Als Britta Jürgs 1997 ihren Verlag gründete, tat sie es wegen Büchern, die sie selbst vermisste: Texte von und über Autorinnen, Journalistinnen, bildenden Künstlerinnen oder Filmemacherinnen vor allem aus dem 1920er und 1930er Jahren, starke Frauen allesamt, nicht wenige davon jüdisch. Gut zwanzig Jahre war es da her, dass der Stern-Journalist Jürgen Serke mit einer achtteiligen Serie über „Die verbrannten Dichter“ in der alten Bundesrepublik Furore machte. Die damals 66jährige Irmgard Keun etwa spürte Serke in einer Bonner Dachkammer auf, es war der Beginn zahlreicher Wieder- und Neuentdeckungen. Dennoch waren, als Britta Jürgs begann, noch viele Schätze zu heben. Wieso der Blick zurück, wo junge Verlags-Startups heute oft aufs neueste vom Neuen fliegen? „Ich habe gemerkt“, so Jürgs, „dass diese Frauen absolut modern sind, gar nicht so weit von uns und unseren Erfahrungen entfernt, wie man vermuten könnte. Ich war überzeugt, dass sie auch anderen viel zu sagen haben.“ AvivAnennt sie ihren Verlag – wie Frühling auf Hebräisch und mit einer schönen Symmetrie aus großem „A“ vorn und hinten. „Viva, das Leben, steckt auch drin“, ergänzt Jürgs lachend.
In diesem Jahr feiern gleich mehrere der bei AvivA wiederentdeckten Frauen runde Geburtstage. Von der vor 120 Jahren in Berlin geborenen Ruth Landshoff-York, einer Nichte des Verlegers Samuel Fischer, die in Murnaus „Nosferatu“ mitwirkte und 1937 in die USA emigrieren musste, erschienen bislang sechs Bücher. Ebenfalls 120. Geburtstag würde die in Wien geborene Lili Grün feiern, die in den Roaring Twenties zur Berliner Kabarett-Szene gehörte und ihre Erlebnisse in dem Roman „Alles ist Jazz“ verarbeitete. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und sofort nach ihrer Ankunft im weißrussischen Maly Trostinec ermordet.
„Die Bräutigame der Babette Bomberling“, ein Roman von Alice Berend (1875-1938), 1915 bei S. Fischer erschienen, hatte es einst zu einiger Berühmtheit gebracht – Britta Jürgs fand das Buch in einem Antiquariat, las begeistert und begann, zur Autorin zu recherchieren: Die 1875 geborene Schwester der Malerin Charlotte Berend-Corinth veröffentlichte vor allem zwischen 1910 und 1920 zahlreiche Romane, die in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren erschienen und ihr den Ruf eines „weiblichen Fontane“ einbrachten. Auch Berend musste 1933 vor den Nazis fliehen und starb mittellos in Italien.
Romane, Biografien, Feuilletons, Reiseberichte: In 26 Jahren ist die Backlist des in einer parkettknarzenden Altbauwohnung in Moabit residierenden Verlags auf rund 120 Titel angewachsen, pro Jahr kommen rund acht neue dazu. So ist, wie es in der Jurybegründung zum Kurt Wolff Preis heißt, „quer durch die Epochen, Kontinente und Genres eine kleine Universalbibliothek entstanden“. Britta Jürgs ist, Hand in Hand mit großartigen Fachleuten fürs Übersetzen, Edieren und Nachwortschreiben, längt weiter durch Zeiten und Sprachräume geeilt. „Alle Frauen müssten gemeinsam Blumen auf Aphra Behns Grab streuen“, befand schon Virginia Woolf. Heute gilt die englische Autorin Aphra Behn (1640 – 1689) als Ikone der feministischen Literatur. Doch ihr Werk ist Geheimtipp geblieben. Mit Hilfe des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz hat AvivA das geändert. Ursprünglich war ein Band geplant, doch da Behns Werk quer durch alle Genres geht, hat sich Jürgs entschieden, die 620 Seiten auf zwei Bände aufzuteilen – und dem Ganzen einen schmucken Schuber zu spendieren, auch wenn der heute fast so teuer sein kann wie ein Buch. „Das ist meine große Freiheit“, sagt Britta Jürgs. Ihre älteste Autorin ist Christine de Pizan. Ihr „Buch von der Stadt der Frauen“, ein Beispiel früher feministischer Literaturkritik, erschien 1404 – noch vor dem Buchdruck!
Seit 2012 erscheint, zwei Mal im Jahr zu den Buchmessen, die 1986 gegründete Rezensionszeitschrift Virginia Frauenbuchkritik bei Aviva. Jürgs ist eine der Herausgeberinnen – und betreut unter anderem die Krimi-Rubrik. Was ihr Gelegenheit gibt, jenseits des eigenen Verlags-Kosmos’ zu lesen. Dort hat sich ihre Krimi-Leidenschaft noch nicht niedergeschlagen – nicht schlimm, findet Jürgs: „Ich lese ja auch zeitgenössische Literatur. Und, ja: Bücher von Autoren.“ Die Netzwerkerin und Aktivistin, die ihren Verlag zum 20. Geburtstag in zwanzig unabhängigen Buchhandlungen vorgestellt hat („Ein Kraftakt!“), setzt sich auch nach ihrer Zeit als Vorstandsvorsitzende der Kurt Wolff Stiftung für die Belange der Indies ein – derzeit etwa für eine strukturelle Verlagsförderung, die angesichts der aktuellen Geldsorgen der Ampel wieder einmal im Verschiebe-Modus gelandet ist. „Wir haben schon viel erreicht“, meint Britta Jürgs. „Aber es ist noch Luft nach oben.“
Doch, Nikola Richter, die Verlegerin von mikrotext, verfügt über Selbstbewusstsein und Humor, und von beidem nicht zu knapp. Wie, bitte, würde sich sonst erklären lassen, dass sie einen Erzählband des in Charkiw geborenen Anton Artibilov ins Jubiläumsprogramm gehoben hat, der den schönen Titel „Der Niedergang des mikrotext Verlags“ trägt? Die zugehörige Geschichte („Mein Horrormittagessen mit Nikola Richter“) war ein Geschenk an die Verlegerin zum zehnjährigen Verlagsgeburtstag 2023: Artibilov, der auch anderen Orts als Battle-Rapper Josef Steinschleuder auftritt, trug sie live auf der Jubiläumsparty vor. „Nach den ganzen Jubel-Arien habe ich mir von Anton gewünscht, dass er mich disst“, sagt Richter. Im Rap gilt das als Ehrenbezeugung – und in der Literaturgeschichte wohl auch, denken wir nur an Thomas Bernhards Dramolett „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ (1986).
Richter kann sich bestelltes Störfeuer leisten. Für ihren 2013 gegründeten Verlag war 2023 ein extrem erfolgreiches Jahr: „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter, das im April den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewann, mauserte sich zum „Spiegel“-Bestseller und liegt inzwischen in der siebten Auflage vor. Elfi Conrads „Schneeflocken wie Feuer“, von Kritik wie Publikum gleichermaßen geliebt, liegt in fünfter Auflage vor. Was dazu führte, dass Richter auf einmal Aufgaben stemmen musste, die normaler Weise großen Publikumsverlagen vorbehalten bleiben, von der Beschaffung größerer Mengen Papier über die Organisation von Nachdruck-Terminen bis zum Bestseller-Marketing.
Dass ihr Verlag, der zunächst rein digital gestartet war, noch immer generös als Ausnahme-Phänomen bewertet wird, nervt Richter zuweilen massiv. Dabei hat sie, von Aboud Saeed („Der klügste Mensch im Facebook“) bis Ruth Herzberg („Wie man mit einem Mann unglücklich wird“) einfach nur kontinuierlich mit ihren Autorinnen und Autoren gearbeitet. Von Anfang an waren das sehr besondere Stimmen, die bei der klassischen Ochsentour zum Verlagsvertrag wohl eher durchgerutscht wären. Richter war es, die die hierzulande noch unbekannte Stefanie Sargnagel („In der Zukunft sind wir alle tot“) 2014 als erster deutscher Verlag veröffentlichte, mit Elfi Conrad brachte sie eine 80jährige Debütantin. „2023 war der gleiche Spirit wie 2013“, sagt sie. „Jetzt verstehen nur mehr Leute, was ich mache.“ Neue Erzählformen sind dabei hoch willkommen – egal, ob es die „Kryptopoeme“ eines Yevgeniy Breyger oder Sina Kamala Kaufmanns „nahphantastische Erzählungen“ sind.
Auch das Erfolgsjahr 2023 war kein reines Glücks-Momentum, das irgendwie vom Himmel gefallen wäre. Dank einiger kluger unternehmerischer Weichenstellungen hatten die Jahre seit Ausbruch der Corona-Pandemie für mikrotext sehr gut funktioniert. Mit dem Preisgeld des ersten Deutschen Verlagspreises (mikrotext wurde 2019, 2020 und 2023 ausgezeichnet) setzte Nikola Richter ihren Webshop auf – der punktgenau mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 online ging. Eine nachhaltige Investition in die Zukunft. 2020 schrieb Nikola Richter zum Jahr des offenen Verlags aus. Motto: „Zusammen verlegt man weniger allein.“
Nach fast sieben Jahren One-Woman-Show fühlte die Verlegerin, wie sich die große Müdigkeit des Landes auch bleischwer auf ihre Schultern legte – und dachte gelegentlich gar über eine vorübergehende Pause ihrer Verlegertätigkeit nach. Ole Rauch vom „Jacobin“-Mag riet zur Vorwärts-Verteidigung: „Mach doch das Gegenteil! Öffne den Verlag!“ Am Ende entstanden sechs Titel mit sechs Gastverlegerinnen – alle Projekte waren über Crowdfunding durchfinanziert. Die Arbeit mit den Teilzeitverlegerinnen, die sich für andere einsetzen, war eine beglückende Erfahrung – auch wenn 2020 alles andere als ein Sabbatjahr für Richter wurde.
Nach dem rasanten 2023 will es die Verlegerin im elften, dem „Schnapsjahr“ 2024 mit zwei statt vier Titeln pro Saison etwas ruhiger angehen lassen. Mely Kiyak ist mit einer gänzlich neu überarbeiteten Ausgabe von „Dieser Garten“ am Start, in der wir die Benediktinerinnen der Abtei zur Heiligen Maria in Fulda und den wohl ersten nachhaltigen Garten Deutschlands kennenlernen. Isobel Markus, Berliner Salonière des 21. Jahrhunderts, beschreibt in ihrem „Dating Roman“, wie sich zwei Freundinnen zusammentun, um die Hochs und Tiefs des Online-Datings gemeinsam durchzustehen.
Gut zu tun hat Nikola Richter trotzdem: Anfang April hat „Unser Deutschlandmärchen“ Premiere am Berliner Gorki, die Lesereise von Dinçer Güçyeter geht an gefühlt 100 Stationen weiter – und 2025 ist ja auch noch ein Jahr. Der Kurt-Wolff-Förderpreis ist bei all dem „eine große Ehre“, freut sich die Verlegerin. „Ich arbeite nicht in großen Bögen, sondern versuche, für jedes einzelne Buch das Beste zu machen“. Das ist gewiss keine Schnapsidee. Auch im elften Jahr macht ihr Independent-Schnellboot zwischen all den großen Verlags-Tankern bella figura.
Es ist zwanzig vor fünf an diesem Buchmessedonnerstag 2012, in der sonnendurchfluteten Glashalle wird gleich der Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik verkündet und man könnte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Als Wolfgang Herrndorf und sein Roman „Sand“ genannt werden – 2011 war der Autor hier schon einmal mit „Tschick“ nominiert, Wahnsinn! – schiebt sich Robert Koall, Chefdramaturg des Dresdner Staatsschauspiels, aus den Sitzreihen, entert die Bühne und tritt ans Mikro: „Ich bin von Wolfgang Herrndorf gebeten worden, im Erfolgsfall heute für ihn einzuspringen, ich freue mich wahnsinnig, freue mich in seinem Namen, weiß auch, dass er sich wahnsinnig freut, und er hat mir einen Satz mitgegeben: ‚Die Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nächsten ist.’ In diesem Sinne vielen Dank für die Jury, vielen Dank für den Preis, danke für das viele schöne Geld.“ Beifall brandet, die ein oder andere Träne wird verdrückt. Aber: Was, bitte, hat es mit dem rätselhaften Satz auf sich, den der frisch gekürte Preisträger unbedingt in die Welt tragen wollte – und der, auch zehn Jahre nach Herrndorfs Tod, noch immer auf Youtubenachhallt?
Anruf zwölf Jahre später bei Robert Koall, inzwischen Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall erinnert sich noch genau an jenen Glücksmoment und seine Vorgeschichte. Als Herrndorfs Roman Anfang Februar 2012 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, stand für den Autor fest, dass er unter keinen Umständen persönlich kommen würde. Seine Erkrankung war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr weit fortgeschritten; schon den Deutschen Jugendliteraturpreis für „Tschick“ hatte im Herbst 2011 Kathrin Passig für ihn auf der Frankfurter Buchmesse entgegengenommen. Als feststand, dass Robert Koall im Fall der Fälle den Preis entgegennehmen würde, lief im Internet-Forum „Wir höflichen Paparazzi“ – in dem damals fast alle aus Herrndorfs großem Freundeskreis verbandelt waren – die Vorbereitungs-Diskussion heiß. Besonders emsig wurde im Kreis der „Pappen“ gefachsimpelt, welche Botschaften im Ernstfall in einer Dankesrede unterzubringen wären. Running Gag im Forum waren damals die „Weisheiten der Fulbe“, laut Koall „sinnlose Zuckertüten-Aphorismen“, die man einem realexistierenden, laut Wikipedia einstmals nomadisierenden Westafrikanischen Hirtenvolk unterschob. Ein „Sprichwort der Fulbe“ hatte es bereits, neben echten Worten von Herodot bis Stephen Hawking, als Mottozitat in „Sand“ geschafft. Der Nonsens-Satz „Wer nicht weiß, wohin er geht, erreicht mit jedem Schritt sein Ziel“ leitet dort Kapitel 11 ein. In der Nacht vor der Preisverleihung wurde dann jener Satz mit Sonne und Düne geboren, der, wie Koall lachend gesteht, „weder astronomisch noch sonst wie Sinn macht“.
Als es dann soweit ist und er leibhaftig auf der Glashallen-Bühne steht, freut sich Koall nicht nur für Herrndorf, sondern für alle „Pappen“, den Freundeskreis, der die Verleihung natürlich im Livestream verfolgte. „Ich wusste, alle schauen zu!“ Wolfgang Herrndorf selbst meldet sich ein paar Minuten später im Forum und fragt kreuzbrav: „Hab’ ich was verpasst?“ Treffer versenkt. Das gilt auch für den frei erfunden Satz: Der kleine Guerilla-Gag wird von den Medien aufgegriffen – die SZ macht ein „afrikanisches Sprichwort“ daraus, die F.A.Z. einen „Sinnspruch aus Nordafrika“. Für Robert Koall endet der Tag weit nach Mitternacht, im Taxi fährt er aus einem MDR-Studio ins Hotel. Er hat die mediale Nach-Wirkung des Preises unterschätzt: „Ich dachte: Super, jetzt gibt’s Sekt, Schnittchen und Party! Gab’s auch – aber ich hatte währenddessen einen Interview-Marathon zu absolvieren.“ Als die „Pappen“ am nächsten Tag im Berliner „Prassnik“, ihrer Stammkneipe, Wolfgang Herrndorfs Leipziger Buchpreis feiern, ist Robert Koall schon wieder auf Arbeit im Theater. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.
Robert Koall, geboren 1972 in Köln, studierte zunächst einige Semester Jura, Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Von 1995 bis 1998 war er Assistent von Christoph Schlingensief, anschließend arbeitete er als Dramaturg an den Schauspielhäusern in Hamburg, Zürich und Hannover. Von 2009 bis 2016 war er Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, seit der Saison 2016/17 ist er Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall hat zahlreiche Romane für das Theater bearbeitet, darunter „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, das zum meistgespielten Bühnenstück der 2010-er Jahre wurde.
Am Düsseldorfer Schauspielhaus läuft derzeit Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ in einer sehr sehenswerten Bühnenfassung von Robert Koall (Regie: Adrian Figueroa).
Bei der nächsten Manga-Comic-Con im März wird aus der bisherigen Gemeinschaftspräsentation MCC Kreativ die New Artist Alley – an der Weltsprache Englisch führt kein Weg vorbei?
Sassette Scheinhuber (lacht): Das spart uns an der ein oder anderen Stelle Übersetzungsarbeit…
Im Ernst: Was hat Sie veranlasst, diesen Schritt zu gehen?
Kerstin Krämer: Man muss ihn vor dem Hintergrund einer generellen Überarbeitung unseres Hallenkonzepts sehen. Wir haben ja sämtliche Ausstellungsbereiche in den Hallen 1 und 3 umbenannt. Wir haben uns gefragt: Wie können wir am Puls der Zeit bleiben, noch mehr Besucher anlocken? Wir haben uns dazu, klar, auch andere Conventions angeschaut – und uns am Ende in den Bezeichnungen an eine japanische Stadt angelehnt – mit ihren Straßen, Plätzen und speziellen Ecken. Das Ganze natürlich in Englisch. Und da passte MCC Kreativ nicht rein…
Scheinhuber: Mit einer Umbenennung allein ist es natürlich nicht getan. Wir feiern 2024 zehn Jahre Manga-Comic-Con; den Bereich MCC Kreativ gibt es dabei schon seit dem Start 2014 – insofern galt es, generell an ein paar Stellschrauben zu drehen, ein bisschen aufzuräumen, frischen Wind reinzubringen. Mit dem neuen Namen lässt sich das perfekt kommunizieren.
Krämer: Ein Punkt, der uns wichtig ist: Wir wollen den Bereich der kreativen Einzelkünstler deutlicher abgrenzen von den Künstlerinnen und Künstlern, die sich schon einen eigenen Messestand leisten. In unseren Köpfen war die Trennung vorhanden – aber nicht bei Ausstellern und Publikum. Der Bereich MCC Kreativ war auf 130 Teilnehmer begrenzt, die aus 400 bis 500 Bewerbungen ausgelost wurden. Allerdings hatten nicht wenige offenbar sehr stabiles Losglück, und waren immer wieder dabei – obwohl die Auslosungen notariell überwacht wurden und wir auch streng darauf geachtet haben, Doppelbewerbungen zu vermeiden.
Nun führen Sie einen Turnus ein?
Scheinhuber: Das ist die wahrscheinlich krasseste Neuerung. Die Teilnahme an der New Artist Alley ist nur noch alle drei Jahre möglich. Teilnehmer, die ausgelost wurden und sich angemeldet haben, können sich erst nach drei Jahren erneut bewerben…
Krämer: … oder regulär Aussteller werden, mit einem kleinen Stand.
Stimmt, aber auch der kostet! Für manche Künstlerinnen und Künstler war der Bereich MCC Kreativ auch aufgrund der günstigen Preise attraktiv. Wird die New Artist Alley nun teurer?
Scheinhuber: Ja, aber das Gros der Bewerber hat realisiert, dass es in den vergangenen drei Jahren generell Preissteigerungen gegeben hat. MCC Kreativ war ein von uns bezuschusster Bereich, vor allem im Standbau haben wir da ordentlich was draufgelegt – und das lange vor Corona! Das Projekt soll nun weitgehend kostendeckend laufen, im Idealfall mit einer schwarzen Null.
Sie haben auch die Teilnehmerzahl strenger limitiert: Statt 130 Künstlerinnen und Künstler der MCC Kreativ liegt die Höchstgrenze der New Artist Alley bei 80 Plätzen…
Krämer: Das muss man vor dem Hintergrund einer insgesamt positiven Entwicklung in diesem Kreativ-Segment sehen. Sehr viele Künstler haben uns im Vorfeld signalisiert, dass sie 2024 eigene Stände mieten wollen. Zum anderen waren die 130 Plätze bei MCC Kreativ schon die Obergrenze dessen, was Besucher sinnvoll aufnehmen können. Und wir mussten damit rechnen, dass sich der Pool der potenziellen Bewerber durch den Drei-Jahres-Turnus etwas verringert. Deshalb die Begrenzung auf 80 Plätze bei der New Artist Alley. Es ist eine Konzentration, von der alle profitieren: Die Künstlerinnen und Künstler und das Publikum.
Wie viele Bewerbungen haben Sie für die erste New Artist Alley erhalten?
Scheinhuber: Es waren 415; damit lagen wir auf dem Level der Vor-Corona-Zeit.
Krämer: Wir sind insgesamt mit dem Stand der Jubiläums-MCC hoch zufrieden! Wir hatten im Frühjahr 397 Aussteller auf einer Fläche von 3880 Quadratmetern. Für 2024 konnten wir bei Ausstellern und belegter Fläche noch einmal zulegen. Wenn wir speziell auf den Kreativ-Bereich schauen: Da hatten wir im Frühjahr über 100 Künstlerinnen und Künstler mit eigenem Stand, dachten aber, dass das mit der BKM-Förderung zusammenhängt. Dank der Neustart-Kultur-Gelder konnten wir ja 30 Prozent Rabatt auf den eigenen Messestand gewähren. Diese Förderung ist nun ausgelaufen. Insofern haben wir prognostiziert, dass der Run auf eigene Stände etwas abebbt. Aber es sind jetzt mehr als im Frühjahr 2023!
Abschließend gefragt: Welche Bedeutung kommt dem Kreativ- und Künstlerbereich auf der MCC aus Ihrer Sicht zu?
Scheinhuber: Für Künstlerinnen und Künstler ist die MCC eine der wichtigsten Veranstaltungen im Jahr. Im Gegensatz zu anderen Conventions haben wir den Vorteil, dass hier auch alle relevanten Verlage ausstellen. Am Ende des Tages hat das Gros der nicht-kommerziellen Kreativen doch das Ziel, ihr Werk über einen professionellen Verlag zu veröffentlichen. Die meisten, die hier Artworks und selbstproduzierten Merch anbieten, schreiben eigene Manga oder zeichnen Comics. Hier finden sie das Publikum und die Fachplattform, die sie suchen.
Krämer: Durch die Verknüpfung von Leipziger Buchmesse und MCC erreicht man schlicht andere Publikumsbereiche als auf einer reinen Anime- oder Manga-Convention mit jeweils sehr spitzer Zielgruppe. Bei uns in Leipzig trifft man auf Schulklassen, Lehrer, Eltern, ein neugieriges allgemeines Publikum. Das ist ein ungeheures Pfund!
Kerstin Krämer ist Projektdirektion Bildung / Kinder+Jugend / Manga-Comic-Con und leitet das Management der Leipziger Buchmesse.
Sassette Scheinhuber ist Projektmanagerin bei der Manga-Comic-Con.
Alles begann im ersten Lockdown: Lena Stenz, freiberufliche Kommunikations- und Marketingexpertin sowie Mutter zweier Kinder, die sich im hessischen Hofheim schon ehrenamtlich als „Lese-Mama“ engagiert hatte, wurde Podcasterin. Ihre Lesehäppchen-Show eroberte die Kinderzimmer – und zeigte, wie in einer Nussschale, schon das, was ab November 2021 den Podcast Bücheralarm erfolgreich machen sollte. Die Idee: Kinder liebevoll an das Lesen heranführen, indem man sie selbst mitmachen lässt, sei es als Fragenstellende oder Vorlesende. Dazu möglichst viele aus der Bücher-Macher-Welt mit einbinden, von Autorinnen und Autoren über Illustratorinnen bis zu Verlagen – um auf diese Weise ein Hörerlebnis rund ums Buch zu schaffen, was Kinder dazu animiert, eigenständig weiterzulesen. „Die Idee der Leseförderung per Podcast war geboren“, erinnert sich Stenz. Daran, dass das Medium einen regelrechten Boom hinlegen würde, war damals noch nicht zu denken.
Inzwischen hat Lena Stenz daraus die bundesweiten Initiativen Bücheralarm und Bücheralarm@school entwickelt, viele Partner gefunden und ein großes Netzwerk aufgebaut. Für Kinder im Grundschulalter setzte Stenz zunächst auf Büchereien als Projektpartner – den Einstieg ermöglichen Podcast-Koffer mit spannenden Buchtiteln, der passenden Podcast-Technik, dazu umfangreiches Begleitmaterial für Bibliotheksmitarbeitende und Lehrkräfte. Bücheralarm@school, gestartet im November 2022 und als multimediales Angebot für weiterführende Schulen konzipiert, war dann „die nächste Evolutionsstufe“ des Projekts. Inzwischen sind mehr als 6000 Kinder und Jugendliche auf die ein oder andere Weise an Bücheralarm beteiligt gewesen. Vermittelt wird nicht nur Spaß am Lesen, sondern, quasi spielerisch, auch Medien- und Digital-Kompetenz, die Fähigkeit, in der Gruppe zu arbeiten. „Die Kinder und Jugendlichen“, sagt Stenz, „werden zu Lese-Botschaftern, indem sie sich intensiv mit der Lektüre auseinandersetzen.“ Das Konzept ist großartig, dennoch ist es enorm kräftezehrend, die Finanzierung des Projekts am Laufen zu halten. Ein Dutzend renommierter Kinder-, Jugend- und Schulbuchverlage, von Magellan bis Klett-Sprachen, unterstützen „Bücheralarm“, Technikpartner sind die Mikrofonhersteller Røde und Shure sowie der Hosting-Anbieter Julep Media. „Jede Türklinke wurde von mir persönlich geputzt“, lacht Lena Stenz.
Für die Initiatoren des Deutschen Lesepreises, die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung, war Bücheralarm so auszeichnungswürdig, dass sie Lena Stenz 2023 in der Kategorie „Herausragendes individuelles Engagement“ mit dem 1. Preis auszeichneten. Zur Leipziger Buchmesse Ende April 2023 zündete Lena Stenz dann die nächste Raketenstufe ihres Projekts: Mit dem Bücheralarm Award startet der deutschlandweit erste Podcast-Preis für Schulen! „Wie ließen sich Jugendliche besser motivieren und aus der Reserve locken als mit einem Wettbewerb um besonders coole Podcast-Folgen“, findet Stenz. Schon das Ausfüllen des Bewerbungsbogens hält dazu an, die eigene Leistung zu reflektieren. „Die Auszeichnung auf der großen Bühne in Halle 3 am Buchmesse-Freitag 2024 dürfte für alle Preisträgerinnen und Preisträger ein bleibendes Erlebnis werden.“ In einer kleinen Bühnen-Show konnte sich im letzten April schon einmal die Jury des neuen Preises vorstellen: Neben Kerstin Krämer, Projektdirektorin Bildung bei der Buchmesse, gehört ihr etwa der Rapper CRZA an, der parallel zum eigenen Label das Projekt Rap macht Schule gestartet und auf der Buchmesse-Bühne gleich mal Goethes „Erlkönig“ als Rap vertont hat. Außerdem dabei: Der podcastende Influencer und Lehrer Benjamin Donath aka Benni Cullen, Schulleiter Gerd Mengelund Mirai Mens aka @lesehexemimi – mit knapp 10.000 Followern eine der bekanntesten jugendlichen Bookstagramerinnen des Landes, die eben beim Lübbe-Imprint One mit Lass mal bloggen! ihr erstes Buch herausgebracht hat.
In Halle 3, wo Stenz den Aufschlag für den neuen Preis gemacht hat, waren auch der 20-Quadratmeter-Messestand von Bücheralarm – und das Bücheralarm-Podcast-Mobil zu finden. Mit dem in einen Mercedes-VAN eingebauten mobilen Studio konnte Stenz mitten im Messetrubel Podcasts in Studioqualität produzieren. So wurde die neue Podcast-Reihe Bücheralarm-Talk in Leipzig gelauncht – ein Format, das Hintergründe zum Thema Leseförderung allgemein und zum Projekt im Speziellen bietet. Die ersten zwölf Folgen sind live auf der Leipziger Buchmesse entstanden. Wer sich fragt, wie man an solch ein schickes rollendes Studio kommt, ja, mehr noch: Wie man so ein mächtiges Projekt überhaupt stemmen kann, erhält von der energiegeladenen Bücheralarm-Gründerin faszinierende Einblicke zum Making-of: „Von unserem Mikrofon-Partner Røde erfuhr ich von dem rollenden Studio. Der Geschäftsführer der Agentur, die den Bus betriebt, ist selbst Papa – und zwar einer, dem Bildung am Herzen liegt. So ist er zum Selbstkostenpreis mit uns auf die Messe gefahren.“ Low Budget ist angesagt, wenn die Koffer für Leipzig 2024 gepackt werden – alles Geld fließt ins Projekt. „Das meiste nimmt man von zu Hause mit“, lacht Stenz. „So muss mein Mann während der Buchmesse auf unsere Kaffeemaschine verzichten. Und unseren Kühlschrank habe ich bei Ebay Kleinanzeigen geschossen.“ Doch ein Messestand braucht Menschen. Engagierte Fans der Leseförderung, so wie die beiden Bibliotheksleiterinnen, die im Frühjahr Urlaub genommen haben, um beim Bücheralarm mitzuhelfen. „Das sind“, so Lena Stenz, „kostbare Momente, die man zurückbekommt, wenn man so ein Projekt startet.“
Connewitz goes West: Der Saal im Neuen Schauspiel nahe dem Lindenauer Markt, in dem die Cammerspiele Leipzig an diesem Abend zu Gast sind, ist komplett ausverkauft. Auf der Bühne: Die Uraufführung der Dramatisierung von Annika Büsings mehrfach preisgekröntem Roman Nordstadt, 2022 erschienen im Göttinger Steidl Verlag. Die Bühnenfassung fokussiert ganz auf die beiden Hauptfiguren Nene und Boris. Sie ist Bademeisterin im städtischen Schwimmbad, er ein arbeitsloser Underdog, der nach einem Schwimmbrett fragt: Der Beginn einer intensiven Liebesgeschichte – ohne Happy End, wie man bald ahnt. Die Schauspieler sind in Hochform, das Publikum geht begeistert mit – langsam legt sich auch das Lampenfieber von Regisseur Johann Christoph Awe von den Cammerspielen, der gerade mal knapp vier Wochen hatte, um die Inszenierung mit seinem Team zu erarbeiten. Nach diversen Regie-Projekten in Duo-Konstellationen ist „Nordstadt“ seine erste komplett eigenverantwortliche Arbeit als Regisseur. Später, nach dem Schluss-Applaus, kann Awe den Abend langsam auch selbst genießen: Die Autorin ist mit Freunden da, zwei Steidl-Mitarbeiter; großes Hallo und lange Gespräche. Die Nacht wird kurz. Und der nächste Abend ist bereits wieder ausverkauft.
Christoph Awe, Jahrgang 1985, studierter Kommunikations- und Kulturmanager, gehört, mit Unterbrechungen, seit 2017 zum Leitungsteam der Cammerspiele Leipzig, wo er für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und als Dramaturg tätig ist. Dazu kamen in den letzten Jahren vermehrt Regie-Arbeiten. Die Cammerspiele starteten zu Beginn der Nullerjahre auf dem Gelände der Kulturfabrik Werk 2, inzwischen gilt der von Sophie Renz (Geschäftsführung), Christian Hanisch (Künstlerische Leitung), Elisa Jentsch und Michaela Günold (Vorstand) und eben Christoph Awe geführte Verein als die zentrale Produktionsstätte für den Theaternachwuchs in Leipzig, ein Labor und Sprungbrett für freie Gruppen. Daneben gibt es auch regelmäßig eigene Produktionen – so wie jetzt im Fall von „Nordstadt“, das einen kleinen Trend markiert: In den letzten Jahren gab es auffallend häufig Roman-Adaptionen. Awe findet den „Erstzugriff“ auf solche Stoffe spannend: „Es ist sehr reizvoll, ein Buch, das einen begeistert hat, auf die Theaterbühne zu bringen. Die spannende Frage ist, ob freie Theater wie wir dann auch die Uraufführungsrechte bekommen?“
Im Fall von „Nordstadt“ und dem Steidl Verlag klappte das reibungslos, manchmal muss man Geduld mitbringen. Bei „Ein Mann seiner Klasse“ (Ullstein) nach dem Roman von Christian Baron, eine Produktion von Das Üz, einer freien Truppe um Christian Hanisch, die, mit Awe als Dramaturgen, ebenfalls 2023 herauskam, lagen die Uraufführungsrechte beim Staatstheater Hannover. Dort verzögerte sich die Aufführung pandemiebedingt. Schneller ging’s bei anderen Produktionen, an denen Awe beteiligt war: „Scherbenhelden“ und „Bis die Sterne zittern“ nach Büchern von Johannes Herwig, sowie „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ nach dem Debüt von Björn Stephan“ (Galiani, 2021). „Wir sind schon stolz darauf, dass wir uns in den letzten Jahren mit mehreren Ur- oder Zweitaufführungen nach wichtigen Romanen einen Namen machen konnten“, sagt Christoph Awe. „Sowohl in der Theater- wie auch in der Verlagswelt hat man das aufmerksam registriert, es hilft uns, wenn wir Rechteinhaber wegen interessanter Stoffe anfragen.“
Bei so viel Nähe zur Buch- und Verlagswelt ist es kein Zufall, dass die Cammerspiele seit mehr als zehn Jahren auch ein etablierter „Leipzig liest“-Ort ist. „Hin und wieder haben kleine Leipziger Verlage bei uns angefragt“, erklärt Christoph Awe. „Meist ist es jedoch so, dass wir uns im „Leipzig liest“-Büro melden – wir bestätigen, dass unser Saal von Mittwoch bis Sonntag zur Verfügung steht, schlagen aber auch selbst Autorinnen und Autoren vor.“ Ein Theaterbezug ist den Cammerspielen dabei nicht nur wichtig – er hat sich über die Jahre geradezu zu einem Qualitäts- und Alleinstellungs-Merkmal im Rahmen des Lesefests entwickelt. Abende mit Theaterautoren wie Roland Schimmelpfennig, Nis-Momme Stockmann oder Ferdinand Schmalz, die mit eigenen Romanen am Start waren, oder mit Sachbuchautoren wie dem Theaterkritiker Peter Michalzik („Horváth, Hoppe, Hitler“) sind legendär.
In diesem Frühjahr waren die Abende mit Björn Bicker („Aminas Lächeln“, Kunstmann), Katharina Peter („Erzählung vom Schweigen“, Matthes & Seitz Berlin) oder Samuel Finzi („Samuels Buch“, Ullstein) allesamt gut besucht, bei Finzi musste immer weiter nachgestuhl werden, so dass der Autor schließlich ganz am Ende des schlauchförmigen Saals saß. Dass der Off-Kultur-Hotspot seine Lesungen bei freiem Eintritt anbietet, mag im Szeneviertel Connewitz ein weiterer Grund seiner Beliebtheit sein. Die Kontakte, die durch „Leipzig liest“ in die Verlagswelt geknüpft wurden, haben mit dazu geführt, dass es inzwischen auch außerhalb der Buchmesse Lesungen in den Cammerspielen gibt. Neulich gab es etwa einen Abend mit Manja Präkels; der kurze Draht zum Berliner Verbrecher Verlag machte es möglich. „Um weitere Füße in die Verlags- und Buchwelt reinzubekommen und ein Publikum anzulocken, dass uns noch nicht kennt, sind die ‚Leipzig liest’-Termine ideal, freut sich Christoph Awe. Mit Leserinnen und Lesern, die ja sowieso Genussmenschen sind, kommt er auch in seinen beiden Nebenjobs ständig in Kontakt – regelmäßig kann man ihn in Schleußig hinterm Tresen des Weinladens Edelrausch und der Buchhandlung H24 treffen.
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