Kraft von Geschichten

Kraft von Geschichten

Fotos: Thomas Victor

Hörspiele anhören, im besten Fall gut finden – das kann jeder. Aber ein Hörspiel selbst produzieren, vom frei gewählten Thema bis zum fertigen Stück, in einem wahren Höllentempo – das ist cool. Im Rahmen der Werkstatt+ der Leipziger Buchmesse, koordiniert von der European Learning Industry Group (ELIG), konnten Schülerinnen und Schüler von der fünften bis zur 12. Klasse innerhalb von zwei Tagen gemeinsam ein Hörspiel entwickeln – einen kollektiven Messekrimi. In sechs kurzen Workshops sollte ein akustisches Format entstehen, das von Themenfindung und Stoffentwicklung über die Aufnahme und das Schauspielen bis zur Produktion von den Nachwuchs-Hörspielmachern selbst gestaltet und umgesetzt wird. Das Ganze mit viel Improvisation, einem Höchstmaß an Selbstbestimmung und in intensiver Teamarbeit. Die ersten vier Gruppen entwickelten je ein Kapitel des Hörspiels, die letzten beiden Gruppen kümmerten sich um Sounddesign, Schnitt und Montage. Und alle konnten voneinander lernen: Waren die Jüngsten am Überzeugendsten in der schauspielerischen Improvisation, verstanden es die Ältesten, logische Mängel im Storytelling aufzuspüren.

„Hey, ich kann Hörspiel!“

„Durch die Arbeit im Kollektiv lernen die Jugendlichen einerseits alle Schritte einer Hörspielproduktion kennen, andererseits erfahren sie, dass innerhalb einer Stunde eine Szene entwickelt, gespielt und aufgenommen werden kann“, sagt die Hörspielmacherin Carina Pesch, die die Workshops leitete. „Empowerment“, nennt Pesch das, ein Begriff, der häufig in Sozialarbeit und politischer Bildung benutzt wird. Pesch, Jahrgang 1983, lebt als Autorin, Regisseurin und Klangkünstlerin in Leipzig; im Verein Geräuschkulisse e.V. engagiert sie sich für den Erhalt und die Verbreitung von Hörstücken – egal ob dokumentarisch oder fiktiv, ob Hörspiel, Feature oder Klangkunst. Im Rahmen der Werkstatt+ auf der Buchmesse, angesiedelt im Fokus Bildung in Halle 2, wurden Schülerinnen und Schüler zu Online-Journalisten, die live übers Messegeschehen berichteten, oder eben zu kreativen Hörspielmachern.

Die Schülerinnen und Schüler hatten die Vorgabe, einen Krimi, der auf der Buchmesse spielt, zu entwickeln. Wer nun an eine angestaubte „Emil und die Detektive“-Adaption dachte, war schief gewickelt. Überraschenderweise waren es die Jüngsten, die das Thema „Social Media“ setzen – und überaus reflektiert und kritisch damit umgingen. „Wichtig war den Kids von Anfang an, dass soziale Medien per se weder ‚gut’ noch ‚böse’ sind – sondern dass es auf den richtigen Umgang mit ihnen ankommt“, erinnert sich Pesch. Als Dreh- und Angelpunkt dienten den jungen Hörspielmachern „Challenges“ wie die „Blue Whale Challenge“, die über soziale Medien verbreitet werden und die Teilnehmer im Laufe der Zeit zu kriminellen Aktionen, in Extremfällen sogar zum Selbstmord treiben. Ein ernstes Thema, das viele Erwachsene vermutlich nicht auf dem Schirm haben – an Schulen aber heiß diskutiert wird.

Hochgeschwindigkeits-Pingpong

Während eine reguläre Hörspielproduktion – etwa für einen öffentlich-rechtlichen Sender – ein hoch professionelles Team bis zu drei Monaten auf Trab halten kann, standen Carina Pesch auf der Buchmesse sechs anderthalbstündige Workshops, verteilt auf zwei Tage, zur Verfügung. „Das war ein sehr sportliches Programm“, erinnert sie sich, „was aber auch seine Vorteile hatte: Alles war Improvisation, alles musste sehr, sehr schnell gehen. Im Vergleich zu uns Erwachsenen sind Kinder und Jugendliche unglaublich gut darin, ganz spontan ganz tolle Ideen auf den Tisch zu packen. Meine Aufgabe war es dann, die Ideen rauszugreifen, die für die Geschichte funktionieren könnten. Und dann den Ball wieder zurückzuspielen und zu fragen: OK, wie könnte die Geschichte jetzt in Fahrt kommen?“ Ein Hochgeschwindigkeits-Pingpong, das allen Beteiligten hörbar Spaß machte.

Ein verblüffender Twist

Da die Kinder und Jugendlichen alles selbst entwickelten, ist die entstandene fiktive Geschichte sehr nah an ihrer Lebensrealität angesiedelt. Vom Ausgriff ins Manga-Genre bis zur psychologischen Auslotung des Täter-Profils: Oft wurde in der schauspielerischen Improvisation auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen. Auch der verblüffende Twist der Story, dass der jugendliche Entführer Täter und – als Teilnehmer einer Challenge – Opfer in einer Person ist, entstand im kreativen Arbeitsprozess der Gruppe. „Das ist etwas, was Geschichten stark macht und uns zeigt, warum sie andere Menschen berühren können“, sagt Carina Pesch. „Weil wir immer etwas von uns selbst mit hineingeben, wozu andere in Beziehung treten können“.

Fokus Bildung Deutschlands größte Leseförderungs- und Medienbildungsmesse. Damit sich auch der Nachwuchs aktiv in die Politik einmischt und eine offene Diskussionskultur lebt, widmet sich die Leipziger Buchmesse seit 2018 verstärkt neuen Ansätzen zur politischen Bildung und zur Förderung von Medienkompetenz. Die Werkstatt+, ein Gemeinschaftsprojekt der Leipziger Buchmesse, der Verlagsgruppe Westermann, der AOK Plus und Lemonaid, organisiert von der European Learning Industry Group (ELIG), soll kreatives Denken fördern und Möglichkeiten vernetzten Lernens demonstrieren – von der Frage, wie Geschichten in Hörspiel und Film entstehen, bis zu Wissenschaft, Journalismus oder den Sozialen Medien.

Wettstreit der Worte

Wettstreit der Worte

Fotos: Nils Kahlefendt

„Es ist schön, im Sommer Eis zu essen. / Es ist schön, im Winter Tee zu trinken. / Es ist schön, auszuschlafen. / Es ist schön, den Tag mit Freunden zu verbringen…“ Der Junge liest seinen selbst geschrieben Text, anfangs stockend, dann immer selbstsicherer. Nach jeder Zeile wirft die Klasse im Chor ein „Es ist schön!“ ein. Call and Response, die Sache kriegt richtig Rhythmus, mein Bein wippt unbewusst mit.

Ein Vormittag in der 8 c am Luther-Melanchthon-Gymnasium in Wittenberg. Keine normale Physik- oder Deutschstunde: Die Klasse beteiligt sich an der zweiten Runde des Democracy Slam, den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und die Leipziger Buchmesse organisiert haben. Unter Anleitung von erfahrenen Slammern entwickeln Kinder und Jugendliche eigene Texte, die sich um Gerechtigkeit, Diversität, aber auch Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit drehen. Das Format erlaubt es den Kids, ihre Gedanken, Zukunftswünsche und -ängste auf ganz besondere Weise auszudrücken. Die Vorbereitungen für den Slam finden diesmal nicht erst auf der Buchmesse statt, sondern bereits im Vorfeld an verschiedenen Schulen und Bildungseinrichtungen.

Juliane Nitschke, die als Respekt Coach am Wittenberger Gymnasium arbeitet, hat sich mit der 8 c am Democracy Slam beworben – und ist ausgewählt worden. Nitschke ist im Rahmen eines von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey aufgelegten Präventionsprogramms tätig. „Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen über Projekte und Einzelfallarbeit demokratische Werte zu vermitteln und sie gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Extremismen aller Art zu immunisieren“, sagt die studierte Kulturpädagogin. Gerade bereitet sie mit dem Geschichtslehrer ihres Gymnasiums ein Projekt zum Thema Zivilcourage vor.

Inzwischen sind Tische und Stühle an den Rand geräumt; die Schülerinnen und Schüler probieren in einem Sensibilisierungsspiel, wie es sich anfühlt, Macht abzugeben: In kleinen Gruppen und mit geschlossenen Augen navigieren sie durch den Klassenraum, flüstern einander Hinweise und Warnungen zu. Die nächste Aufgabe an diesem Workshop-Vormittag dreht die Verhältnisse wieder um: Was wäre, wenn wir die Bestimmer der Welt wären? Aufgeteilt in Vierer-Teams sollen die Mädchen und Jungen eine Agenda für den Tag des Machtantritts entwickeln. Getuschel, Gelächter, erste Ideen. Es läuft.

Tanasgol Sabbagh, die Leiterin des Workshops, wurde 1993 im iranischen Amol geboren. Seit 2011 tritt sie bundesweit als Profi-Slammerin auf. Sabbagh ist in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen und hat in Marburg Orientwissenschaft und Politik studiert; seit zwei Jahren lebt sie in Berlin und ist Stammautorin der Lesebühne „Parallelgesellschaft“. In ihren Texten beschäftigt sie sich häufig mit sozialen und gesellschaftlichen Missständen wie Rassismus oder Sexismus – und auch in den Workshops, die sie für Menschen zwischen 12 und Anfang 20 gibt, spielen diese Themen eine Rolle. Mit Kindern und Jugendlichen arbeitet sie besonders gern: „Ich glaube nicht, das jeder und jede Schriftsteller oder Slam Poetin werden muss“, sagt sie lachend. „Aber der Wettstreit mit Worten ist eine ganz gute Art und Weise, Zugang zu sich selbst zu finden. Kinder darin zu bestärken, ihre ureigensten Gedanken zu formulieren – das ist eine Transferleistung, die im Strengeren Curriculum der Schule oft zu kurz kommt.“

Inzwischen ist die Gruppenarbeitsphase beendet, hat sich die Klasse wieder zum lockeren Kreis formiert. Jede Gruppe wählt einen Sprecher, der die Ergebnisse des „Wenn ich die Welt regieren würde“-Brainstormings vorträgt. „Umweltschutz“, „Recht auf Bildung für alle“ ist zu hören, „Massentierhaltung abschaffen“ und „alle Kriege sofort beenden“. Eine Gruppe möchte, dass in der Schule nur noch „die wichtigsten Fächer“ unterrichtet werden, aber es werden auch Forderungen nach „Schokolade für alle“ laut oder der Wahl des Hamsters zum „National-Tier“. Ein großgewachsener Bursche fordert die „Todesstrafe für Vergewaltiger“, die Absenkung aller Steuern auf zehn Prozent und die Abschaffung von Hartz 4 – „die Leute sollen stattdessen verpflichtet werden, sich Arbeit zu suchen“. Tanasgol Sabbagh ist vermutlich stärkeren Tobak gewöhnt als an dieser auf den ersten Blick so offenen und vorbildlich eingerichteten „Europaschule“, für die Friedensreich Hundertwasser Ende der 90er Jahre einen tristen Plattenbau vom Typ „Erfurt II“ umgestaltete. Der Workshop ist auf gutem Weg: „Ich will, dass die Kids auch bei sich sind – und nicht nur bei den ganz großen Themen.“ Am Messefreitag treten die mutigsten Demokratie-Dichter im Forum Politik und Medienbildung der Buchmesse an – und laden dazu ein, ihre Sicht auf unsere Gesellschaft zu erleben.

„Wir müssen Bildung vernetzt denken“

„Wir müssen Bildung vernetzt denken“

Fotos: ELIG

Der Claim der European Learning Industry Group, abgekürzt ELIG, lautet „We change the way Europe learns!“ Das ist doch mal eine Ansage. Aber: Was verstehen Sie konkret darunter?

Elmar Husmann: ELIG ist eine Netzwerkorganisation. Unser Ziel ist es, Non-Profit-Initiativen, Firmen und Bildungsinstitutionen, die in Europa an der Digitalisierung der Bildung arbeiten, zusammenzubringen. Das „Wir“ in diesem Motto meint nicht nur eine Organisation, sondern ist als das gesamte Netzwerk der Beteiligten zu verstehen. Entstanden ist ELIG aus der Idee, Akteure im europäischen Raum zu vernetzen, auch über Ländergrenzen hinweg. Die Skandinavier oder Niederländer sind bei dem Thema ja schon ziemlich weit. Bezogen auf den nationalen Rahmen bedeutet es, über die Grenzen einzelner Bundesländer hinweg zusammenzuarbeiten. Die Herausforderung in der Bildung ist gar nicht so sehr der Schritt von „analog“ zu „digital“, sondern von „isoliert“ zu „vernetzt“.

Was wären denn Best-Practice-Beispiele, wo wir in Deutschland von unseren europäischen Nachbarn lernen können?

Husmann: Wir hatten gerade unsere Jahreskonferenz unter dem Titel „Brave new learning“in Amsterdam, gemeinsam mit der OBA, der Amsterdamer Öffentlichen Bibliothek. Die versteht sich als Netzwerk-Hub zum Thema „Lernen in der Stadt“. Sie hat da unter anderem eine Initiative, die wir ganz spannend finden – sie baut gerade zehn „Maker Learning Spaces“ auf. Da lernt man etwa, Roboter zu bauen und zu programmieren, aber auch, mit einer Nähmaschine zu arbeiten. Die erweitern eigentlich die klassische Rolle, die eine Bibliothek in der Kommune spielt. Ein Beispiel aus Finnland, das ich toll finde, ist die Initiative „School as a Service“ der Stadt Espoo. Deren Idee ist es, Schule an ganz verschiedenen Orten stattfinden zu lassen – etwa auf dem Uni-Campus, in diversen Laboren, in der Bibliothek oder im Theater.

Trifft so etwas hierzulande auf offene Ohren?

Husmann: Wir finden immer wieder Lehrerinnen und Lehrer, die dem Thema sehr aufgeschlossen gegenüberstehen. Natürlich ist man durch die Vorgaben des Curriculums in der Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Aber es gibt doch sehr viele freie Bereiche, in projektorientierter Arbeit, in Arbeitsgemeinschaften, in Medien- oder Lernlaboren, die die Schulen aufbauen. Die Finnen sind uns da etwas voraus, weil sie das projektorientierte Lernen – sie nennen es „phänomenbasiertes Lernen“ – im Zuge ihrer Curriculum-Reform stärker eingebaut haben.

Sie haben für die Leipziger Buchmesse die Werkstatt+ geplant. Was wird dort passieren?

Husmann: Wir möchten dort genau dieses vernetzte Lernen umsetzen, das ich beschrieben habe. Wir haben uns zum einen verschiedene Themenbereiche vorgenommen, von der Frage, wie Geschichten in Hörspiel und Film entstehen, bis zu Wissenschaft, Journalismus oder den Sozialen Medien. Wir laden Experten – zum Beispiel Wissenschaftler, Journalisten, Medienpädagogen – dazu ein, mit Schülerinnen und Schülern zu arbeiten. In den Workshops, die wir planen, werden auch ganz konkret Dinge produziert, etwa für die Social-Media-Kanäle der Leipziger Buchmesse. Wir werden ein Krimi-Hörspiel-Projekt haben. Die Schüler werden zum Teil auch Debatten selber moderieren, so zum Beispiel zum kontrovers diskutierten Klima-Thema. Unsere Botschaft: Lernen passiert nicht nur in der Schule und wird von Lehrerinnen und Lehrern vermittelt – es kann auch in einem erweiterten Netzwerk von Akteuren stattfinden. Wir realisieren die Werkstatt+ mit zwei Partnern – dem Verband Bibliotheken und Information Deutschland (BID) und der Westermann Gruppe als großer Schulbuchverlag. Die präsentieren unter anderem die Lernplattform kapiert.de. Wie gesagt, Lernen ist bei weitem nicht nur auf die morgendlichen Unterrichtsstunden beschränkt – es passiert faktisch den ganzen Tag über.

Was reizt sie an der Kooperation mit einer Buchmesse?

Husmann: Die Leipziger Buchmesse ist aktiv auf uns zugekommen, um das Projekt zu entwickeln. Was toll ist: Dass wir es bei Buchmessen nicht nur schlicht mit dem Medium Buch zu tun haben – sondern sich dort alles um Inhalte dreht. Es geht um die Geschichten, um die Autoren dahinter. Das tut dem Thema „Bildung & Digitales“ sehr gut. Der digitale Wandel, in dem wir uns befinden, ist ja nicht nur ein technischer Wandel. Wir tun gut daran, ihn nicht nur bei den so genannten MINT-Fächern zu verorten. Es ist sehr stark auch ein kultureller Wandel. Und da ist die Buchmesse sehr gut aufgestellt.

Und was bedeutet Lernen für sie persönlich?

Husmann: Ich bin davon überzeugt, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist.

Ihr letzter großer Lernfortschritt?

Husmann: Ich bin immer wieder verblüfft, wie viel man durch Youtube-Videos quasi nebenher lernt (lacht). Das geht querbeet, vom Kochen bis zum Sport.

Lernangebote mit Zukunft: Alle fordern digitale Bildung für Schüler – doch worin soll die bestehen? Die Werkstatt+ (Halle 2, A501) auf der Leipziger Buchmesse zeigt in Workshops und Diskussionsrunden, dass es nicht allein auf die Medienkanäle, sondern auf die jeweils passenden Inhalte ankommt. Während am Donnerstag und Freitag Schüler aktiv werden, sind am Wochenende alle Besucher eingeladen, sich als Medienmacher mit brennenden Themen der Zeit auseinanderzusetzen. Das gesamte Programm vor Ort gibt es hier: Programm Werkstatt +

Nils Kahlefendt

Eine Frage der Haltung

Eine Frage der Haltung

Ob Migration und Flucht, Rechtsextremismus, die drohende Klimakatastrophe, das Erstarken von Populismus und alternativen Fakten: Immer mehr deutschsprachige Autoren haben sich in den letzten Jahren literarisch zu politischen Themen zu Wort gemeldet – eine Entwicklung, die sich offenbar auch in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur vollzieht. Bereits zur letzten Leipziger Buchmesse nahm der Trendbericht Kinder- und Jugendbuch, den der Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ), die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj), der Börsenverein und die Stiftung Lesen regelmäßig vorlegen, das Thema in den Fokus; dazu veröffentlichten die Buch- und Leseförderer einen gemeinsamen Appell („Demokratie braucht Nachwuchs – Junge Menschen mit Büchern für Politik begeistern“). Auch die letztjährige Arbeitstagung der Gesellschaft für Jugendliteraturforschung in Bad Urach lotete „Politische Dimensionen und ideologische Interferenzen von Kinder- und Jugendliteratur/-medien“ aus.

Zur kommenden Leipziger Buchmesse hebt nun auch das traditionelle AKJ-Symposium auf dem Plan: Unter dem Motto „Politisch positioniert! Engagement und Zeitbezug in aktueller Kinder- und Jugendliteratur“ soll etwa diskutiert werden, welche literarischen Aspekte auf eine engagierte Haltung verweisen – und welche politischen Themen und Erzählformate auf dem Buchmarkt ganz vorn rangieren. „Andererseits kommt niemand, der zum Geburtstag ein Buch verschenken will, mit der Frage ‚Haben Sie was Politisches?‘ in den Laden“, sagt AKJ-Vorsitzender Ralf Schweikart. „Wir wollen mit unserem Symposium noch vorhandene Berührungsängste nehmen und zur Horizonterweiterung beitragen.“ Erreichen möchte man Multiplikatoren wie Buchhändler, Bibliothekare und Lehrer – dass gerade Schulbibliothek oft einen leicht angestaubten „musealen Touch“ haben, ist Schweikart, der die Kinderbuchlandschaft seit vielen Jahren bestens kennt, nur zu bewusst.

Caroline Roeder, die an der PH Ludwigsburg lehrt und das Konzept des Symposiums mit dem AKJ entwickelt hat, verweist darauf, dass politische Positionierungen im Kinder- und Jugendbuch eine längere Geschichte haben: „In der Folge der Studentenbewegung gab es in der Bundesrepublik der 70-er Jahre einen Paradigmenwechsel hin zu ‚problemorientierten’ Titeln; Autoren wie Peter Härtling begannen, sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, seien es Familienprobleme, Arbeitslosigkeit oder die Armut in der (damals noch so genannten) 3. Welt.“ Phantastische Texte wie Michael Endes „Momo“ galten linken Lehrern als eher suspekt. Mit dem von „Harry Potter“ entfachten Fantasy-Boom gab es später die Gegenbewegung. Inzwischen, so meint Roeder, beackerten auch nachwachsende Autorinnen und Autoren im Kinder- und Jugendbuch Themen wie Nationalsozialismus, Erinnerungskultur oder ökologische Probleme, nicht selten mit experimentellem Ansatz. Das gilt auch für Comic-Zeichner wie Reinhard Kleist oder Birgit Weyhe: In seiner Graphic Novel „Der Boxer“ (Carlsen) beschäftigt sich Kleist mit der Geschichte des ins KZ deportierten Juden Hertzko Haft; Birgit Weyhe nähert sich in „Madgermanes“ (avant) den Biographien von mosambikanischen Vertragsarbeitern in der DDR. Und auch in der Fantastik werden längst nicht mehr nur „schöne neue Welten“ ausgemalt – Dystopien sind auf dem Vormarsch. Wenn Themen, die wie die Flüchtlingsproblematik viele bewegen, auch auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt eine veritable Titel-Flut auslösen, stellt sich zudem die Qualitätsfrage […] „ob nicht manches Buch auf der Verkaufswelle mitschwimmen will.“

Das Programm des Leipziger Symposiums reicht vom klassischen Vortrag über eine Lesung und Gespräch mit der Autorin und Sängerin Manja Präkels („Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“) bis zum Blick in die Werkstatt der Comic-Zeichnerin Birgit Weyhe. Spannend dürfte auch die Runde mit den 14- bis 19-jährigen Juroren der Leipziger Jugend-Literatur-Jury werden, die über Tomi Adeyemis Buch „Children of Blood and Bone“ (S. Fischer) diskutieren, eine Fantasy-Geschichte mit ausschließlich schwarzen Protagonisten. „An diesem Format haben wir lange gebastelt“, sagt Roeder. „Es sollten auf jeden Fall Jugendliche dabei sein.“

Abgerundet wird das Symposium mit einer Diskussionsrunde, die nachfragt, inwieweit Engagement und kritischer Zeitbezug auf dem Buchmarkt durchdringen. Erwartet werden neben Johann Ulrich, Gründer des avant-Verlags, der 3sat-Redakteur Michael Schmitt und die Kulturwissenschaftlerin Manuela Kalbermatten, die als Kinder- und Jugendliteraturkritikerin unter anderem für die „Neue Zürcher Zeitung“ arbeitet.

Was erhoffen sich die Organisatoren vom Symposium im März? „Zum einen eine größere Aufmerksamkeit für die Kinder- und Jugendliteratur insgesamt“, sagt Caroline Roeder. „Sie ist zwar längst ein wichtiges Marktsegment – fristet aber in den Diskursen der Medien und im Feuilleton noch immer ein Nischendasein. Und das, obwohl inzwischen immer mehr Erwachsene zu Jugend-Sachbüchern und Fantasy greifen! Zum anderen wünscht sich die Wissenschaftlerin „einen differenzierteren Blick auf Bücher, die, in welcher Form auch immer, Position beziehen. Über manche Themen kann man 2019 eben nicht mehr so schreiben wie noch 1970.“

Fotos: (1) Die Geschichte „Bestimmt wird alles gut“ (Klett Kinderbuch) von Kirsten Boie, übersetzt von Mahmoud Hassanein, und Illustrator Jan Birck ist auf Deutsch und Arabisch erschienen, damit viele Flüchtlingskinder sie auch in ihrer eigenen Sprache lesen können (2) AKJ-Vorsitzender Ralf Schweikart (Foto: AKJ/Sebastian Kissel) (3) Tagungsleiterin Caroline Roeder (Foto: Nelly Rau) (4) Cover der Bücher von Reinhard Kleist (avant) und Tomi Adeyemi (S. Fischer) (5) In der Graphic Novel „Madgermanes“ (avant) nähert sich Birgit Weyhe den Biographien von mosambikanischen Vertragsarbeitern in der DDR (6) Ein All-Age-Bestseller aus dem Verbrecher Verlag: Manja Präkels (Foto: Nane Diehl) und ihr preisgekrönter Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“.
Leipziger Lesekompass Kinderjury 2019: Fürs Lesen begeistern!

Leipziger Lesekompass Kinderjury 2019: Fürs Lesen begeistern!

Die neue Kinderjury des Leipziger Lesekompasses 2019 prämiert erstmalig Bücher und andere Medien, die Lesespaß mit einem lesefördernden Ansatz verbinden. KiKA-Moderator Tim Gailus war mit seinem Kamerateam live dabei.

Die Leipziger Buchmesse und die Stiftung Lesen prämieren mit dem Leipziger Lesekompass herausragende Kinder- und Jugendliteratur. Hierbei werden Neuerscheinungen ausgezeichnet, die im Zeitraum zwischen zwei Leipziger Buchmessen erschienen sind. Empfohlen werden jeweils zehn Bücher und Medien aus drei Alterskategorien: von zwei bis sechs, von sechs bis zehn und von zehn bis vierzehn Jahren. Die Auswahl übernimmt eine Jury aus unabhängigen Fachleuten der Bereiche Kita, Schule, Bibliothek und Buchhandel – aber auch jugendliche Leser und Blogger. In diesem Jahr bereichert zudem eine Kinderjury den spannenden Auswahlprozess – eine ehrenvolle Aufgabe mit großer Verantwortung und viel Spaß! Der bekannte KiKA-Moderator Tim Gailus hat die Kinderjury bei der Auswahl begleitet.

Herr Gailus, Sie sind Hörbuchsprecher, TV-Moderator und Reporter des Kinder-Medienmagazins „Timster“ beim Kinderkanal von ARD und ZDF (KiKA). Jeden Samstag und Sonntag entdecken Sie dort Medien-Trends für die jungen Zuschauer und regen dazu an, Medien kreativ und souverän zu nutzen. Seit 2016 engagieren Sie sich auch als Lesebotschafter bei der Stiftung Lesen. Wie kam es dazu?

„Timster“ ist derzeit die einzige Fernsehsendung im deutschen Kinderfernsehen, in der es schwerpunktmäßig um das Lesen geht. Als Lesebotschafter der Stiftung Lesen und auch bei „Timster“ will ich meine Liebe und Freude an Büchern, Geschichten und Literatur weitergeben. Wer mich lange kennt, weiß ganz genau: Der Grundschul-Tim war ein Lesemuffel. Ich hatte Vorurteile gegenüber Büchern. Erst in meiner Jugend erkannte ich, wie viel Fantasie und vor allem Wissen in Büchern steckt. Daher möchte ich insbesondere jungen Lesemuffeln zeigen: Fangt früh an zu lesen! Das ist cool! Jenseits der Pflicht-Schullektüre warten nämlich die schönsten Abenteuer und besten Wissensbücher auf euch.

Am 9. Dezember letzten Jahres hat die neue Kinderjury zum ersten Mal getagt. Sie haben die Kinder gemeinsam mit einem Kamerateam begleitet und waren beim Auswahlprozess live vor Ort. Stellen Sie uns die Kinderjury 2019 doch einmal kurz vor.

Die Jury kommt zum einen von der Evangelischen Grundschule Babelsberg und zum anderen aus der Gemeinde Hoppegarten in Brandenburg. Das sind Cosima, Paul, Kiki, Matti, Hannes, Felix, Smilla, Lia, Marlene, Felix, Clara, Miluo, Leni und Svea – kurz gesagt: ein super aufgewecktes Team!

Seit wie vielen Jahren gibt es die Kinderjury beim Leipziger Lesekompass und was sind ihre Aufgaben?

Bereits seit Beginn des Leipziger Lesekompasses 2012 gibt es eine Jugendjury. Die Kinderjury ist 2019 erstmals dabei. Beide Jurys entscheiden, wer bei der Leipziger Buchmesse den Leseko mpass abräumt. Die Jugendjury prüft die Kategorie „zehn bis vierzehn Jahre“, die Kinderjury checkt die Bücher der mittleren Kategorie „sechs bis zehn Jahre“.

Wie wird die Jury zusammengestellt und wer darf mitmachen?

Die Leiterin und Koordinatorin der Kinderjury ist Prof. Dr. Sandra Niebuhr-Siebert. Sie erforscht Themen wie Lesekompetenz oder Deutschunterricht. Dadurch hat sie Kontakt zu vielen Grundschulen. Sie hat zum Beispiel der Stiftung Lesen den Kontakt zur Babelsberger Grundschule ermöglicht. Wenn man mitmachen will …? Am besten holen sich buchbegeisterte Kinder ihre Eltern, Lehrer oder Mitschüler ran – und schreiben der lieben Sandra Niebuhr-Siebert (s.niebuhr-siebert@fhchp.de) einfach eine E-Mail.

Juryarbeit ist nicht einfach – das gilt für Groß und Klein. Sind sich die Nachwuchs-Juroren stets einig oder wird viel diskutiert?

Da war alles mit dabei: großes Gelächter und Grinsen in der Runde. „Yeah! Du magst das Buch auch!?“ Einige Kinder hatten unabhängig voneinander den gleichen Favoriten. Aber auch empörte Zwischenrufe: „Hey! Was ist mit diesem Buch hier? Nicht vergessen!“ – und sachliche Diskussionen und Analysen, die auf das „Blaue Sofa“ gehören.

Warum ist die Kinderjury für den Leipziger Lesekompass so wichtig?

Die Bücher des Leipziger Lesekompasses sollen Kinder und Jugendliche vor allem fürs Lesen begeistern – besonders auch diejenigen, die noch nicht so geübt sind. Da ist es naheliegend, dass man Kinder bei der Auswahl um Rat fragt. Buchfans und Lesestarter können sich hier an Gleichaltrigen orientieren. So einen Kinderjury-Preis hätte ich mir schon zu meiner Grundschulzeit gewünscht!

Wie haben Sie den Tag mit der diesjährigen Kinderjury erlebt? Was ist die Besonderheit der Kinderjury 2019?

Die Jury 2019 ist neugierig, wissbegierig, kreativ und vielseitig interessiert. Die Kinder sind scharfsinnige Beobachter und Leserinnen. Die ausgezeichneten Autorinnen und Autoren können sich also sehr glücklich schätzen. Die Kinderjury übernimmt ordentlich Verantwortung und hat dabei vor allem viel Spaß. Die Freude am Lesen war ansteckend.

Wann und wo wird der Filmbeitrag über die Kinderjury zu sehen sein?

Der Film wird – sofern technisch möglich – bei der Verleihung am 21. März zu sehen sein. Außerdem findet man ihn auf den Websites und sozialen Kanälen der Stiftung Lesen und der Leipziger Buchmesse: Kurze Teaser gibt es auf diesen Plattformen schon ab Beginn der Messewoche. Der komplette Film ist dann nach Bekanntgabe der Gewinnertitel am Messedonnerstag zu sehen. Auch bei „Timster“ im KiKA werde ich natürlich über den Lesekompass berichten.