Als Orte, an denen das literarische Feld summt und brummt, sind Literaturhäuser einst erfunden worden. Nun liegen sie meist im Dornröschenschlaf. Auch am Literarischen Colloquium Berlin (LCB) wird dieser Tage, pandemiebedingt, wieder zwangsentschleunigt im Homeoffice gearbeitet, findet Programm vor allem digital statt. An einem Freitag im März tut sich jedoch etwas im großen Veranstaltungssaal, in dem man durchs weit geöffnete Fenster den Wannsee im Blick hat: An sieben weit entfernt voneinander stehenden Tischen sitzen sieben Damen und Herren vor Kalt- und Heißgetränken, in Griffweite Notizkladden, Tabletts, Bücherstapel und ein wenig Knabberei gegen Unterzuckerung. Ein Gesprächsballett, eine Performance? Alles falsch. Es ist die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, die hier tagt – nicht als virtuelle Gruppe von Talking Heads am Bildschirm, sondern ganz real, physisch, im richtigen Leben. Ein wunderbarer Moment; analog haben sich die meisten Kritikerkolleginnen und –kollegen über Monate nicht mehr gesehen. Allerdings: „Keiner von uns konnte sich vorstellen, wie man eine zehnstündige Jurydiskussion online stattfinden lassen kann“, sagt Jury-Vorsitzender Jens Bisky. „Wir halten alle Maßnahmen ein, die empfohlen werden und vernünftig sind – von Distanz und Dauerlüftung bis zu vorherigen Tests. Trotz der großen Abstände zwischen den Tischen ist es wie immer: spannend und anstrengend“. Und am Ende, lacht Bisky „gibt’s ein Ergebnis!“
In diesen Tagen ist die Live-Sitzung eher die Ausnahme. Fast alle Mitglieder der Leipziger Buchpreis-Jury sind auch in anderen Preis-Gremien engagiert. Andreas Platthaus hat in den letzten zwölf Monaten analoge wie virtuelle Formate erlebt. Für den F.A.Z.-Literaturchef ist es keine Frage, „dass die Präsenz-Jurysitzungen die weit angenehmeren, informativeren und spannenderen“ sind. Dass die „Sehnsucht nach echten Begegnungen“ wächst, bestätigt auch Anne-Dore Krohn, Literaturredakteurin bei RBB Kultur. „Beim Walter Serner Preis für Kurzgeschichten haben wir unsere Gastjurorin Kathrin Passig aus Schottland zugeschaltet“, erzählt Krohn. „Auch die Preisverleihung hat im Netz stattgefunden, inklusive Barmusik und gemeinsamem Bier.“ Für Katrin Schumacher, Literaturchefin von MDR Kultur, ist die physische Jurysitzung konkurrenzlos: „Irgendwann kommt der Punkt, wo man sich mit Haut und Haar ins Zeug werfen muss für das, was man gut findet und nominiert sehen möchte.“ Für Schumacher, die der Leipziger Buchpreis-Jury zum dritten Mal angehört, ist die gemeinsame Arbeit ein schönes „Trainingscamp“, eine „Schule des Lesens und der Kritik“ auf sehr hohem Niveau, die sie nicht missen möchte. Auch Jury-Arbeit ist vor allem: Arbeit. Doch es ist eine, die alle sieben Jurorinnen und Juroren partout nicht missen wollen: „Sich aussetzen. Kopfüber hineintauchen. Lesen, bis einem die Sätze aus den Ohren rauskommen. So tief wie es nur geht in die Gegenwartsliteratur hineinspringen“ – plastischer als Anne-Dore Krohn kann man es kaum beschreiben: „Bücher sind wie Lebensabschnittsgefährten, man verbringt sehr intensive Stunden miteinander. Durch die Juryarbeit fühle ich mich literarisch gerade so promisk wie lange nicht.“
Ohne Frage hat die seit über einem Jahr währende Pandemie auch die Arbeit der Literaturredakteure und –kritikerinnen verändert. Als die Leipziger Buchmesse im März 2020 abgesagt werden musste, hat etwa MDR Kultur sein gesamtes Bühnenprogramm innerhalb einer Woche in ein digitales Studioprogramm für die gesamte ARD umgeplant: „Wir haben zum allerersten Mal Livestream-Bewegtbild aus einem Radiostudio produziert“, erinnert sich Katrin Schumacher, die damals Non-stop durchmoderierte. Doch als am 15. März alles vorbei war, hörte sie fast schlagartig auf zu lesen; für eine Frau mit ihrem Job eine Grenzerfahrung. „Viele haben im ersten Lockdown gemerkt, dass Lektüre ein Schutzraum sein kann. Bei mir war es genau andersrum: Ich war so beschäftigt mit dem, was da gerade passierte – auch mit mir passierte! – dass ich mich partout nicht auf Bücher fokussieren konnte. Die Zeit, in der alles heruntergefahren wurde, war bei mir eine quasi lesefreie Zeit.“ Längst liegt die hinter ihr. Als im Dezember letzten Jahres die Liste der fast 400 für den Preis der Leipziger Buchmesse eingereichten Titel aufschlug, war die Lust am Lesen so groß wie eh und je.
Egal, ob die Kritikerinnen und Kritiker nun für elektronische oder Printmedien arbeiten – sie haben kaum weniger, eher mehr zu tun als vorher. Andreas Platthaus redigiert die Literaturseiten der F.A.Z. in der Regel vom heimischen Schreibtisch aus, mit der Redaktionsmannschaft über tägliche Videokonferenzen verbunden. Auch Anne-Dore Krohn sendet und arbeitet meistens von zuhause: „Ein Vorteil des Radios ist ja, dass man nicht hört, ob jemand gerade eine Schlafanzughose trägt und das Kind drei Meter daneben mit Kopfhörern ‚Checker Tobi’ guckt. Es ist alles kreativer und lockerer geworden durch die Pandemie, auch bei unseren Konferenzen quaken halt ab und zu Kinder dazwischen oder man geht zur Tür, um ein Paket anzunehmen.“ Als überall im Land Lesereisen gestrichen wurden, hat RBB Kultur eine Kooperation mit dem LCB begonnen, „weiter lesen“ heißt die Sendung. „Das war erst nur als vorübergehende Ersatz-Lesebühne gedacht“, erzählt Krohn, „ist inzwischen aber ein regelmäßiger Podcast geworden. „Hier führen wir jede Woche Gespräche mit Autorinnen und Autoren über ihre aktuellen Bücher, zuletzt mit T.C. Boyle, Ursula Krechel, Dmitrij Kapitelman oder Bernardine Evaristo.“ Was fehlt, ist das „unmittelbare Gespräch“ mit Freunden oder Kollegen, für Andreas Platthaus „eines der zentralen Elemente der Wahrnehmung von Literatur“. Doch auch, wenn er sich in diesen Tagen am Schreibtisch „ein wenig einsamer als nötig“ fühlt, sieht Jens Bisky keinen Grund zur Klage: „Kritikerinnen und Kritiker haben in dieser Pandemie wohl die geringsten Probleme. Da gibt es andere, die vor viel größeren Herausforderungen stehen.“
Während gerade die ersten Mund-Nase-Bedeckungen in TV-Krimis auftauchen, fragt man sich natürlich: Hat sich Corona auch in die allerneueste Literatur eingeschrieben, in die Bücher, die der Leipziger Jury vorliegen? Immerhin bilden sie eine spannende Momentaufnahme des literarischen Lebens der Republik. Über konkrete Titel darf, logisch, kein Sterbenswörtchen verlauten. Doch es ist kein Geheimnis: Ein paar Antworten auf die Pandemie gibt es, vor allem im Sachbuchbereich. Und auch in der Belletristik haben einige Autorinnen und Autoren das Thema beackert. „Wir sind allerdings noch viel zu sehr mitten im Geschehen, um richtig zu begreifen, was vor sich geht“, sagt Jens Bisky. „Auf den großen ‚Wende-Roman’ hat man auch lange gewartet“, ergänzt Katrin Schumacher. „Literatur darf sich Zeit nehmen.“ Das findet auch Anne-Dore Krohn: Den besten Roman über die Napoleonischen Kriege hat wohl Tolstoi geschrieben, mit ‚Krieg und Frieden’. Und das war 30 Jahre später.“
Anders als klassische Literaturfestivals ist „Leipzig liest“ als Marketing-Verstärker für den Messeauftritt der Verlage gebaut. Jedem Aussteller steht die Teilnahme am Programm offen. Das verlangt Organisatoren wie hunderten literaturbegeisterten Helfern in der Stadt logistische Höchstleistungen ab – und macht „Leipzig liest“ so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher selbst. Natürlich ist das Lesefest mediales Großereignis und Teil der Event-Kultur rund ums Buch. Doch lautes Trommeln und leise Töne schließen sich nicht aus – die Mischung macht’s!
In Leipzig geben sich internationale Star-Autoren ein Stelldichein mit ihren Kollegen aus den vermeintlich „kleineren“ Sprachräumen an Europas Rändern. Top-Journalisten und Bücher schreibende Politiker treffen auf Pop-Größen wie die „Ärzte“ oder „Wir sind Helden“, während Juli Zeh oder Lokal-Matador Clemens Meyer ein paar Straßen weiter in überfüllten Sälen auftreten. Leipziger Nächte lassen die Grenze zwischen „Leben“ und „Lesen“, über die im Feuilleton gern räsoniert wird, ganz einfach vergessen. Gerade junge Autoren und Verlage, die heute noch als Geheimtipp gelten, punkten bei „Leipzig liest“ mit originellen Veranstaltungsformaten in ausgefallenen Locations.
Viele von denen, die der „Langen Leipziger Lesenacht“ (L3) in der Moritzbastei oder Auftritten junger Dichter in Clubs mit so exotischen Namen wie Das Kapital, Horns Erben oder Laden für Nichts gebannt folgen, sind keine passionierten Buchkäufer. Noch nicht? Wer die Jungen erreichen will, muss ihre von Facebook, Instagram & Co geprägten Erlebniswelten ernst nehmen und – wie „Leipzig liest“ – Mut zum Experiment aufbringen: Beim Democracy Slam, den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) mit der Leipziger Buchmesse organisiert hat, entwickeln Kinder und Jugendliche unter Anleitung erfahrener Slammer eigene Texte, die sich um Gerechtigkeit, Diversität, aber auch Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit drehen. In einem digitalen Lernlabor können sich die Kids als Medienmacher erproben – hier ist nicht nur ihre Stimme, sondern ihre Story gefragt.
Und auch viele Kinder- und Jugendbuchverlage nutzen „Leipzig liest“, um ihre Klientel auf unkonventionelle Weise für sich zu gewinnen. Kids und Teens sollen Bücher uncool finden? In Leipzig lauschen sie mit glänzenden Augen, wenn Kirsten Boie, Ingo Siegner, Franziska Gehm oder Gerda Raidt lesen und zeichnen. Sie fotografieren ihre Helden per Handy, tragen stolz selbstgeschriebene Geschichten vor oder versuchen sich an eigenen Mangas. Keine Parallelwelten, sondern zwei Seiten einer Buchmesse-Medaille.
Mit zuletzt mehr als 3600 Veranstaltungen an 550 Orten und 3400 beteiligten Akteuren blickt Europas größtes Lesefest heute auf eine Erfolgsgeschichte ohne gleichen zurück. Viele Ideen und Initiativen der Literaturvermittlung haben von Leipzig aus ihren Weg in den gesamten deutschsprachigen Raum genommen. Die im Frühjahr 2001 gestartete, eindeutiger auf Lesen als Event setzende LitCologne oder die 2009 im Rahmen der Frankfurter Buchmesse aus der Taufe gehobenen „Open Books“ sind nur zwei Beispiele von vielen. Dem Original hat die Konkurrenz nicht geschadet – im Gegenteil.
Im 28. Jahrgang präsentiert sich „Leipzig liest“ so frisch wie am ersten Tag. Zu klassischen Formaten wie den „Jüdischen Lebenswelten“ gesellten mit den Jahren neue Spielorte: Vom Forum Die Unabhängigen über das Café Europa oder der Lesebühne junger Verlage in den Messehallen bis zur L3-Lesung in der Moritzbastei.
Mit der liebevoll sanierten Kongresshalle am Zoo ist ein phantastischer Spielort für große Events hinzugekommen – Karten für den seit 2016 ins Programm genommenen Leipzig liest Abend sind in der Regel rasch ausverkauft. Seit 2010 gibt es auf dem Messegelände ums Musik-Café Klang-Quartier den konzertierten Auftritt von Musikverlagen – in der Stadt der berühmten Komponisten und Kapellmeister beinahe ein Muss.
Von Leipzig lernen heißt siegen lernen? Auch in der Messestadt an der Pleiße bewegt man sich, wie überall, auf dem schmalen Grat zwischen Kostendruck und Innovationszwang. Eingeführte Reihen müssen qualitativ ausgebaut, neue entwickelt werden. Die Messe und ihr Lesefest wollen den Markt nicht nur abbilden, sondern vorausschauend neue Themenfelder entwickeln. Dass in Leipzig am Ende Autoren und Inhalte im Mittelpunkt stehen werden, dürfte bei der Neugier, Leidenschaft und Leselust seiner Bürger so sicher sein wie das Amen in der Nikolaikirche.
Als im März 1990, nur wenige Monate nach dem Mauerfall, in der Alten Börse die Leipziger Buchmesse – damals noch als Teil der Frühjahrsmesse – eröffnet wurde, hatte sich die deutsch-deutsche Bücherlandschaft, quasi über Nacht, radikal verwandelt. Westverlage drängten mit Macht auf den Ostmarkt, der planwirtschaftlich organisierte ostdeutsche Buchhandel wurde wie im Zeitraffer in die Marktwirtschaft gestoßen. Nicht wenige prognostizierten in dieser Situation das Aus für die zweite, kleinere deutsche Buchmesse. Hatte die Parole nicht jahrzehntelang „Go West!“ gelautet? Die erste eigenständige Leipziger Buchmesse nach der Wende, zu der im April 1991 nur rund 25.000 Besucher kamen, schien den Skeptikern Recht zu geben.
In diese Situation fällt die Geburtsstunde von „Leipzig liest“. Als Geburtshelfer, wenn nicht „Erfinder“ des Lesemarathons an der Pleiße gilt Theo Schäfer, umtriebiger Pressesprecher des Bertelsmann Clubs, später Unternehmenssprecher von Random House in München. Der in der Branche bestens vernetzte PR-Mann wollte das damals verbreitete Wort von den „blühenden Landschaften“ offenbar ernst nehmen. Mit organisatorischer Hilfe von Stadt und Messe ging das Prestige-Projekt des Clubs im Mai 1992 erstmals an den Start: 80 Autoren lasen in 160 Veranstaltung – von Bildermuseum und Auerbachs Keller bis zu heute schon legendenumwobenen Schauplätzen: in Peter Hinkes „Connewitzer“ etwa, damals noch als „letzte Buchhandlung vor dem Wahnsinn“ in der Messehofpassage firmierend, in den kanonenofenbefeuerten Werkstatträumen der Galerie Eigen+Art, im Café Maitre oder dem 1990 gegründeten ersten Bio-Laden der Noch-DDR. Das Unternehmen schlug ein: Die Buchmesse verzeichnete ein sattes Besucherplus von 46 Prozent; bei „Leipzig liest“ wurden 16.000 Besucher gezählt – an die 1000 Menschen strömten allein zu Günter Grass, der in Speck’s Hof aus seiner Erzählung „Unkenrufe“ las.
Was „Leipzig liest“ betraf, waren solche nicht nötig. Bereits im Herbst 1992 begannen die Planungen für den zweiten Jahrgang, der im Juni des Folgejahres über die Bühne gehen sollte. Der Bertelsmann Club wurde dabei von Messe, Kommune, Börsenverein und den teilnehmenden Verlagen unterstützt; das junge Lesefest war auf gutem Weg, zu einer echten Gemeinschaftsaktion zu werden. 1993 – inzwischen leuchtete das eigene Logo auf Flyern und Plakaten – standen 220 Veranstaltungen zu Buche. Eine Dimension, die für alle Beteiligten die Grenze des Machbaren darzustellen schien. Sie zeigte indes auch, das „Leipzig liest“ längst zu einem „Kommunikationsbedürfnis“ (Theo Schäfer) geworden war. Die fortan im Jahresrhythmus beteuerte Absicht, das Programm begrenzen, „gesundschrumpfen“, irgendwie kanalisieren zu wollen, wurde noch jedes Mal von den schieren Zahlen überrollt. „Leipzig liest“ schien zum Selbstläufer geworden zu sein. Doch noch war die Haltung vieler deutschsprachiger Verlage zur zweiten deutschen Buchmesse schwankend.
Der Umzug der Buchmesse vor die Tore der Stadt geriet 1998 auch zur Bewährungsprobe für „Leipzig liest“. Als das City-Biotop gegen die gläsernen Weiten der neuen Hallen eingetauscht werden sollte, mischten sich skeptische Stimmen in den Chor der Umzugs-Visionäre: Waren am Markt nicht Messetreiben und Alltagsleben, Buch und Stadt immer in eins gefallen? Was würde nun kommen? Das Literatur-Raumschiff auf der grünen Wiese? Leipzig hat bewiesen, dass man neue Wege beschreiten kann, ohne Bewährtes aufzugeben. Im siebten Jahr, das gemeinhin als verflixtes gilt, wuchs „Leipzig liest“ erneut, von 480 auf mehr als 700 Veranstaltungen, die nun zu fast gleichen Teilen auf dem Leipziger Messegelände und in der Stadt über die Bühne gingen. Am gedruckten Veranstaltungsprogramm jener Tage lässt sich das oft beschworene „Wunder von Leipzig“ greifbar machen: Das anfängliche Faltblatt war inzwischen zu einem veritablen 250-Seiten-Wälzer angeschwollen.
Die beinahe symbiotische Verbindung, die die Messe und ihr Lesefest seit den frühen Neunzigern eingegangen waren, schien noch enger geworden – doch immer wieder tauchten auch Fragezeichen hinter der Finanzierung von „Leipzig liest“ auf; die Branchenmisere der Jahre nach 9/11 hatte um die alte Buchstadt keinen Bogen gemacht. Im September 2003 verabschiedete die Messe GmbH mit ihren bisherigen Kooperationspartnern Bertelsmann Club, Stadt Leipzig, Börsenverein, MDR und dem neu hinzugekommenen Leipziger Kuratorium „Haus des Buches“ eine grundsätzliche Verpflichtung, welche die Zukunft von „Leipzig liest“ langfristig sicherte: Fortan sollte die Leipziger Messe die Organisation des Lesefests übernehmen, die konkreten Investitionen jedes Jahr neu abgesteckt werden. Der Weg für die Weiterentwicklung einer lebendigen, leserorientierten Buchmesse mit „Leipzig liest“ als Zugpferd war frei.
2019 feiern 286.000 Besucher in Leipzig das Wort in all seinen Facetten. Mit 2547 Ausstellern aus 46 Ländern erweist sich die Buchmesse einmal mehr als Impulsgeber für das Branchenjahr. Regelmäßig finden dazu auch Sonderveranstaltungen ihren Platz wie im Dreijahres-Rhythmus der Deutsche Bibliothekskongress. Bereits 1995 wurde die Antiquariatsmesse in die Leipziger Buchmesse integriert; zum ersten Mal fanden damit alte Bücher, Graphik und Autographen ihren Platz in einer Neubuchmesse. 2014 hatte – ebenfalls parallel zur Buchmesse – die Manga Comic Convention (MCC) Premiere, die im sechsten Jahr 104.000 begeisterte Besucher anzog.
Der Preis der Leipziger Buchmesse, seit 2005 mit Unterstützung des Freistaats Sachsen und der Stadt Leipzig vergeben, ist Leipzig liest auf den Leib geschneidert und sticht aus der üblichen Betriebs-Routine heraus. Die Messe verdankt der Verleihung in der Glashalle in schöner Regelmäßigkeit die schönsten Momente. Längst gehört der mit insgesamt 45.000 Euro dotierte Preis zu den richtungweisenden literarischen Auszeichnungen in Deutschland.
Gelesen, so die traditionell von Leipzig ausgehende Botschaft, wird immer. Ob elektronisch oder gedruckt, scheint manchem nur eine Frage der Darreichungsform. Nach der Buchmesse ist vor der Buchmesse: Eingeführte Themenschwerpunkte wollen qualitativ ausgebaut, neue entwickelt werden. Angesichts einer sich radikal verändernden Branche bleibt die Messe ihrer Strategie treu, den Markt nicht nur abzubilden, sondern vorausschauend in neue Themenfelder zu investieren. Auf diese Weise bleibt sie für ihre Kunden unverzichtbar – auch wenn mit der Digitalisierung neue Geschäftsmodelle entstehen, mit Autoren und Selfpublishern neue Zielgruppen relevant werden oder sich das Lese- und Kaufverhalten der Menschen ändert.
Sie sind im niedersächsischen Großburgwedel bei Hannover aufgewachsen; Wikipedia verzeichnet dort zwar Dirk Roßmann, Gründer der gleichnamigen Drogeriemarktkette, Christian Wulff oder den Fußballer Steven Cherundolo – aber nicht Ingo Siegner, den Schöpfer des kleinen Drachen Kokosnuss. Wurmt Sie das?
Ingo Siegner: Da muss ich wohl mal hingehen (lacht). Nein, das sehe ich gelassen. Das hat mit meinem alltäglichen Leben nichts zu tun …
Sie gelten als der Mann mit den drei Berufen: Kinderbuchautor, Zeichner, Vorleser. Es heißt zwar „im Anfang war das Wort“ – bei Ihnen war es aber das gesprochene Wort, oder?
Siegner: Ich wurde durch meine jüngeren Geschwister zum Vorleser. Ich habe die Szenen dann meist ein bisschen theatralisch ausgeschmückt, mit verstellter Stimme gelesen. Das waren die Ursprünge, so mit zehn, zwölf Jahren.
Und wie kamen Sie zum Zeichnen?
Siegner: Das war etwas später. Als Jugendlicher habe ich gern Comics abgezeichnet. Das waren vor allem Asterix und Obelix. Ich war überrascht, dass ich das gut hinbekam. Das Zeichnen hat mich dann begleitet, von der Geburtstags-Einladung bis zum Party-Flyer unserer Studenten-WG. Da hieß es meist: „Ingo, kannst du die Einladung zeichnen?“ So ist das, über viele Jahre, langsam gewachsen.
Beruflich ging es aber erst in eine andere Richtung. Sie haben eine Lehre zum Sparkassenkaufmann absolviert, später studiert und als Kinderbetreuer gejobbt. Wie kam es zu Ihrem Coming-out als freier Künstler?
Siegner: Ursprünglich wollte ich ja Olympiasieger im Marathon werden (lacht), aber das hat nicht geklappt. Die Initialzündung war vermutlich ein Abend in Südfrankreich; ich war als Kinderbetreuer für einen Reiseveranstalter tätig und habe abends eine Geschichte, die ich mir in der Mittagspause ausgedacht hatte, einer Kindergruppe erzählt – und einigen Eltern. Die sagten unisono: „Mensch, da solltest du was draus machen!“ Die kopierten Bildergeschichten, die daraus entstanden, kamen dann viel später und eher zufällig, über einen Literaturagenten, in die Hände eines Verlags.
Angesichts Ihrer Millionenauflagen wirken diese Anfänge ja beinahe rührend. Haben Sie eine Erklärung für den Erfolg?
Siegner: Das hört sich alles so locker-flockig an. Aber ich glaube, die Dinge, die man in der Kindheit und Jugend mit einer gewissen Leidenschaft macht, die lernt man auch gut. Insofern ist der Grundstein damals gelegt worden. Nachdem ich versucht habe, den klassischen Weg zu gehen – Schule, Beruf, Studium, Jobs – habe ich mich darauf besonnen, was mir immer Spaß gemacht hat. Da war ich fast Mitte 30. Und jetzt, auch nach dem 26. Kokosnuss-Band, hat sich die Liebe zu dem, was ich mache, nicht verbraucht. Die Leidenschaft zu schreiben, Geschichten zu erfinden, ist nach wie vor da. Und wichtig ist natürlich, dass man einen guten Verlag und jede Menge neugieriger Buchhändlerinnen an seiner Seite hat.
Wie können Eltern die Kreativität der eigenen Kinder erkennen und fördern?
Siegner: Vorlesen ist wichtig, ganz klar. Das kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Die Fähigkeit, sich in Geschichten hineinzuversetzen, zuzuhören, Empathie und Fantasie zu entwickeln, wird ziemlich früh angelegt.
Sie absolvieren über 100 Auftritte pro Jahr – wie schafft man so ein Mammutprogramm?
Siegner: Ich jongliere ein bisschen mit den Elementen Schreiben, Illustrieren, Vorlesen… Aber es macht halt auch Spaß: Ich lese gern in Schulen, in Buchhandlungen, Bibliotheken, Kindergärten – das ist abwechslungsreicher, als Sie denken.
Wie kriegt man einen Sack Flöhe mucksmäuschenstill?
Siegner: Ich bin in einer privilegierten Situation. Ich muss den Kindern keine Mathematik oder Rechtschreibung beibringen – ich bin der Typ, der Abenteuergeschichten erzählt. Aber Spaß beiseite: Die Kinder ernst nehmen und lieben – das ist der Schlüssel. Ich will meinen kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern nichts beibringen – die sollen eine schöne, lustige, spannende Stunde haben.
Hinweis: Zur kommenden Leipziger Buchmesse wird Ingo Siegner, der zur Zeit am 27. „Kokosnuss“-Band sitzt, beim Familiensonntag (24. März 2019) auftreten. Die Tickets sind kostenfrei, müssen aber aufgrund der begrenzten Kapazität im Ticketshop www.leipziger-buchmesse.de/ticket mit dem Aktionscode LBM19KOKOS erworben werden.
Hasskommentare und Fake-News, das gesellschaftliche Klima wird rauer. Mehr denn je braucht unsere Gesellschaft mündige und kritische Bürgerinnen und Bürger, die politische Themen einordnen und Demokratie mitgestalten können. Wie aber können Kindern und Jugendlichen die Regeln einer fairen Auseinandersetzung und politisches Denken vermittelt werden? Ihre politische Bildung wird angesichts der aktuellen Entwicklungen zu einer zentralen Herausforderung für die Buchbranche, Bildungsinstitutionen, ja die ganze Gesellschaft. Mit diesem Appell gingen die vier großen Buch- und Leseförderorganisationen Deutschlands – die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj), der Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ), der Börsenverein und die Stiftung Lesen im Rahmen ihres traditionell an der Leipziger Buchmesse vorgestellten Trendberichts Kinder- und Jugendbuch an die Öffentlichkeit.
Erfahrungsraum Literatur
„Kinder- und Jugendliteratur kann das Interesse an politischen Themen wecken“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Buch- und Leseförderer. „Sie bietet Erfahrungsräume, ermöglicht, sich gesellschaftlichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern, fördert Empathievermögen sowie kritisches Urteilen.“ Romane oder Sachbücher müssen jedoch nicht nur gelesen, sondern auch diskutiert werden – und hier sind, neben tollen, vielstimmigen Texten, qualifizierte Partner gefragt: Eltern, Lehrer und Erzieher, Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken, Literaturhäuser und andere Bildungs- und Kultureinrichtungen.
Ideen, Methoden, Angebote
Unter dem Motto „Meine Meinung zählt – Junge Menschen mit Büchern für Politik begeistern“ brachten die vier Leseförderer im neuen Forum Politik und Medienbildung der Leipziger Buchmesse Praktiker der Kulturarbeit zusammen. Das Erkenntnisinteresse des bestens besuchten Podiums: Mit welchen Ideen, Methoden und Angeboten lassen sich politisches Interesse und Engagement der jungen Zielgruppe fördern? Moderiert von Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses Köln, trafen Heiko Bergt (agentur bhoch3), Susann Gessner (Justus-Liebig-Universität Gießen), Birgit Schulze-Wehnick (Buchkinder Leipzig) und Susann Struppert (Kinderbuchladen Serifee, Leipzig) in einer spannenden Diskussionsrunde aufeinander.
„Alles kann Lernanlass werden“
Für die Sozialwissenschaftlerin Susann Gessner ist die Frage, ob und wie Kinder und Jugendliche „politisch gebildet“ werden können, zugleich „leicht und schwer“ zu beantworten: „Ich bilde angehende Grundschullehrer aus, die oft Scheu vor politischen Themen zeigen und mit den Kindern lieber über das Leben der Eichhörnchen im Winter sprechen würden. Allerdings geht es nicht unbedingt um die Diskussion der alltäglichen Tagespolitik. Man kann alles zum Lernanlass werden lassen, was das Zusammenleben von Menschen betrifft. Kinderbücher, die das Politische über soziale Zusammenhänge thematisieren, eignen sich hier sehr gut als Türöffner.“ Parallel zum „Trendbericht“ haben die Leseförderer erst jüngst wieder Leseempfehlungen veröffentlicht – doch wie kommen die „pädagogisch wertvollen“ Titel in der Buchhandlung an? Susann Struppert, die mit „Serifee“ Leipzigs ersten Kinderbuchladen betreibt, weiß, was in diesem Spektrum gefragt ist: Bücher zu Familienstrukturen etwa, Titel, die sich mit Krankheit und Trennung auseinandersetzen. Bei der Frage, wie professionell Lehrer und Erzieher neuste Trends der Kinder- und Jugendliteratur in ihre Arbeit einbeziehen, macht die Buchhändlerin indes auf ein Desiderat aufmerksam: „Schulbibliotheken sind oft grauenhaft schlecht ausgestattet.“
Gute Literatur macht den Kopf weit
Braucht es dezidiert „politische“ Kinder- und Jugendbücher, will Moderatorin Dettmann von der Runde wissen. Sozialwissenschaftlerin Gessner ist skeptisch: „Ich habe Probleme, Kinder- und Jugendliteratur von ihrem Nützlichkeitsaspekt her zu betrachten. Für die politische Bildung ist vielmehr anspruchsvolle Literatur eine totale Chance: Sie kann zeigen, dass es nicht nur eine Sichtweise auf die Welt gibt.“ Beispielhaft ist für die junge Wissenschaftlerin etwa die Graphic Novel „Der Traum von Olympia“ von Reinhard Kleist (Carlsen). Der Autor verarbeitet hier die tragische Lebensgeschichte der somalischen Profiläuferin Samia Yusuf Omar, die im Alter von 21 Jahren vor der Küste Maltas ertrank. „Hier zeigt sich, dass gute Bücher oft einen ganz anderen Zugang zu gesellschaftlichen Debatten eröffnen können“, meint Susann Gessner. „Die besten Bücher können ein Thema differenzieren, statt es auf den tagespolitischen Diskurs zu verkürzen.“
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