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Bücher und Literatur lagen Markus Heinrich, 1990 in Oberbayern geboren, schon immer am Herzen. Nach einer Buchhändlerlehre bei Thalia im Dresdner Haus des Buches studierte er Buchhandel/Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) in Leipzig. Seine Abschlussarbeit widmete er der PR- und Öffentlichkeitsarbeit in Publikumsverlagen – was ihm gute Karten für ein Volontariat in der Veranstaltungs- und Presse-Abteilung von Droemer Knaur gab. 

Nach dem Ende des Volontariats in München hatte Markus Heinrich, der „Kochen und Kulinarik“ zu seinen Leidenschaften zählt, noch einmal Glück: Er begann, zunächst als Junior-Manager, im Marketing von Dorling Kindersley. In der Kochbuchsparte der Münchner, die Kultkoch Jamie Oliver oder Stars wie Yotam Ottolenghi, Maya Leinenbach oder Ali Güngörmüs unter Vertrag haben, arbeitete Markus Heinrich insgesamt sechs Jahre, zuletzt kümmerte er sich dort vor allem ums Online-Marketing. „Eine tolle Zeit.“ Die Zutaten für die eigene Küche kauft der ‚reing’schmeckte’ Münchner, der in der Isarvorstadt wohnt, am liebsten auf dem Viktualienmarkt. Bleibt der Herd kalt, bevorzugt Heinrich die kleinen, charmanten Nachbarschaftsrestaurants, Bistros und Cafés um die Ecke, wie etwa das „Quattro Tavoli“ im Dreimühlenviertel. Und legt sich fest: „Man kann nirgendwo in Deutschland so gut Italienisch essen wie in München.“  

Beruflich wie privat fühlt sich Markus Heinrich an der Isar zu Hause. „Es war nie der Plan, zurück nach Leipzig zu ziehen.“ Doch da ist etwas, auf das er über die Jahre mehr als ein Auge geworfen hat – die Leipziger Buchmesse. „Ich habe die Veränderungen aus der Ferne beobachtet, da ist ja im letzten Jahr ganz viel passiert. Und dann ploppte diese Stellenanzeige auf.“ Markus Heinrich bewarb sich als Projektmanager und wurde zum Gespräch eingeladen. „Die Schwerpunkte Medienkooperationen und Preis der Leipziger Buchmesse waren für mich so attraktiv, dass ich den Sprung gewagt habe.“ Im September trat er den neuen Job in Leipzig an. Ein passender Italiener sollte sich finden, und der Wochenmarkt vorm Alten Rathaus, jeden Dienstag und Freitag, mit frischen Köstlichkeiten aus der Region, ist auch nicht zu verachten.

 

In die Planung der Literaturbühne von ARD und ZDF ist das ganze Haus involviert (c) Tom Schulze/LBM

Der Preis der Leipziger Buchmesse, der im letzten Jahr 20. Geburtstag feierte, gehört zum Markenkern des großen Frühjahrsaufgalopps der Branche, in der Top-Liga der deutschsprachigen Literaturpreise spielt er sowieso. „An dieser Stelle verknüpft mein Job viele unterschiedliche Disziplinen miteinander“, sagt Markus Heinrich, „das macht ihn so spannend“. Zum einen hat er, ganz bodenständig, die diversen Messe-Gewerke so zu orchestrieren, dass am Ende die Bühne unter der Glashallen-Kuppel steht. Zum anderen kümmert er sich mit Messe-Partnern wie dem Literarischen Colloquium Berlin (LCB) darum, dass die Jury alle Ressourcen für ihre Arbeit an die Hand bekommt. Zum dritten geht es darum, die Marketing-Aspekte des Preises im Blick zu behalten: „Wie können wir den Live-Stream optimieren? Ist er von anderen Medien gut eingebunden? Wie lässt sich ein ansprechendes Content-Set rund um die Preisverleihung bauen?“ Im Zweifel spricht Markus Heinrich auch mal mit dem Streaming-Dienstleister über einen leicht veränderten Kamerawinkel, „um mehr Emotionen in die Bilder zu bekommen“. 

Dass Akquise und Pflege von Medienpartnerschaften in Zeiten des Medienwandels eine Herausforderung darstellen ist eine Erkenntnis, zu der es keiner großen Phantasie bedarf. Markus Heinrich beschönigt nichts: „Der Bereich steht unter Druck – birgt aber auch große Chancen.“ Die Öffentlich-Rechtlichen stehen hart im Wind, stolze Print-Titel rechnen mit spitzem Bleistift, bevor sie ihren Stand in Leipzig aufbauen und mit hochkarätigem Programm bespielen. Es gilt, neue Partnerschaften zu schmieden, ein attraktives Umfeld etwa für Streaming-Anbieter oder Podcasts zu schaffen. Ein strategisches Feld, in dem Weitblick und Phantasie gefragt sind. „Es gilt, potenzielle Partner zu identifizieren und passgenau anzusprechen“, sagt Heinrich, „aber darüber die altbewährten nicht zu vergessen.“ Ab Herbst geht es an die konkrete Hallen- und Standplanung, sind Absprachen mit den Messe-Gewerken zu treffen. „Da steckt dann auch sehr viel prosaische Arbeit drin. An einem komplexen Projekt wie der Literaturbühne von ARD und ZDF in der Glashalle ist quasi das ganze Haus beteiligt.“ 

Die Leipziger Buchmesse ist Publikums- und Medienmesse (c) LBM

Markus Heinrich gehört zu denen, die zwar schon jede Menge Buchmessen als Besucher, aber noch keine als Organisierende erlebt haben. Ist Lampenfieber für ihn ein Thema? „Auf der Skala von null bis hundert bin ich jetzt in Spitzenmomenten bei 80“, lacht er. „Aber ich bin ja nicht allein. Wir haben ein großartiges Team.“ Wenn am Messe-Donnerstag, punkt 16 Uhr, die Preisverleihungs-Feier in der Glashalle beginnt, wird Markus Heinrich wahrscheinlich backstage sitzen, in der Regie. „Auf jeden Fall da, wo ich alles gut im Blick habe.“ 

„Die Tür für den Nachwuchs ist bei uns immer offen!“ 

„Die Tür für den Nachwuchs ist bei uns immer offen!“ 

Statt von „Beruf“ ist in der Buchbranche gern von „Berufung“ die Rede; wer hier arbeitet, brennt für die Literatur – und lange Zeit konnten sich die kreativen Berufsfelder, so zumindest mein Eindruck, vor Nachwuchs kaum retten. Das scheint sich grundlegend gedreht zu haben, oder?  

Jessica Isselbächer: Die Wahrnehmung ist nicht falsch. Natürlich brennt der Nachwuchs immer noch für das Medium Buch. Allerdings hat diese Generation noch andere Ansprüche an ihren Job als wir vielleicht damals. Da hat sich etwas gedreht: Wir müssen als Branche attraktiv sein, auf die Wünsche der Jungen hören – und, ehrlich gesagt, betrifft es nicht nur den Nachwuchs: Hier werden Punkte benannt, die generationsübergreifend alle betreffen. Wer möchte kein faires Gehalt, oder einer wirklich sinnhaften Arbeit nachgehen?  

Lassen Sie mich ein wenig provozieren: Ludwig Lohmann, Programmmacher beim Leykam Verlag, hat zum Jahreswechsel im Börsenblatt folgendes zu Protokoll gegeben: „Ich würde mir wünschen, dass die Branche weniger auf menschlichen Verschleiß fährt und ständig neue, hoch motivierte Mitarbeitende in den Burnout schickt. Systemische Probleme sollen nicht länger auf persönlicher Ebene ausgetragen werden.“ Hat die Branche systemische Probleme?  

Isselbächer: Ich glaube, dass der Job es häufig mit sich bringt, dass man dazu neigt, auch über die eigene Arbeitszeit hinaus zu arbeiten. Ich finde es extrem wichtig, dass es da Signale aus der Geschäftsführung, von Vorgesetzten und von erfahreneren Kolleg:innen gibt, die da die Reißleine ziehen. Wir müssen eine gute Work-Life-Balance hinbekommen. Da können wir einiges von der viel beschworenen Generation Z lernen! Das bedeutet aber auch, dass es im Unternehmen genug Personal gibt, das die anfallenden Aufgaben gut auffangen kann.  

Was tun Sie im Verlag, um die von Ihnen gerade angesprochene Generation Z für sich zu gewinnen – und, womöglich noch wichtiger, zu halten?  

Isselbächer: Junge Menschen steigen bei uns häufig als Volontär:innen ein, es hat sich herumgesprochen, dass wir bei S. Fischer Volontariate, neben einem gut durchdachten Ausbildungspaket, wirklich sehr fair bezahlen. Wir sind z. B. auch Gütesiegel-Träger für Volontariate, das von den jungen Verlags- und Medienmenschen vergeben wird. Das ist keine Floskel. Menschen, die auf diesem Weg zu uns kommen, bringen über ihre Fachausbildung und diverse Praktika auch einen Wert ins Unternehmen ein, das sollten wir entsprechend vergüten. Wichtig ist ebenfalls, dass wir entsprechende Arbeitszeitmodelle anbieten. Teilzeit war klassischer Weise lange fast ausschließlich in Verbindung mit Care-Arbeit gedacht – wenn etwa Kinder oder pflegebedürftige Eltern zu betreuen waren, ging ich mit meiner Arbeitszeit runter. Dazu greifen Teilzeitmodelle auch meist in den letzten zehn Jahren eines Arbeitslebens. Von jungen Menschen erwarten wir aber, dass sie Vollzeit arbeiten – warum eigentlich?  

Ist man nicht raus, wenn man als Berufseinsteiger beim Vorstellungsgespräch nach Teilzeitmodellen fragt? 

Isselbächer: Das war lange so. Ich bin jetzt seit mehr als 20 Jahren im Personalbereich tätig. Ich erinnere mich an ein Vorstellungsgespräch, in dem eine junge Frau sagte: Ich würde gern 30 Stunden arbeiten, weil ich nebenbei noch tanze. Ich dachte: OK, schön – aber wer macht dann bitte die Arbeit? Inzwischen denke ich: Die Frau hat Recht! Ich arbeite selber in Teilzeit, und weiß sehr genau, dass da nicht weniger geleistet wird. Die Unternehmen müssen verstehen, dass beide Seiten, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, von solchen Lösungen profitieren. Wir haben mittlerweile immer häufiger Führungskräfte, die in Teilzeit arbeiten – warum dann nicht auch junge Menschen, wenn sie dadurch gesund und motiviert bleiben?  

Dennoch leiden wir alle unter einem Phänomen, das mit dem schönen Wort „Arbeitsverdichtung“ beschrieben wird… 

Isselbächer: Stimmt. Das ist auch bei S. Fischer ein Thema. Wir müssen angesichts der potenziell gestiegenen Erwartungen, die an Jobs geknüpft sind, darauf achten, dass Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Mitarbeitenden erhalten bleiben. Wir bieten unseren Mitarbeitenden diverse Programme zum Thema Work-Life-Balance, etwa Sportprogramme und individuell gestaltbare Arbeitszeitmodelle. Unsere Abteilungsleitenden sind angehalten, darauf zu achten, dass die Überstunden-Konten im Rahmen bleiben. Wir bieten eine ganze Palette an Benefits – von vermögenswirksamen Leistungen bis zu außertariflichen Sonderurlaubstagen oder einem Deutschlandticket. Dazu haben wir für alle Mitarbeitenden noch fünf zusätzliche Care-Days pro Jahr eingeführt.  

Das Gros der jungen Leute kommt in kleine Indie-Verlage, die sich so einen Strauß kaum leisten können. Was raten Sie denen?  

Ein Satz wie ‚Das haben wir schon immer so gemacht‘ ist heute mehr denn je ein No-go!  

Jessica Isselbächer, S. Fischer

Isselbächer: Ein wertschätzendes Miteinander ist aber auch in solchen Unternehmen möglich: Dass man einander zuhört, voneinander lernt. Auch in kleineren Verlagen gibt es häufig ein großes Generationen-Gap – ich habe die Verleger:innen oder Mitarbeitende, die schon viele Jahre dabei sind – und Einsteiger:innen, die mit Anfang 20 gerade aus dem Studium oder aus der Ausbildung kommen. Wenn ich wettbewerbsfähig bleiben möchte, muss ich mir auch anhören, was diese jungen Leute umtreibt! Feedback-Gespräche sind wichtig. Überhaupt: Die Generationen müssen miteinander sprechen! Ein Satz wie ‚Das haben wir schon immer so gemacht‘ ist heute mehr denn je ein No-go!  

Es geht also nicht nur um punktuelle Maßnahmen, sondern um eine grundlegende Weiterentwicklung der Organisations-Kultur? 

Isselbächer: Richtig. Ich muss als Unternehmer:in ein wertschätzendes Umfeld schaffen – und aufrecht erhalten. Es geht um ein „Wir-Gefühl“, das alle einschließt – vom Azubi bis zum:zur Geschäftsführer:in. Gelingt uns das nicht, bleiben wir stehen und entwickeln uns nicht weiter – und das ist auch in unserer Branche fatal.  

Worauf achten Sie als Personalerin bei Bewerbungen? 

Isselbächer: Dass jemand „gern liest“, setze ich voraus, das muss auch nicht in der Bewerbung stehen. Wichtig ist für mich eine ehrliche Antwort auf die Frage: Wieso S. Fischer? Wieso nicht zu einem anderen Verlag? Der Lebenslauf muss nicht immer geradlinig, aber erklärbar sein. Wenn es uns um eine diverse Unternehmenskultur geht, beginnt das schon beim Bewerbungsverfahren.  

Sind Sie offen für Initiativbewerbungen?  

Isselbächer: Ehrlich gesagt, bekommen wir relativ viele Initiativbewerbungen, die wir uns auch regelmäßig anschauen. Wir haben allerdings nur eine eher geringe Fluktuation. Wenn ich aber eine interessante Person identifiziere, für die aktuell in unserem Haus keine Vakanz offen ist, kommt es schon vor, dass ich meine Kolleg:innen in den Holtzbrinck-Schwesterverlagen auf die Bewerbung aufmerksam mache – natürlich immer nur nach vorheriger Rücksprache mit dem:der Bewerber:in.  

Wie wichtig ist eine Initiative wie der Karrieretag für Sie als Unternehmen?  

Isselbächer: Ich finde es wichtig, dass wir auf die vielen interessanten Möglichkeiten unserer Branche aufmerksam machen. Dass wir darüber sprechen, was uns im Verlag wichtig ist, worauf wir achten, nicht zuletzt im Ausbildungsbereich. Auszubildende sind für uns wertvolle Mitglieder des Teams. Wir legen großen Wert darauf, ihre Ausbildung umfassend zu gestalten und sie aktiv in unsere Arbeit einzubinden. Damit möchte S. Fischer auch ein Orientierungspunkt für andere Verlage sein. Die Tür für den Nachwuchs ist bei uns immer offen. Unsere Branche ist, heute mehr denn je, eine ungeheuer spannende. Das müssen wir auch kommunizieren und nach außen tragen – nicht zuletzt zu solchen Gelegenheiten wie dem Karrieretag auf der Leipziger Buchmesse.

Leipziger Messe: Leipziger Buchmesse 2024, Karrieretag (Leipziger Messe GmbH / Stefan Hoyer)

Nach Tätigkeiten als Personalerin in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen ist Jessica Isselbächer heute stellvertretende Personalleiterin und Ausbilderin bei den S. Fischer Verlagen in Frankfurt/Main. Neben ihrer Tätigkeit im Verlag engagiert sie sich als Mitglied im Berufsbildungsausschuss des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und setzt sich dort für die Belange des branchenspezifischen Nachwuchses ein. 

Wohnzimmer für Buch-Aficionados

Wohnzimmer für Buch-Aficionados

Ein Kaffeehaus zu führen ist für Eckehart „Ecki“ Grundmann kein Beruf, sondern Berufung – eine geistige Lebensform. Schon übers Jahr machen viele Autorinnen und Autoren, Journalisten, Maler und Grafiker das Grundmann zu ihrem zweiten Wohnzimmer. Zu Messezeiten kommen einfach Freunde aus ganz Deutschland dazu: „Das wächst wie eine Zwiebel – in immer neuen Schichten.“

 

Ein Hauch von Wien in LE: Mit etwas Glück im März auch schon Open Air (c) nk

„Auf die Leipziger Buchmesse bereitete man sich wochenlang vor“, heißt es im 25., schlicht „Leipziger Messe“ überschriebenen Kapitel des Romans „Der Turm“ von Uwe Tellkamp. „Man fuhr nicht hin, um ein paar Bücher in die Hand zu nehmen, auf- und wieder zuzuklappen; man fuhr hin, um durch ein Fenster ins Gelobte Land zu sehen. Das Fenster hatte Sedez-, Oktav-, Quart- und Folio-Format, am häufigsten aber maß es 19 x 12 cm… Taschenbuchformat. Dieses Maß war mit Linealen geprüft und vermessen, danach schnitt Babara das Innenleben der Messe-Mäntel zu, denn wo Taschenbücher waren, mussten auch Taschen sein.“ Messe-Erzählungen wie diese sind Legion in der Literatur, auch jenseits der Buchdeckel kursieren unzählige Anekdoten mit Bezug zu den Leipziger Ausnahme-Tagen, einer Art fünften Jahreszeit, und die meisten sind zu gut, um sie nicht wiederzugeben. Auch Eckehart Grundmann erinnert sich an Buchmesse-Mundraub, einen Messe-Mantel brauchte er nicht. Da er sich, neben der schönen Literatur, als Jugendlicher auch für schöne Autos interessierte, galt der dreisteste Zugriff einem Ziegelstein von Buch, „Eine Jahrhundertliebe. Menschen und Automobile“ (mit einem Geleitwort von Henry Ford II). Später sollte Grundmann das PS-starke Diebesgut verleihen – und niemals wiedersehen: „Der Freund ist heute der Meinung, dass ER es geklaut hat.“

 

Frisch gepresst: Ecki Grundmann beim Morgen-Kaffee (c) nk

Bei „Leipzig liest“ ist Eckehart Grundmann fast von Anbeginn dabei. Die erste Veranstaltung, in den 90er Jahren, damals noch im „Café Maître“, war eine Lesung mit Axel Hacke, dessen erster Auftritt im Osten: „Die Leute sind quasi auf die Kleiderständer geklettert, quetschten sich in Fensterbänke, es war unglaublich!“ Irgendwann ist der Grundmann-Dampfer dann komplett in Richtung des Münchner Verlags von Antje Kunstmann abgebogen. „Kunstmann liest im Grundmann“, hieß die Reihe, die sich meist über drei Buchmesse-Abende erstreckte – und zu denen der Leipziger Grafiker und Grundmann-Fan Thomas Matthäus Müller großartige Plakate schuf. „Es war eine symbiotische Sache, für alle Seiten wunderbar!“  

Kult-Reihe: Über Jahre schuf Thomas M. Müller großartige Plakate für die Buchmesse-Lesungen (c) TMM

Die Pandemie hatte der Verbindung zu den Verlagen, wie Grundmann sagt, „ein bisschen die Füße weggezogen“, inzwischen habe sich die „Wunde“ jedoch wieder geschlossen. Zur Buchmesse im März wird es immerhin einen Kunstmann-Abend geben – aber was für einen! Ella Carina Werner („Der Hahn erläutert unentwegt der Henne, wie man Eier legt“) wird hochkomische „feministische Tiergedichte“ lesen, die vor selbstbewussten, schwer empowerten Weibchen nur so wimmeln: „Die Eule liebt sich, wie sie ist / Anarcho-Punk und Antichrist.“ Am Messe-Donnerstag trifft sich das Netzwerk der Literaturhäuser, und für den für Samstagabend geplanten „Comixautomatenabend“ im „Grundmann“ muss der Chef nur noch den derzeit ins Treppenhaus gerückten Automaten reanimieren und mit neuem Content bestücken. Eckehart Grundmann wird mit dem Cartoonisten Beck, dessen Arbeiten derzeit die Wände des Cafés zieren, Comics vorlesen, „Sprechblasen mit verteilten Rollen“. 

Legendäre Buchmesse-Abende im Grundmann (c) TMM

Gegen zehn wenn viele andere Veranstaltungen in der Stadt beendet sind, setzt die altbekannte Wanderung ins „Grundmann“ ein. Dann steppt der Bär, und das Personal schiebt Überstunden: Tische werden zusammengeschoben – erst zwei, dann drei, immer mehr. „Manchmal sieht das aus wie eine große Schlange, die sich durchs Café windet.“     

Café Grundmann, August-Bebel-Straße 2, 04275 Leipzig

Das grüne Klassenzimmer

Das grüne Klassenzimmer

Das OberHolzHaus, eine Basisstation für kleine und große Forscher, direkt hinterm Botanischen Garten Großpösna, macht seinem Namen alle Ehre: Gebaut ist das Blockhaus aus 120 Jahre alten Fichten, eingeschlagen im Werdauer Wald, nahe Plauen. Dem Specht gefällt’s offenbar, die Spuren seines scharfen Schnabels sind deutlich im Holz zu sehen. „Willkommen in unserem grünen Klassenzimmer“, sagt Ralph Billwitz, der uns in korrekter Forstmontur begrüßt. Im Raum riecht es aromatisch, ein Hauch von Winterurlaub. Ein Eisenofen bollert gemütlich, Billwitz legt noch ein paar Scheite nach. „Wir machen keinen strengen Unterricht, wir bringen Kindern und Erwachsenen die Natur spielerisch nahe.“ Hin und wieder – etwa im Rahmen von „Leipzig liest“ – geht es im OberHolzHaus sogar literarisch zu.

 

Die Birke gilt als durstig. Dieses Exemplar hat die trockenen Sommer der letzten Jahre nicht unbeschadet überstanden. (c) nk

Obwohl er in Leipzig aufgewachsen ist, in einer Großstadt also, war Ralph Billwitz immer draußen in der Natur: Nach der Schule ging’s aus der elterlichen Wohnung in Lößnig raus in die Wälder und auf die Wiesen zwischen Silbersee und Leinestraße; der heutige Erholungspark Lößnig-Dölitz war damals AGRA-Vorführgelände für Meliorationstechnik, „da standen Kühe auf der Weide“. Die Großeltern väterlicherseits wohnten in Beucha. „Das war komplett ländlich, der Riesengarten mit Hühnern ein Paradies.“ Tierpfleger wollte er eigentlich werden, nahm dann aber 1982 eine Lehre in der Forstwirtschaft auf und absolvierte, als letzter DDR-Jahrgang, ein Studium zum Forstingenieur in Schwarzburg. Seit der Wende kann er sich Diplom-Forstwirt (FH) nennen, in der neugegründeten Forstverwaltung Sachsen arbeitete er als Revierleiter, später kümmerte er sich um Forstförderung und die IT des Forstbezirks. Und drückte nach 2015 noch einmal die Schulbank, um staatlich anerkannter Waldpädagoge zu werden.

 

Das OberHolzHaus ist für die Ewigkeit gebaut. „Nachhaltigkeit zum Anfassen“, sagt Ralph Billwitz. (c) nk

Seit der Fertigstellung des Waldpädagogischen Zentrums OberHolzHaus 2017 kümmern sich Ralph Billwitz und seine Kollegin Christiane Wolfram um die Arbeit mit Kita-Gruppen, Schulklassen, aber auch Familien, interessierten Erwachsenen und Pädagogen. „In Sachsen hat fast jeder der 13 Forstbezirke so ein Zentrum“, erklärt Billwitz. In den diversen Programmen lassen sich etwa die Tiere und Pflanzen des Waldes kennenlernen und seine „Schichten“ entdecken, man kann dem Förster über die Schulter schauen oder bei einer Wald-Rallye als Team zusammenwachsen. Gymnasiasten können das heimische Waldökosystem erforschen. Aber egal, ob sich die Kleinen im „Hobbithaus“ drängen oder an der „Tierweitsprunggrube“ Bauklötze staunen – ein Wildschein bringt es auf immerhin vier Meter! – oder ob die Großen den Wald der Zukunft entwickeln – das Thema Nummer eins, von den Erstklässlern bis zu den Abiturienten, ist: Nachhaltigkeit.

Das Hobbithaus ist eine Attraktion für die Kleinen. (c) nk

Der Begriff, heute oft zum Allerweltswort heruntergekommen, ist in der Forstwirtschaft – und ganz in der Nähe! – entstanden: durch Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714). Der war Oberberghauptmann am kursächsischen Oberbergamt in Freiberg, seine Familie besitzt noch immer ein Rittergut in Heyda hinter Wurzen. Angesichts einer drohenden Holzverknappung und Ausbeutung der Wälder am Ende des 17. Jahrhunderts formulierte von Carlowitz 1713 in seinem Werk „Sylvicultura oeconomica“ erstmals, dass immer nur so viel Holz geschlagen werden sollte, wie durch planmäßige Aufforstung wieder nachwachsen kann. Damit legte er den Grundstein für die deutsche Forstwirtschaft und das Prinzip des nachhaltigen Umgangs mit Rohstoffen. Dem OberHolzHaus ist der Nachhaltigkeits-Gedanke ganz handgreiflich eingeschrieben, es ist ein famoser Kohlendioxid-Speicher. Holz schafft nicht nur ein gutes Raumklima, der Baustoff bindet CO2 und wächst sogar nach – allerdings nur „bei kluger, nachhaltiger Wirtschaft“, wie Billwitz betont.

 

Prost, Birkenzauber! (c) Sebastian Riekehr

Wenn nun im Rahmen von „Leipzig liest“ das Porträt der „Birken“ präsentiert wird, ein neuer Band der phantastischen, von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe „Naturkunden“, dann ist das OberHolzHaus der perfekte Ort. Die Pionierpflanze mit den zarten, klebrigen Blättern ist nämlich einem Leipziger Braumeister ins Auge gefallen – als Zutat für das von ihm kreierte Bier mit dem poetischen Namen „Birkenzauber“. Seit das extravagante Bier aus dem Wald Gold bei den World Beer Awards einheimste, sind die unter Verwendung von Champagnerhefe, Hopfen und Malz gebrauten 600 Liter „Birkenzauber“ leider ausgetrunken. Aber wer weiß? Vielleicht zaubert Ralph Billwitz für den „Leipzig liest“-Abend im Zeichen der Birken ja noch ein paar Flaschen aus dem Deputat der Forstverwaltung. Es wäre echt zauberhaft. 

Waldpädagogisches Zentrum OberHolzHaus, Störmthaler Weg 2a, 04463 Großpösna

Steffi Memmert-Lunau: Birken. Ein Portrait. Matthes & Seitz Berlin 2025. 160 Seiten, 22 Euro (erscheint am 20. März 2025) 

Die Lesung im OberHolzHaus findet statt am Freitag, den 28. März, um 19 Uhr.

„Mutter aller Kulturkneipen“ 

„Mutter aller Kulturkneipen“ 

Fragt man naTo-Programmchef Torsten Hinger, wie die Geschichte mit ihm und ‚seinem’ Haus begann, kommt man ziemlich schnell aufs Theater: Als Hinger 1982 eine Wohnung in der Dufourstraße im Leipziger Süden besetzt hatte (auch das gab es in der DDR!), fiel ihm recht bald das Kulturhaus „Nationale Front“ Ecke Karl-Liebknecht/Körnerstraße auf, offensichtlich ein Hotspot der Subkultur. Die Theatertruppe, die Hinger mit seinen Freunden gründete (für eine Band reichten die musikalischen Fähigkeiten nicht), fand hier ein Domizil zum Proben und für gelegentliche Auftritte, und da das Kind irgendwie heißen musste, nannte man sich „Fronttheater“ – und erspielte sich am Jugendklubhaus „Walter Barth“ in Paunsdorf (heute: Villa Breiting) eine „Einstufung“, vulgo „Pappe“. In rascher Folge kamen Stücke heraus, Dramatisierungen von Salingers „Fänger im Roggen“ oder Raymond Queneaus „Stilübungen“ – für Furore sorgte 1987 eine Bearbeitung von Peter Turrinis „Rattenjagd“, immerhin eine DDR-Uraufführung. Im Oktober 1989 fragte Götz Lehmann, laut Stellenplan Hausmeister des Klubs, tatsächlich aber Impressario zahlreicher subkultureller Aktivitäten – von Filmabenden mit Lutz Dammbeck bis zu schrägem Jazz – ob Hinger nicht mittun wolle. „Ein halbes Jahr später war ich Geschäftsführer.“ Torsten Hinger stürzte sich kopfüber in die Programmarbeit. „Man konnte hier viel bewegen. Die Leute waren hungrig nach Pop-Kultur, egal, ob Musik, Film oder Theater. Es gab einen riesigen Nachholbedarf.“ Bis auf ein paar Semester Studium und ein Intermezzo in einer Werbeagentur blieb Hinger der naTo treu. Bis heute. 

Literatur satt gibt es in der naTo vor allem zur Buchmesse und, wie hier, beim Literarischen Herbst. (c) nk

Die Geschichte dieses Ausnahme-Klubs handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume – und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Übernahme. Bis dahin hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“ in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden, Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual. Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünstler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die Jazz-, Rock- und Punkszene. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990 das monetäre Ende der DDR besiegelt. Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren, Avantgarde und Volksfest fließend sein können. 

 

Eine Sternstunde in der naTo-Geschichte war das Titanicfest in der Nacht der D-Mark-Einführung. Erkennen sie den Autor unseres Textes? (c) naTo

Literatur hatte auch in der naTo eine Anlaufstelle – auch wenn zu DDR-Zeiten auf diesem Gebiet eher der Jugendklub „Arthur Hoffmann“ (heute: Haus Steinstraße) unter seiner Chefin Brigitte Schreier-Endler glänzte: Von 1979 bis 1989, den Jahren, in denen die Frau des Schriftstellers Adolf Endler den Klub leitete, fanden dort über 70 Lesungen statt – von Heiner Müller über die Literaturszene des Prenzlauer Bergs bis zu Leipziger Nachwuchsautorinnen und -autoren. Die naTo hat von der (nicht nur räumlichen) Nähe profitiert – und präsentiert bis auf den heutigen Tag auch Literaturveranstaltungen – die geballte Ladung gibt es zur Leipziger Buchmesse im März und zum Literarischen Herbst im Oktober. Zu „Leipzig liest“ liegt der Schwerpunkt auf internationaler Literatur – ein Highlight ist seit gut zehn Jahren die „Nordische Lesenacht“, die in Zusammenarbeit mit den Botschaften und Kulturinstitutionen der nordischen Länder organisiert wird. Als die rund 100 Gäste fassende naTo nach mehreren Jahren aus allen Nähten brach, zog man in die Kulturfabrik Werk 2 um. 

Lesungen haben einen festen Platz im naTo-Programm, Technik und Licht genügen höchsten Ansprüchen. Hier Joachim Hentschel („Dann sind wir Helden“) im Gespräch mit Marion Brasch (c) Gert Mothes

Über die Jahre hat die naTo nachhaltig in Technik, vor allem aber in den Bereichen Gastro und Barrierefreiheit investiert. Behindertengerechte Toiletten und eine Hebebühne für Rolli-Fahrer wurden eingebaut; seit vielen Jahren arbeitet die naTo mit dem Inklusionstheater Ensemble 23 zusammen. Ab Mai wird nun wieder gebaut: Das Haus bekommt endlich eine akustische Trennung zum Nachbargebäude, die Elektrik und Be- und Entlüftung werden erneuert. Der Umbau-Etat beträgt etwas über eine Million und stammt aus sogenannten „PMO“-Mitteln, Geld aus Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR, das nach der Wiedervereinigung durch die Treuhandanstalt verwaltet wurde. Für Torsten Hinger eine schöne Pointe, dass SED-Kohle nun der Kulturarbeit von unten zu Gute kommt. Mit einem weinenden Auge blickt er auf den Umstand, dass der Veranstaltungsbetrieb wohl von Mai bis Dezember ruhen wird. Zur Buchmesse im März ist die „Mutter aller Kulturkneipen“ allerdings noch mal für eine literarische Weltreise gut: Wetten, dass das Licht in der naTo, wie damals in Wendezeiten, erst gegen Morgen ausgeht?

Der Band 30 Jahre naTo (Passage Verlag, Leipzig) bietet in persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte dieses besonderen Kulturortes.

„Biografischer Glücksfall“ 

„Biografischer Glücksfall“ 

Wie haben Sie Jon Fosse eigentlich entdeckt? Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als er hier noch völlig unterhalb des Radars flog…? 

Hinrich Schmidt-Henkel: Ich hatte Jahre vor dem entscheidenden Theaterbesuch in Bergen einen Band mit Erzählungen von ihm in der Hand. Er war mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt. Ich habe seinen außergewöhnlichen Stil gesehen, war aber dafür wohl noch nicht reif. Im Juni 1995 sah ich in einem Schaukasten am Theater „Den Nationale Scene“ in Bergen, dass dieser Fosse offensichtlich für die Bühne schrieb. Das hat mich interessiert – und mit einem Stipendium des norwegischen Dramatikerverbandes konnte ich zwei Stücke übersetzen. Der Rowohlt Theaterverlag hat rasch zugegriffen – und so ziemlich dasselbe gesagt wie ich: Genuines Theaterfutter, das muss auf die Bühne! Das kann Schauspielerinnen und Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen nur brennend interessieren! Aber: Es steht so ziemlich quer zu allem, was gerade Erfolg hat – das waren zu der Zeit die Stücke von Sarah Kane und Mark Ravenhill. Nils Tabert, damals Lektor im Rowohlt Theater Verlag, seit 2010 dessen Leiter, hat es dann dem Richtigen zum richtigen Zeitpunkt gegeben. Dazu waren die deutschen Theaterleute noch durch eine französische Produktion von Fosses „Da kommt noch wer“ („Nokon kjem til a komme“) der Theater-Legende Claude Régy (1923-2019) angefixt. Und dann gab’s eben schon zwei Stücke auf Deutsch, und die deutschen Theater konnten sich sofort ein Bild machen.

Welche Inszenierung hat den Durchbruch gebracht? 

HSH: Thomas Ostermeier bekam den Zuschlag für eine Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, in Kooperation mit der Berliner Schaubühne. Das war natürliche eine phantastische Adresse für die allererste deutschsprachige Erstaufführung – und hatte große Signalwirkung. Dazu kommt, dass die französische und die deutsche Theaterlandschaft international eine Art Durchlauferhitzer-Funktion haben. Plötzlich waren alle sehr wach – und es begann eine enorme internationale Theaterkarriere von Jon Fosse. Die hat dann auch Interesse für sein schon vorliegendes, nicht eben kleines Prosa-Werk geweckt. Er ist mit seiner Art, Dinge zur Sprache zu bringen, ohne sie zu benennen, universell; er wird im Iran so verstanden wie in Japan, in Caracas, St. Petersburg und St. Peter Ording… (lacht). 

Sie haben in 30 Jahren rund 25 Stücke und sieben Romane von Jon Fosse übersetzt?  

HSH: Sicher mehr. Es ist die relevanteste literarische Beziehung meines Lebens, so kann man das sagen. Insofern ist es auch ein biografischer Glücksfall, dass ich diesen neu geschaffenen Preis bekomme. Würde es nicht so nach Grabrede und Aufhören klingen, könnte ich sagen: Ein Kreis schließt sich.  

Haben Sie bereits mit der Dankrede begonnen? 

HSH: Im Kopf schon. Sie soll nicht länger als fünf bis sieben Minuten dauern. Das ist schwierig, weil ich gern Grundlegendes zum Übersetzen, zum eigenen Metier sagen möchte: Was macht das Schreiben von Jon Fosse aus? Was hat es mit dem viel beschworenen Rhythmus und der Musikalität auf sich? Wie sieht Rhythmus in der Literatur aus, wie entsteht er, wie ist er beim Übersetzen einzufangen – solche Sachen. 

Wie haben Sie 2023 vom Nobelpreis erfahren?  

HSH: Ich habe es, ehrlich gesagt, nie für möglich gehalten; bei aller Wirkung ist es ja auch ein ‚schräger‘ Autor. Dennoch habe ich in den Jahren davor immer mal bei der Bekanntgabe durch die Akademie gestreamt. 2023 hatte ich eine furchtbare Deadline im Nacken, als auf einmal der Deutschlandfunk anrief: Ob ich, im Fall des Falles, für ein Interview zur Verfügung stünde? – Natürlich, wann genau sei das denn? – Na, heute! – Dann habe ich mir fest vorgenommen, gegen 13 Uhr zu streamen, war aber so in die Arbeit vertieft, dass ich alles um mich herum vergessen habe. Als Sekunden nach 13 Uhr auf dem Display meines Telefons „Ebba“ stand – Ebba Drolshagen, eine gute Übersetzerfreundin und Norwegen-Kennerin – wusste ich, was passiert war. Alle Deadlines vergessen – und alles übersetzen, was von Fosse noch nicht übersetzt war. Die kommenden zwei Wochen waren ein ziemlich intensiver Ritt. Nach einem halben Tag habe ich Jon dann eine SMS geschrieben: Kondoliere & gratuliere!  

Sind sie als Übersetzer auch so etwas wie die Mischung aus Scout, Strippenzieher und Entdecker? Wie wichtig ist dieses Kommunikations-Geschäft bei der Durchsetzung von Autorinnen und Autoren?  

HSH: Diese Vorfeldarbeit kann ich für mich nicht so sehr in Anspruch nehmen. Das täte ich gern und habe es auch am Anfang meiner Laufbahn versucht. Ich wollte es richtig machen, habe auch einen Lehrgang „Internationaler Lizenzhandel“ an den Schulen des Deutschen Buchhandels in Frankfurt besucht. Später bin ich vor lauter Übersetzen kaum dazu gekommen. Ich habe aber eine ganze Reihe von Übersetzer-Kolleginnen und -kollegen, gerade aus dem Norwegischen, die genau DAS machen – OBWOHL sie fleißig übersetzen! Das bewundere ich maßlos. Ihr Verdienst um den norwegisch-deutschen Literaturaustausch ist kaum zu ermessen. Früher ging es nicht ohne diese Kärrnerarbeit – 1987, als ich anfing, gab es zum Glück schon die segensreiche Einrichtung NORLA, die den Literaturexport fördert. Das waren damals anderthalb Leute, die aber sehr professionelle Vernetzungsarbeit leisteten. Kristin Brudevoll begann damals, die Auslandsmärkte zu erschließen – die Verlage hatten damals noch nicht in jedem Fall Leute, die sich um die ausländische Lizenzvermarktung kümmerten. Gyldendal war da ein Vorreiter. Heute machen das alle Verlage hoch professionell.  

Norwegen als Gastland in Frankfurt 2019 hat eine große Rolle gespielt – Sie haben da um die 50 Veranstaltungen absolviert. Besitzen Sie die Gabe der Multi-Lokalität? Oder hatten Sie Doppelgänger im Einsatz? 

HSH: Nicht verraten! (lacht). Es war rasant, aber die Veranstaltungen zogen sich natürlich über einige Monate.  

Ernsthafter Kern der Frage: Für die Durchsetzung der norwegischen Literatur war 2019 eine wichtige Wegmarke?  

HSH: Vielleicht war der Gastlandauftritt ein Symptom dafür, wie durchgesetzt die norwegische Literatur bereits war. 2018 bis 2020 wurden um die 500 Bücher allein ins Deutsche übersetzt! 

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit dem Guggolz Verlag in Sachen Tarjei Vesaas?  

HSH: Sebastian Guggolz ist ein Phänomen – den gibt es wirklich mindestens drei Mal: Weil er wahnsinnig viel arbeitet und liest, und dann noch ins Kino geht und Sport treibt. Dem war Tarjei Vesaas empfohlen worden – und der fragte mich dann: Kennst Du den? Und würdest Du den für mich übersetzen? Wir machten den ersten Vertrag über „Das Eis-Schloss“. Dann „Die Vögel“. Dann „Der Keim“. Und jetzt im Frühjahr kommt mit „Frühlingsnacht“ ein neuer Vesaas bei Guggolz heraus. Ein Roman, der einerseits leicht zu lesen ist – und auf der anderen Seite die ganze Meisterschaft von Tarjei Vesaas in nuce enthält. Der übrigens auch ein großes Vorbild im Schreiben ist für Jon Fosse: Vesaas arbeitet mit sehr diskreten und zärtlichen Andeutungen, mit denen er es aber schafft, gestochen scharfe Tiefenporträts von Figuren zu zeichnen – hier das eines 15jährigen, der über Nacht erwachsen wird. Ich bin absolut glücklich, dass Sebastian Guggolz diese Vesaas-Reihe macht – das ist nicht selbstverständlich bei einem Verlag, der vier bis fünf Titel pro Jahr veröffentlicht. 

Wie fing es mit Ihnen und der norwegischen Literatur überhaupt an? Ich habe gelesen, dass Sie ganz früh Artikel und Radiofeatures im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur geschrieben haben? 

Mit 27 dachte ich: Moment mal, Übersetzen ist doch ein Beruf!

Hinrich Schmidt-Henkel

HSH: Wenn man als frischgebackener arbeitsloser Lehrer anfängt, sich ins Übersetzen reinzuschmuggeln, versucht man, alle Kanäle auszuschöpfen. Ich hatte meine Examensarbeit über Kinder- und Jugendliteratur geschrieben. Und erinnere mich noch gut daran, wie uns unsere Grundschul-Lehrerin „Die Räuber von Kardemomme“ des Norwegers Thorbjørn Egner  vorlas. Das war dann über Jahre mein Lieblingsbuch. Als ich dann Norwegisch lernte, kam mir im zarten Alter von 27 eines lauen Sommerabends der Gedanke: Moment mal, das Übersetzen ist doch ein Beruf! Was ich eigentlich schon lange wusste, da meine Eltern mit einem berühmten Übersetzer aus dem Französischen, Eugen Helmlé, gut befreundet waren. Ich versuchte, auf der Buchmesse Aufträge zu akquirieren. Ein norwegisches Buch bekam damals den Jugendliteraturpreis in der Bilderbuchsparte, „Abschied von Rune“ von Marit Kaldhol und Wenche Øyen… Ich habe damals versucht, viel zu lesen, zu assimilieren, viel kennenzulernen, Dinge zu finden, die sich zu vermitteln lohnen. Einiges von dem, was ich in den Jugendbuch-Abteilungen norwegischer Verlage entdeckt habe, habe ich in Fach-Artikel oder Radiobeiträge gepackt.  

Haben Sie einen Kinderbuch-Tipp für uns? 

HSH: Was jetzt bei Fischer-Sauerländer wieder auf Deutsch gekommen ist, ist Jon Fosses Bilderbuch „Schwester“, illustriert von Aljoscha Blau, das 2007 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten hat. Man sieht da sehr schön, dass dieser Universal-Künstler auch so schreibt, dass es für kleine Kinder im Vorlese-Alter geeignet ist. Ein Jury-Mitglied hat das damals im Feldversuch mit Dreijährigen erprobt – es funktioniert! Ich bin sehr offen dafür, auch wieder mehr im Kinder- und Jugendbereich zu übersetzen.  

Sie werden auch im März in Leipzig sein? 

HSH: Ich werde während der Leipziger Buchmesse vier Lesungen mit zwei Autoren haben: Das ist einmal Lars Mytting, Autor der großartigen „Schwesternglocken“-Trilogie (Insel). Dazu kommt Tomas Espedal mit seinem neuen Buch „Lust“ (Matthes & Seitz Berlin) nach Leipzig. Tomas ist – ähnlich wie Jon Fosse – einer von denen, die eigentlich schreiben können, was sie wollen – und es ist immer wieder großartig zu lesen!  

Als Sie beide uns 2019 beim Literarischen Herbst besuchten, hat Tomas auf offener Bühne die Ansage gemacht: Keine Lesungen mehr!  

HSH: Tomas hat sich von dem Tag an dran gehalten – bis heute. Er hat sein Leben ziemlich umgekrempelt, ist noch einmal Vater geworden. Und lässt sich tatsächlich wieder einmal auf diese nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtigen Lesereisen ein.  

Lieber Hinrich Schmidt-Henkel, vielen Dank für dieses Gespräch. Wir freuen uns auf Sie! 

   

Tomas Espedal (links) und Hinrich Schmidt-Henkel im UT Connewitz: Eigentlich sollte dieser legendäre Auftritt 2019 Espedals letzter sein (c) Gert Mothes

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Königlich Norwegischen Verdienstorden und zuletzt mit dem ersten Fosse-Preis für Übersetzer. Die Fosse-Vorlesung und die Verleihung des Fosse-Preises werden am 24. April 2025 im Königlichen Palast in Oslo stattfinden, organisiert von der norwegischen Nationalbibliothek. Schirmherrin für beide Auszeichnungen ist Kronprinzessin Mette-Marit.