Ich war zeitweilig schon frustriert, dass es so gut wie keine jungen Leute in der Politik gibt. Aber immer nur meckern geht halt nicht. Irgendwann muss man auch machen!

Wann fiel dieser Entschluss konkret?

Tomiak: Ich habe im Sommer 2015 Abitur gemacht; die Listenaufstellung der Grünen war im März. Ende 2015 bin ich in die Partei eingetreten, davor war ich drei Jahre Mitglied der Grünen Jugend. Dann fiel der Entschluss, bei den „Großen“ mitmachen zu wollen. Das ist noch mal ein anderer Schnack, als nur in Schülergremien oder Jugendorganisationen unterwegs zu sein.

Da geht es auch um vermeintliche Pfründe. Wie sind Ihnen die etablierten Parteimitglieder begegnet, die zum Teil seit Jahren an ihren Themen arbeiten?

Tomiak: Ich wurde sehr gut aufgenommen. Aber es konnte mir natürlich vorher niemand sagen, ob das klappt oder nicht. Die Grünen wählen ihre Liste ja basisdemokratisch; das heißt, jedes Parteimitglied in Berlin konnte zur Aufstellungsversammlung kommen. Am Ende waren über 1000 Leute im Kino „International“ an der Karl-Marx-Allee… Ich habe meine Rede gehalten, und bis zu dem Moment, wo die Stimm-Ergebnisse angezeigt wurden, war nicht klar, ob ich den Saal überzeugen konnte.

Wie hat sich Ihr Leben seither verändert? Wie sieht ein normaler Arbeitstag für Sie aus?

Tomiak: Wir haben einen Zwei-Wochen-Rhythmus, mit den Plenarsitzungen und den Ausschüssen, in denen ich fest vertreten bin. Dazwischen läuft klassische Parlamentsarbeit: Ich schreibe Anfragen, ich mache Pressearbeit. Ich bin relativ viel auf Social Media unterwegs, ich möchte meine Arbeit damit transparent machen.

Ausschussarbeit – das klingt ein wenig nach Langeweile und den Mühen der Ebene…

Tomiak: Das kommt stark aufs Thema an. Und darauf, was man draus macht. Ich sitze im Innenausschuss, im Verfassungsschutzausschuss, im Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie. Und bin jetzt gewählt worden in den Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Breitscheidtplatz. Ich findet das hoch spannend, zu sehen: Wie wirkt sich das, was wir da zu Papier bringen, eigentlich auf die Menschen aus?

Werden Sie von den älteren Kolleginnen und Kollegen aus anderen Parteien ernst genommen?

Tomiak: Ich glaube, man muss als junger Mensch doppelt so professionell sein, um ernst genommen zu werden – speziell als junge Frau! Am Anfang wurde ich öfter für die neue Praktikantin der Grünen gehalten (lacht). Klar hat das auch viel mit unsere Vorstellungen von Politik und Politikern zu tun: Da bediene ich sicher nicht das klassische Bild. Mittlerweile passieren die Verwechslungen nicht mehr so häufig, ich habe mir offensichtlich Respekt über meine inhaltliche Arbeit verschafft.

Jugendliche interessieren sich wieder deutlich mehr für Politik, stehen den politischen Parteien und Institutionen aber äußerst skeptisch gegenüber. Woher kommt dieses Misstrauen?

Tomiak: Junge Menschen haben eine komplett andere Lebensrealität als Angehörige des Politikbetriebs, selbst wenn diese, was selten genug vorkommt, zwischen 30 und 40 Jahre alt sind. Wir sind mit dem Internet aufgewachsen, haben ein völlig anderes Verständnis davon, wie wir uns organisieren oder miteinander leben wollen. Wenn man allein in so eine „ältere“ Struktur reingeht, kann das sehr abschreckend wirken. Die Jungen sind auf keinen Fall desinteressiert – aber die Idee, sich für einen Kreisverband oder auf Stadtteilebene für eine Partei zu engagieren, ist für jemanden, der quasi in eine grenzenlose Welt hineingewachsen ist, nicht mehr so attraktiv. In eine Partei zu gehen, sozusagen für das ganze Paket zu unterschreiben, ist für viele der Jungen keine Option. Sie engagieren sich für konkrete Themen, unterschreiben dafür Petitionen, gehen sogar auf die Straße. Aber die klassischen Parteien gelten ihnen als schwerfällige Tanker, die wenig Attraktivität ausstrahlen.

Was machen Sie, um junge Menschen nicht komplett zu verlieren?

Tomiak: Es sind kleine Schritte. Ich gehe oft auf Schulpodien oder lade Klassen ins Abgeordnetenhaus ein. Dann gibt’s eine Führung, und später reden wir darüber, wie das so läuft im Parlament. Ich bemühe mich, mit den Jugendlichen in ihrer Sprache zu sprechen, ganz unabgehoben.

Für viele ist das vermutlich schon eine halbe Sensation?

Tomiak: Stimmt. Sie sind es nicht gewohnt, einer Politikerin zu begegnen, die wie sie auf Instagram unterwegs ist oder zu Hause Netflix schaut. Allein diese vergleichbare Lebensrealität sorgt dafür, dass das Klischeebild vom abgehobenen, weltfremden Politiker in Teilen korrigiert wird. In vielen Punkten haben junge Leute eine ähnliche Auffassung: Für die meisten ist etwa Umweltschutz wichtig, auch wenn beileibe nicht alle grün wählen würden. Wir haben nur die eine Erde, warum halten wir uns damit noch auf? Das ist für viele junge Leute Konsens, wir sind da qua Generation schneller beieinander als die alten Parteien – auch wenn viele noch gar nicht für sich realisieren, dass sie sich hier schon auf politischem Feld bewegen.

Was wäre zu tun, dass die Jungen der Politik nicht entgleiten?

Tomiak: Es geht hier ja nicht nur darum, inwieweit sich Jugendliche abstrakt von unserer Demokratie repräsentiert fühlen. Es ist sehr konkret: Wir, die Jungen, werden die sein, die die Folgen nicht erreichter Klimaziele ausbaden müssen. Wir müssen mit den Konsequenzen heute getroffener Entscheidungen leben. Soziale Gerechtigkeit ist ein Punkt, die älter werdende Gesellschaft ein anderer. Viele Probleme wurden sehr lange verdrängt, irgendwann wird das auf uns niederprasseln. Wie es gelingt, die jungen Leute abzuholen? Ich habe kein Patentrezept. Aber es geht sicher darum, in einen Dialog zu kommen, der offen und ehrlich geführt wird. Letztlich liegt die Zukunft in unserer Hand.

Sie sind seit Ende 2016 im Berliner Parlament – hat der Job sie verändert?

Tomiak: Man merkt es an Kleinigkeiten. Wenn ich mit Freunden abends noch mal was Trinken gegangen bin, habe ich früher oft gesagt: OK, wird schon, auch wenn ich morgen früh zeitig raus muss. Das habe ich mir mittlerweile abgewöhnt. Verkatert in Sitzungen – das funktioniert nicht so gut (lacht). Ich gehe allerdings mit vielen Dingen in meinem Alltag entspannter um, weil ich gemerkt habe, dass ich das ganz gut managen kann.

Die Legislatur dauert fünf Jahre. Haben sie ein spezielles Ziel auf Ihrer Agenda, das sie in dieser Zeit erreichen wollen?

Tomiak: Nebenbei studiere ich weiter. Ich werde wohl nicht innerhalb der Regelstudienzeit abschließen, finde diese Herausforderung aber total wichtig für mich.

Auch weil das Studium ein Stück normales Leben ist?

Tomiak: Wenn ich in einer Projektarbeit sitze und sage, dass ich jetzt los muss, weil ich einen Termin beim Polizeipräsidenten habe, ist das schon grenzwertig (lacht). Aber man kann damit umgehen.

Sind sie vor Reden noch aufgeregt?

Tomiak: Es wird besser. Ganz ohne Lampenfieber geht es nicht ab. Aber das ist auch gut so.


Foto: Ben Groß

June Tomiak [www.junetomiak.de] geboren am 8. Februar 1997 in Berlin, wuchs in einer Patchwork- und Regenbogenfamilie im Wedding auf. 2015 legte sie ihr Abitur am Berliner Gottfried-Keller-Gymnasium ab. Von 2013 bis 2015 war sie in verschiedenen Funktionen im Landesschülerausschuss aktiv. Sie gehört der Grünen Jugend seit 2012 und Bündnis 90/Die Grünen seit 2016 an. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin wurde sie 2016 über die Landesliste gewählt; sie ist die jüngste Abgeordnete der 18. Wahlperiode. June Tomiak ist Sprecherin ihrer Fraktion für Jugend und für Strategien gegen Rechtsextremismus. Neben ihrer Tätigkeit im Abgeordnetenhaus studiert Tomiak Kultur und Technik mit Schwerpunkt Philosophie an der TU Berlin.

Nicht meckern – machen! Damit sich auch der Nachwuchs aktiv in die Politik einmischt und eine offene Diskussionskultur lebt, veranstaltet die Leipziger Buchmesse in diesem Jahr im Rahmen des Schwerpunkts Fokus Bildung erstmals das Forum Politik und Medienbildung. Gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung [https://www.bpb.de] und den Non-Profit-Organisationen Helliwood [http://www.helliwood.de] und TINCON [https://tincon.org] gibt die Buchmesse mit jungen Formaten Einblick in Themen wie Zivilcourage, demokratische Bildung oder Digitalisierung. Neben Podiumsdiskussionen und Lesungen, einem digitalen Lernlabor oder einem „Democracy Slam“ wird June Tomiak, die jüngste Parlamentarierin Deutschlands, einen Talk über ihre politische Arbeit halten (16. März, 11.30 Uhr, Forum Politik und Medienbildung, Halle 2, D 310/C 311).

Deutscher Lehrertag 2018

Deutscher Lehrertag 2018

Die Bundessprecherin Kerstin Ruthenschröer vom Jungen Verband Bildung und Erziehung (Junger VBE) studierte Primarstufe an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und absolvierte ihr Referendariat am heutigen Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Rheine. Sechs Jahre war sie als Vertretungslehrkraft tätig und ist heute Konrektorin an einer Grundschule im Kreis Steinfurt. Zudem fungiert sie als Personalrätin im ÖPR Steinfurt und im Bezirkspersonalrat für Grundschulen in Münster. Zum Deutschen Lehrertag 2018 ist sie Teil des neuen Programms speziell für Junglehrer.

Der Deutsche Lehrertag 2018 bietet erstmals ein großes Angebot speziell für Junglehrer an. Warum ist es Ihrer Meinung nach besonders wichtig, gerade angehende und junge Lehrkräfte als kompetenter Ansprechpartner zu unterstützen?

In den letzten Jahren hat sich das Lehramtsstudium weiterentwickelt. In vielen Bundesländern wurde das Praxissemester eingeführt, um den Studenten mehr Praxiserfahrung während des Studiums zu bieten. Im Gegenzug wurden aber viele Vorbereitungsdienste auf 18 Monate oder noch weniger gekürzt. Durch Gespräche mit Studenten, Lehramtsanwärtern und Junglehrern wissen wir, dass viele wichtige Bestandteile des Lehrerdaseins immer noch zu wenig oder gar nicht in der Lehrausbildung behandelt werden.

Mit unserem Angebot auf dem Deutschen Lehrertag 2018 möchten wir unseren Kollegen die Möglichkeit geben, erste wichtige Impulse in Thematiken wie zum Beispiel „Classroommanagement“ oder „Unterrichtsstörungen“ zu bekommen.

Was bewegt ihrer Meinung nach die Junglehrer derzeit? Was sind ihre Bedürfnisse?

Zurzeit beschäftigen sich viele Junglehrer mit dem Thema Lehrermangel. Die Einstellungschancen sind gut, jedoch oftmals an eine direkte Abordnung geknüpft. Innerhalb der Bundesländer werden vorrangig die Schulen besetzt, die einen sehr hohen Lehrermangel aufweisen, oftmals sind dies Gebiete mit Brennpunktschulen. Des Weiteren machen wir Junglehrer uns Sorgen um die Qualität unseres Berufes. Immer mehr Seiteneinsteiger werden eingestellt. Der Junge VBE fordert die Qualität der Ausbildung weiterzuentwickeln, gerade in Zeiten des Lehrermangels gilt dies nicht nur für das Lehramtsstudium und den Vorbereitungsdienst, sondern auch für die Qualifizierung der Seiteneinsteiger.

Ein großes Bedürfnis der Junglehrer ist die gleichwertige Anerkennung der verschiedenen Lehrämter. Dies trägt auch zur Attraktivität der Lehrerberufe bei. Mit Besorgnis schauen wir zurzeit auf NRW. Dort machen sich die Junglehrer Sorgen über die angedachte Besoldung im Grundschul- und Sek I-Bereich. Die Besoldungsangleichung an die anderen Lehrämter ist längst überfällig und völlig gerechtfertigt, allerdings soll sie nur für die neu ausgebildeten Lehrer kommen.

Besonders in der recht fordernden Referandariatszeit kommen bei angehenden Lehrern oft Selbstzweifel auf. Der bekannte Bildungsforscher John Hattie meint, dass ein guter Lehrer der Schlüssel für einen Lernerfolg ist. Was macht einen guten Lehrer aus?

Ein guter Lehrer bringt vielfältige Kompetenzen mit: Er zeigt sich im Umgang mit Kindern und Jugendlichen geduldig, nahbar und setzt dennoch deutliche Grenzen. Er ist methodisch und didaktisch in der Lage, seine Schüler zu fördern und zu fordern. Er akzeptiert seine Schüler und unterstützt sie in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und Selbstständigkeit. Es braucht eine gute Atmosphäre, um gut lernen, lehren und leben zu können. Hier trägt neben den Schülern auch der Lehrer eine entscheidende Verantwortung. Neben der Arbeit mit den Schülern zeichnet sich für mich ein guter Lehrer auch in seiner Teamfähigkeit und Kooperation mit seinen Kollegen aus.

Was kann die Bildungspolitik tun, um Junglehrer dabei zu unterstützen, gute Lehrer zu werden? Und was können Junglehrer selber tun, um als gute Lehrer Lernerfolge bei ihren Schülern zu generieren?

Die Bildungspolitik sollte darauf achten, dass das Studium viele Praxiselemente enthält, die im späteren Berufsleben unabdingbar sind. Hier nur zwei Beispiele: Wie führe ich Elterngespräche? Wie stelle ich die Lernvoraussetzungen von Schülern fest? Junglehrer sollten offen für Neues sein und vor allem eigeninitiativ Fort- und Weiterbildungen besuchen, um ihre Kompetenzen zu erweitern. Das Wichtigste ist jedoch, die Schüler stets als individuelle Lerner zu sehen. Jeder Schüler lernt und begreift anders. Es benötigt eine gute Differenzierung, um alle Schüler zu erreichen.

Prof. Dr. Jens Weidner von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg wird mit dem Thema „Zeit für Veränderungen – Mehr Optimismus wagen“ den Deutschen Lehrertag eröffnen. Wie können gerade Junglehrer ihrem neuen Lehreralltag in der fordernden Zeit des Referendariats mit Optimismus begegnen?

Das Referendariat ist für viele angehende Lehrer eine enorme Belastung und bringt viele an ihre Grenzen. Manchmal zermürbt es einen, wenn trotz guter und intensiver Vorbereitungen, die Unterrichtsstunde nicht so verläuft wie geplant, Schüler nicht mitarbeiten oder Eltern sich beschweren. Um den Optimismus in solchen Situationen nicht zu verlieren, hilft es, den Blick auf seine Schüler zu richten. Die meisten von ihnen geben einem sehr viel zurück, in denen sie Lernerfolge erzielen, auch wenn sie manchmal noch so klein sind. Dies zeigt einem, warum man Lehrer werden möchte und bestärkt einem in der Berufswahl. Genauso wichtig ist ein gutes Team im Kollegium, das unterstützt und berät.

Sie werden im Rahmen des Angebots für Junglehrer zum Deutschen Lehrertag 2018 einen Workshop für alle Schulformen zum Thema Störungen im Unterricht anbieten. Warum haben Sie sich für das Thema Unterrichtsstörungen entschieden?

Während des Studiums lernt man nur sehr wenig über Unterrichtsstörungen, wie sie entstehen und zu beheben sind. Meistens lernt man während der Praktika und im Vorbereitungsdienst verschiedene Regelsysteme mit den verbundenen Konsequenzen bzw. Maßnahmen bei Verstößen oder Verstärkersysteme kennen. In meinem Workshop lege ich den Fokus auf das eigene Lehrerverhalten. Ich möchte dafür sensibilisieren, dass wir Lehrkräfte mit unserem Lehrerverhalten bereits einiges an Störungen vermeiden und beheben können.

Würden Sie sagen, dass Unterrichtsstörungen entscheidend vom Lehrerverhalten abhängen oder spielen hierbei auch andere Faktoren eine Rolle?

Unterrichtsstörungen können vom Lehrerverhalten abhängen. Es gibt aber viele weitere Faktoren, die wir mit unserem Verhalten als Lehrer nicht beeinflussen können. Deshalb ist es wichtig, bei Unterrichtsstörungen die Situation immer ganzheitlich zu betrachten: Welche Rolle spielt der „Störende“, welche Rolle spielen die anderen Schüler, welche Rolle spiele ich als Lehrer und welche Rolle spielt mein Unterricht?

Ein zweiter Workshop behandelt das Thema Klassenleitung, eine große Herausforderung für Junglehrer. Wie kann die Aufgabe der Klassenleitung Ihrer Meinung nach einerseits engagiert angenommen und andererseits dennoch Überlastung vermieden werden?

Dies ist eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt im Lehrerberuf. Wenn wir die Klassentür schließen oder nach Hause fahren, ist die Tätigkeit nicht beendet. Wir nehmen sie mit nach Hause. Um eine Überlastung zu vermeiden, ist eine hohe Disziplin erforderlich. Ich muss es schaffen, den Blick auf mich selber zu richten. Das bedeutet, dass ich mir bestenfalls klare Arbeits- und Ruhezeiten setze. Des Weiteren sollten wir als Lehrer stets unsere Profession im Auge behalten und erkennen, wann es an der Zeit ist, außerschulische Hilfe für Schüler in Anspruch zu nehmen. Auch dies kann und muss uns entlasten.

Was würden Sie sich persönlich für die Zukunft der Ausbildung angehender Lehrkräfte wünschen?

In Zukunft sollte die Lehrerausbildung ein gutes Gleichgewicht zwischen Fachwissenschaft, Methodik, Didaktik und Praxiselementen erzielen. Dies würde die Qualität der Lehrerausbildung verbessern und Lehrer gut auf ihren Beruf vorbereiten. Die Übergänge zwischen den Ausbildungsphasen sollten sinnvoll verzahnt sein, um Leerläufe und Abbrüche zu verhindern. Für die jungen Menschen muss zudem die berufliche Mobilität, der Wechsel zwischen den Bundesländern innerhalb ihrer Ausbildung, vereinfacht werden.

Neuer Ort für junge Literatur

Neuer Ort für junge Literatur

Fast dreißig Jahre ist es her, dass die Friedliche Revolution das Gesicht Leipzigs veränderte. Mit dem Fall der Mauer kamen unzählige Bagger und Bauleute zum Einsatz. Haus für Haus erstand in neuem Glanz. Trotz dieser Glanzleistung öffnet noch immer Jahr für Jahr ein neues Schmuckstück seine Tore. Seit September 2017 schmückt der Kupfersaal im „Dresdner Hof“ das Leipziger Stadtbild und bietet einen glänzenden Rahmen für den Großen Leipzig liest-Abend der Leipziger Buchmesse am 15. März mit der britischen Bestsellerautorin Jojo Moyes.

Der Dresdner Hof wurde 1912/13 als Messehaus von Architekt Alfred Stentzler konzipiert und erbaut. Der große zentrale Saal im Gebäude wurde lange als Bier-, Konzert- und Speisewirtschaft unter dem Namen „Naumann-Bräu“ mit 1.000 Sitzplätzen bewirtschaftet und beherbergte später unter anderem das Leipziger Kabarett „Akademixer“. Mit dem neu eröffneten Kupfersaal, der bis zu 560 Gäste fasst, steht der Buch- und Musikstadt ein neuer Ort für Kultur zur Verfügung. Das verdanken die Leipziger und ihre Gäste zwei Vereinen, die den Saal als Hauptspielstätten nutzen: Livelyrix e. V. und Philharmonie Leipzig.

Lebendige Inszenierungen zeitgenössischer Literatur

Bereits im Jahr 2005 gründeten sächsische Verleger, Autoren und Literaturveranstalter den gemeinnützigen Verein Livelyrix e.V.. „Wir wollten insbesondere zeitgenössische Literatur lebendig, vielfältig und immer wieder neuartig inszenieren und eine breite Öffentlichkeit in den Veranstaltungsprozess einer freien Literaturszene einbinden“, erklärt Elisabeth Jaspersen vom Vorstand des Vereins. Livelyrix veranstaltet vor diesem Hintergrund seit mehr als zehn Jahren Lesungen, Poetry Slams und Literatur-Shows in Leipzig, die auf immer größeren Zuspruch beim Publikum stießen. Darüber hinaus begleitet und veranstaltet der Verein seit Jahren einzelne Solo-Künstler. „Dafür haben wir in der Vergangenheit immer wieder neue Räumlichkeiten gesucht und mit vielen tollen Partnern bzw. Veranstaltungshäusern und Locations zusammengearbeitet“, so Elisabeth Jaspersen, die zugleich Geschäftsführerin des Kupfersaals ist. „Mit dem Kupfersaal haben wir nun die Möglichkeit, viele unserer Veranstaltungen in einer eigenen Spielstätte zu vereinen.“ Der Vorteil: Die zwei unterschiedlichen Bühnen bieten eine große Flexibilität für konzentrierte Lesungen oder große Bühnen-Literatur-Show. „So können wir Künstler von ihrem ersten Solo-Auftritt bis hin zu einer ausverkauften Show vor mehreren hundert Zuschauern begleiten, was uns bei unserer Vereinsarbeit und Künstlerbetreuung sehr am Herzen liegt“, betont das Vorstandsmitglied des Vereins.

Überwältigende Resonanz

Und die Wahrscheinlichkeit, dass sogar der große Saal ausverkauft ist, scheint groß zu sein. Elisabeth Jaspersen äußert sich im Gespräch begeistert über die „nahezu überwältigende und positive Resonanz sowie den großen Zuspruch“, den das Haus in dem halben Jahr seit seiner Eröffnung für Veranstaltungen und das Gesamtprogramm erfahren hat. Viele Künstler, mit denen der Verein teilweise schon seit Jahren arbeitet, haben im Vorfeld die Strapazen einer fast zweijährigen Vorbereitungs- und Planungszeit für die Spielstätte verfolgt. „Sie haben geduldig darauf gewartet, dass wir ihnen endlich Termine in unserer eigenen Spielstätte anbieten können“, so die Geschäftsführerin. „Für dieses Vertrauen sind wir überaus dankbar! Das gilt übrigens auch für unser Publikum: Immer wieder mussten wir mit einzelnen Veranstaltungen aus finanziellen oder aus Platzgründen ‚umziehen’ – jetzt haben wir endlich einen Ort, an dem unser Publikum sich wohl fühlen kann und der sich ausgezeichnet für unsere Veranstaltungen eignet.“

Mit dem Kupfersaal hat nicht nur die Literaturszene in Leipzig eine neue Bühne erhalten. Auch die Musikstadt wird um eine Spielstätte ergänzt. Neben der Philharmonie Leipzig nutzen klassische Ensemble, Jazzcombos oder Singer/Songwriter den Kupfersaal. Seit Januar hat das Team um Elisabeth Jaspersen sein Programm um ausgesuchte Veranstaltungen für Kinder und Familien sowie Konzerte aus dem Indie- und Popbereich erweitert. Ab April werden Shows aus dem Bereich Wissenschaft/Infotainment dazu kommen.

Fürs Lesen begeistern

Fürs Lesen begeistern

Die 5000-Seelen-Gemeinde Zschorlau, eingebettet in die sanften Hügel des Westerzgebirges rund fünf Kilometer südlich von Aue gelegen, hat nicht nur ein Schaubergwerk und regelmäßige Passionsspiele zu bieten. Hier in der sächsischen Provinz, wo man in langen Wintern eventuell mehr Muße zur Lektüre findet als anderswo, ist die 20-köpfige Jugendjury des Leipziger Lesekompass zu Hause.

Lesescouts als Juroren

Die Vorgeschichte reicht bis in den Herbst 2006 zurück: Damals bewarb sich Marion Merdon, Lehrererin für Deutsch und Englisch an der Oberschule Zschorlau, für das Projekt Lesescouts, das die Stiftung Lesen gemeinsam mit dem Sächsischen Kultusministerium ausgeschrieben hatte. Die Idee der Lesescouts: Schülerinnen und Schüler sollen Gleichaltrige fürs Lesen begeistern. Nicht nur die Kids, denen die Lesescouts Bücher nahebringen, profitieren von dem Projekt – auch die Scouts selbst wachsen über sich hinaus: „Wir haben über die Jahre eine Schulbibliothek mit rund 600 Büchern und Hör-CDs aufgebaut, wir haben Lesefeste mit Vorlesewettbewerben begleitet. Im Rahmen des Projekts werden diverse Workshops angeboten, das reicht von Rhetorik über Körpersprache bis zum Poetry Slam und den Umgang mit digitalen Medien“, erzählt Marion Merdon. „Dort lernen die Lesescouts etwa, wie sie einen Kurzfilm zu ihrem Lieblingsbuch erstellen oder Apps bei der Gestaltung ihrer Aktionen sinnvoll einbeziehen können. Und für mich als Lehrerein ist es toll, meine Schüler mal von einer ganz anderen Seite erleben zu können.“

Auf Augenhöhe mit den Erwachsenen

2012 wurde Marion Merdon von der Stiftung Lesen angefragt, ob ihre Zschorlauer Lesescouts sich vorstellen könnten, als Jugendjury an der Auswahl des Leipziger Lesekompass in der Kategorie für Kinder von zehn bis 14 Jahren mitzuarbeiten. Keine Frage, erinnert sich Merdon: „Die Kids waren Feuer und Flamme.“ Für die meisten ist es ein irres Gefühl, auf Augenhöhe mit Erwachsenen in einer Jury zu sitzen, ein Buch als Erster zu lesen. Und so ist es geblieben, auch wenn seitdem immer wieder neue interessierte Fünft- oder Sechstklässler zur Gruppe stoßen. „Manche sind schon Lesescouts, manche kommen vom Neigungskurs Deutsch, manchmal schlagen meine Fachkollegen jemanden vor, das ist ganz bunt gemischt. Am Ende besteht die Jury aus 20 Kindern im Alter von zehn bis 14 Jahren.“ Jedes Jahr Ende November kommt ein großes Paket mit den 20 von der Stiftung Lesen vorausgewählten Titeln. In den dank vieler Klassenarbeiten stressigen Tagen bis zu den Weihnachtsferien müssen die jungen Juroren ihre Lese-Arbeit geschafft haben, Bewertungsbögen werden ausgefüllt, Merdon meldet dann die Zschorlauer Top-Ten-Liste nach Mainz. „Manche unserer Juroren ist schon nach zwei, drei Tagen mit seinem Titel ‚durch’, denen kann ich dann noch ein anderes Buch geben, so dass wir hier und da auch eine Doppel- oder Dreifach-Meinung haben. Und ich habe regelrechte Spezialistinnen für Hör-CDs. Auch so kann man sich Literatur erschließen.“

Taxi nach Leipzig

Ein Highlight für die jungen Juroren ist Jahr für Jahr die Reise zur Leipziger Buchmesse. „In den letzten Jahren bin ich immer mit acht Scouts gefahren, so viel passen ins Taxi nach Leipzig“, lacht Merdon. Um Viertel vor Neun trifft man sich mit den erwachsenen Juroren und Buchmesse-Direktor Oliver Zille zum Frühstück, am Vormittag steigt das Lampenfieber dann auf Spitzenwerte, den bei der Preisverleihung im Forum Kinder – Jugend – Bildung bittet der Moderator, logisch, auch die Lesescouts aus Zschorlau auf die Bühne. In diesem Jahr gibt es eine Premiere: Die Oberschule Zschorlau hat den Buchmesse-Besuch als „pädagogischen Tag“ ausgeschrieben, statt Taxi kommt man in Bussen – bei der Preisverleihung werden rund 80 Schülerinnen und Schüler aus dem Westerzgebirge dabei sein. Beste Werbung für die Zukunft: Um Juroren-Nachwuchs muss es Marion Merdon nicht bang sein.

Bereits zum siebten Mal zeichnet der Leipziger Lesekompass Kinder- und Jugendbücher aus, die Lesespaß mit kreativen Ansätzen der Leseförderung verbinden. Ausgewählt werden sie von einer Jury aus unabhängigen Fachleuten der Bereiche Kita, Schule, Bibliothek und Buchhandel, aber auch von jugendlichen Lesern und Bloggern. Prämiert werden jeweils Neuerscheinungen, die im Zeitraum zwischen zwei Leipziger Buchmessen erschienen sind.

Die Preisverleihung findet am Messedonnerstag, 15.3.2018, im Forum Kinder-Jugend-Bildung (Halle 2, A 401) statt. Anschließend werden die Bücher in einer Ausstellung zum Leipziger Lesekompass 2018 (Halle 2, B 401) vorgestellt und laden zum Stöbern ein. Verschiedene Workshops für Lehrer, Erzieher, Bibliothekare, Buchhändler und Eltern ergänzen das Preissiegel.

Zeit für Veränderung

Zeit für Veränderung

Forscher haben die deutsche Jugend lange mit wenig schmeichelhaften Attributen belegt – sie sei desinteressiert, unpolitisch, extrem pragmatisch, eine Mischung aus „Null Bock“ und Hedonismus. Wer nun fürchtet, selber wie ein nörgelnder Vertreter der Früher-war-alles-besser-Fraktion zu klingen, sollte sich schleunigst mit Jonathan Funke verabreden. Funke, ein ziemlich sympathischer Schlacks mit verstrubbelter Mähne und ansteckendem Lachen, scheint das totale Gegenbeispiel zur Legende von der Null-Bock-Generation zu sein. 2016 hat der heute 21jährige Berliner auf der ersten TINCON zusammen mit weiteren Mitstreitern eine junge digitale Menschenrechtscharta vorgestellt. Das Festival, eine Art Jugendversion der re:publica, das Menschen zwischen 13 und 21 ein Forum geben will, war der passende Ort für eine gründlich aufgebohrte Version 2.0 der Menschenrechte – aus jugendlicher Sicht. „Nach dem Zweiten Weltkrieg“, erklärt Funke, „hat sich die Weltgemeinschaft neue Regeln gegeben, um ein Leben in Frieden und Wohlstand zu sichern. Das hat meistens echt gut geklappt. Doch jetzt stehen wir am Anfang einer neuen Ära! Heute verdienen einzelne Konzerne mehr als ganze Länder; wir können schneller mit Menschen aus Pakistan reden als beim Jugendamt eine Wartenummer bekommen. Da braucht es neue Regeln!“

Die Schwarm-Intelligenz der Digital Natives

Foto: privat

Angestoßen von der ZEIT-Stiftung und dem Bucerius Lab entwickelte ein halbes Dutzend junger Leute eine eigene Jugend-Charta digitaler Grundrechte. Weitgehend in Eigen-Regie wurde recherchiert und formuliert, die Themen waren breit gefächert und reichten von Transparenz und Netzneutralität bis zum Recht, offline zu sein oder der Forderung nach Abschaffung der Störerhaftung. Inspiriert vom Engagement der Jugendlichen und ebenfalls von der ZEIT-Stiftung gefördert, haben Wissenschaftler, Politiker, Publizisten und digitale Vordenker – von Martin Schulz bis zu Sascha Lobo und Juli Zeh – inzwischen eine Digital-Charta erarbeitet, die dem EU-Parlament in Brüssel und der Öffentlichkeit zur weiteren Diskussion übergeben wurde. Anders als von manchen Kritikern geargwöhnt, ist die „Charta“ kein mediales Strohfeuer geblieben – die Debatte geht weiter. Für Jonathan Funke sollte dieser Prozess Schule machen: „Ich glaube, es gibt in der Bevölkerung für fast jedes Problem intelligente Lösungsansätze, zumindest die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. Die Politik sollte sich mehr um diese Schwarm-Intelligenz kümmern.“

Mehr Partizipation wagen!

Ein junger Mann, der die Welt, wie sie ist, nicht für die bestmögliche, sondern für veränderbar hält – das macht neugierig. Fragt man ihn, wie sein politisches Engagement gewachsen ist, landet man ziemlich rasch beim Schülerparlament im Rathaus von Charlottenburg-Wilmersdorf. Mit gerade einmal 12 Jahren war er dort jüngstes Vorstandsmitglied. Die Debatten drehten sich um die Qualität des Schulessens, schlechtes Toilettenpapier oder das Hundekot-Problem im Kietz. Nichts Weltbewegendes also, könnte man meinen. Doch wenn man erlebt, wie man echte Bezirks-Parlamentarier auf Trab bringt, indem man sich ernsthaft hinter eine Sache klemmt, ist das für einen Heranwachsenden, so formuliert es Funke, eine enorme „Selbstwirksamkeits-Erfahrung“. Im Alltag, gerade an den Schulen, sei das leider nicht die Regel: „Eigentlich müssten solche Partizipations-Möglichkeiten viel stärker in die Bildung integriert werden. Zumal es, dank der Digitalisierung, so einfach ist wie noch nie!“

Fairer Handel kommt von handeln

Foto: privat

In den reichlich zweieinhalb Jahren seit dem Abitur hat Jonathan Funke in einer Bäckerei gearbeitet, ist durch Indien gereist und in Umweltschutz- und Menschenrechts-Initiativen aktiv geworden. Und er hat Fragen gestellt, die in hippen Berliner Latte-Macchiato-Stuben und Mode-Boutiquen eher selten aufploppen: Wieso landet vom Entgelt für diesen leckeren Espresso, für dieses coole T-Shirt nur ein Prozent bei denen, die den Kaffee angebaut und gepflückt, die Kleidung genäht haben? Erfahrungen, die in der Gründung eines Sozial-Startups mündeten: Tip Me will aus einer jahrhundertealten Tradition, die auf allen Kontinenten gelebt wird, ein Werkzeug der globalen Umverteilung machen – aus dem alltäglichen Trinkgeld wird das globale Trinkgeld. „Es ist unser Ziel, die Lieferkette von möglichst vielen Produkten fairer und transparenter zu gestalten. Wenn es uns gelingt, engagierte Kunden zu überzeugen, können wir mit unserer Software den Lohn der Produzenten auf einen Schlag verdoppeln.“ Derzeit laufen Gespräche mit Versandhändlern und Supermarktketten – aufgeklärte Konsumenten sorgen für den nötigen sanften Druck.

„Hälfte Arbeit, Hälfte Acker“

Foto: privat

Es ist kein Zufall, dass wir Jonathan Funke in den Büroräumen von Tandemploy treffen. Gute Freunde haben das alternative Jobsharing-Startup gegründet – und auch Jonathan interessiert sich seit längerem für die Zukunft der Arbeit. In seinen Augen sind es vor allem zwei Gruppen von Berufstätigen, auf denen Veränderungsdruck lastet: Die ganz jungen, die frisch auf den Arbeitsmarkt drängen und sich nirgends richtig wiederfinden. Und die alten Hasen, die schon ewig dabei sind, alles gesehen haben – aber keine echte Erfüllung mehr spüren. Funkes Projekt Stadt, Land, Flow („Hälfte Arbeit, Hälfte Acker!“) will Handwerk und Kopfarbeit in die Balance bringen, Grün und Grau versöhnen – auf der Suche nach dem schönen Leben. Die Tische im Büro hat er mit den Leuten von Tandemploy selbst gebaut; die Experten für flexible Arbeit, die natürlich ein Näschen für Trends haben, sponsern Funkes Büroplatz und haben beim Programmieren der Website geholfen. Sehr gut möglich, dass aus dieser lockeren Kooperation mehr wird – denn die Zeiten haben sich geändert: Wer heute am Anfang seines Berufslebens steht, hat ein anderes Wertesystem als die Eltern, weiß Funke: „Das Reihenhaus, das große Auto, die regelmäßigen Fernreisen machen mich nicht glücklich, wenn ich dafür 70, 80 Stunden die Woche schuften muss. Da nehme ich mir lieber Zeit für Dinge und Menschen, die mir wichtig sind.“

Jugend in die Parlamente?

Führt man sich vor Augen, dass der Altersdurchschnitt im Bundestag heute bei knapp 50 liegt – also noch über dem der Gesamtbevölkerung: Sollte einer wie Jonathan Funke nicht ernst machen – und hauptberuflich in die Politik gehen? Funke, der sehr fein zwischen politischem Engagement und Parteipolitik unterscheidet, fürchtet, dass man in der Filterblase des Berufspolitikers geradezu zwangsläufig Distanz zum Leben der „normalen“ Menschen entwickelt. „Wenn man nur chauffiert wird, kann man sich nicht mehr vorstellen wie sich das anfühlt, wenn in abgehängten Provinz-Gemeinden kein Bus mehr kommt.“ Treffer versenkt. Aber: Muss es nicht irgendwer einmal anders, besser machen? Jonathan Funke lacht: „OK, vielleicht kommt das ja noch. Mir liegt am Herzen, dass sich gesamtgesellschaftlich etwas verändert. Es ist gut und wichtig, wenn jemand der Oma von gegenüber die Einkaufstüten hochträgt. Aber wenn die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten kann, hat das auch nicht viel gebracht.“