Wir feiern das Lesen – endlich wieder in Leipzig! Leipzig liest, das Lesefest mit über 2.400 Veranstaltungen und 2.500 Mitwirkenden, bringt den Bücherfrühling vier Tage lang zum Blühen. Nationale und internationale Stimmen aller Genre sind zu entdecken: Von Krimi bis Sachbuch, von Kinder- und Jugendbuch bis Phantastik, von Unterhaltungsliteratur bis Manga und Comic. Die Qual der Wahl ist beträchtlich. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie spannende Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Gedichte mit Balkan-Drive, schlaue Sachbücher oder Webtoons aus Südkorea – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Auf bald!
Steine aus dem Himmel | Von Oliver Zille, Buchmesse-Direktor
Ich empfehle dringend, mal wieder Gedichte zu lesen – auf das Wesentliche komprimierte Sprache, die unser Denken und Empfinden wunderbar beschleunigen und beflügeln kann. Dazu lohnt es, einen Blick nach Südosteuropa zu werfen: Auf das Leben und das dichterische Werk des slowenischen Ausnahmekünstlers Tomaž Šalamun (1941 – 2014). Šalamun hat nicht nur die slowenische Lyrik revolutioniert, sondern genoss auch international höchstes Ansehen. In den USA, wo er in den 1970er Jahren eine Zeit lang lebte und lehrte, wird er bis heute als einer der bekanntesten europäischen Dichter seiner Generation verehrt. Steine aus dem Himmel (Suhrkamp) ist der Titel der zweisprachigen Auswahl, die eben erschienen ist – so bezeichnete Šalamun seine Gedichte und die Weise, wie sie ihm zufielen. In der Veranstaltung lernen wir diese Dichterlegende in Film und Wort gemeinsam mit Liza Linde und den Co-Übersetzer:innen Monika Rinck und Matthias Göritz kennen.
Steine aus dem Himmel. Über den slowenischen Dichter Tomaž Šalamun. Mit Liza Linde, Monika Rinck und Matthias Göritz. 28. April, 21 Uhr, naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46.
Grüne Lunge | Von Maike Henkel, Onlinemanagerin
Ohne Wald kann der Mensch nicht sein. Unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere gesamte Entwicklung ist untrennbar mit dem Wald verbunden. In ihrem ersten gemeinsamen Werk Waldwissen (Ludwig) vereinen Deutschlands berühmtester Förster Peter Wohlleben und der renommierte Biologe Pierre L. Ibisch ihre Expertise und die neuesten Erkenntnisse der internationalen Wissenschaft. Sie bringen Licht ins Dickicht eines hochkomplexen Ökosystems, das es normalerweise immer dann in die Medien schafft, wenn es – siehe die Auseinandersetzungen um „Hambi“ und „Lützi“ – bedroht wird. Mich hat eine Doku über Peter Wohlleben zugleich begeistert und erschüttert – weil sie mir vor Augen geführt hat, wie entfremdet unser Umgang mit der Natur ist und welche katastrophalen Auswirkungen unser Eingreifen hat. Zum Auftakt der Klimabuchmesse sprechen Wohlleben und Ibisch mit Cordula Weimann, Gründerin von „Omas for Future“ und „Leipzig Pflanzt“ – und überlegen, wie wir unsere Welt grüner machen können.
Wald ist viel mehr als Bäume! Zum Auftakt der Klimabuchmesse sprechen Peter Wohlleben und Pierre L. Ibisch mit Cordula Weimann. 27. April, 15 Uhr, Forum Sachbuch + Wissenschaft, Halle 2, Stand D 500.
Erkundung eines politischen Gefühls | Von Malte Schlage, Praktikant Kommunikation
Wer sind sie, die Hassenden, und aus welchen Machtverhältnissen kommen sie? Wer darf überhaupt hassen und wer nicht? Welche Gefühle lähmen, welche Gefühle helfen, nicht zu erstarren, und sich immer und immer weiter zu bewegen auf dem Weg in eine gerechtere und zärtliche Gesellschaft? Das sind meiner Meinung nach alles spannende Fragen, die Şeyda Kurt in ihrem neuen Band Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls (HarperCollins) sich selbst, aber auch der Allgemeinheit stellt. Ich glaube Şeyda Kurt wird auch in Zukunft eine wichtige Stimme in der Gesellschaft sein und bin froh Sie als Teil der Leipziger Buchmesse und dem Forum offene Gesellschaft zu sehen
Şeyda Kurt Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls. Şeyda Kurt im Gespräch mit Patrick Bahners, Moderation Antonie Rietzschel. 30. April, 11.30 Uhr, Forum offene Gesellschaft, Halle 4, Stand E 101.
Atemberaubende Animationen | Von Lea Amelie Peterknecht, Projektmanagerin Manga-Comic-Con
One Piece Film: Red ist der vierzehnte Film aus dem „One Piece“ Universum von Eiichiro Oda. In Japan wurden in den ersten vier Wochen nach Filmstart über neun Millionen Karten verkauft – damit ist „Red“ nicht nur der erfolgreichste Film der Serie, sondern auch einer der Kassenhits im japanischen Kino des Jahres 2022. Bald nach dem Release in Japan kam „Red“ im letzten Herbst auch in unsere Kinos – wo ich ihn als großer „One Piece“-Fan natürlich schon gesehen habe. Ich kann den Film nur wärmstens empfehlen: Atemberaubende Animationen, geniale Choreos für Kampfszenen wie für die Bühnenauftritte von Prinzessin Uta, die auf der Insel der Musik Elegia ihr erstes Live-Konzert gibt. Und energetische Musik. Wer eine kurze Auszeit vom Messetrubel nehmen möchte, kommt in unserem direkt an Halle 1 angrenzenden Anime-Kino bestimmt auf seine Kosten. Von Donnerstag bis Sonntag werden hier rund um die Uhr Anime-Episoden oder auch ganze Filme gezeigt. Zurücklehnen und genießen!
One Piece Film: Red. 30. April, 14 Uhr, Anime-Kino, Messehaus, Raum M 3 (FSK 12).
Zwischen Magie und Wissenschaft | Von Joana Semmlack, Praktikantin
Mit She Who Alights The Night (Moon Notes) dem im Paris des späten 19. Jahrhunderts spielenden zweiten Band ihrer Night-Shadow-Reihe, hat Laura Cardea eine mysteriöse und romantische Welt geschaffen: Eine Mischung aus Magie und kühler Wissenschaft, mit liebenswerten und mutigen Protagonist:innen, die für und um ihr Leben kämpfen. Ein Date mit Marie Curie, die erste Elektrizität, ein Leben zwischen Standesgrenzen? In „Night Shadow“ gibt es das alles. Für mich ohne Zweifel ein Romantasy-Lesehighlight! Erschienen sind beide Bände bei Moon Notes, einem noch relativ jungen Paperback-Label unterm Dach der Verlagsgruppe Oetinger, das mich mit seinem Programm noch nie enttäuscht hat.
Laura Cardea: She Who Alights The Night. Lesung. 28. April, 11 Uhr, Phantastische Leseinsel 2, Halle 3, Stand D 401.
Toxische Männlichkeit | Von Raphael Richter, Projektmanager Leipzig liest
Fikri Anıl Altıntaş erzählt in seinem Buch Im Morgen wächst ein Birnbaum (btb) von seiner Familie und seiner Kindheit inmitten von Sozialwohnblocks in der hessischen Provinz. Und davon, wie er – mit inzwischen dreißig Jahren – als muslimisch-türkischer Mann in Berlin, ein anderes Leben jenseits von Klischees zu führen versucht. Wie er zu dem Mann wurde, der er heute ist – mit und durch seinen Vater, wegen und trotz Deutschland. Inmitten von festgefahrenen Narrativen sucht Fikri Anıl Altıntaş nach den Zwischentönen jenseits der Klischees.
Fikri Anıl Altıntaş: Im Morgen wächst ein Birnbaum. Lesung und Diskussion. 28. April, 20 Uhr, interim by linxxnet, Demmeringstraße 32.
Freundinnen müsste man sein | Von Doreen Rothmann,Leipzig liest Stadtprojekte
Wer ein Kind erwartet, verliert sich leicht im Wust der Ratgeber: Von der natürlichen Geburt über Hypno-Birthing zu dicken Wälzern über Babys erstes Jahr. Allerdings gibt es keinen einzigen Ratgeber für die, die noch nicht, gar nicht oder nicht noch einmal Mutter werden wollen. Genau das will Laura Dornheim mit ihrem Buch Deine Entscheidung. Alles, was Du über Abtreibung wissen musst (Kunstmann) ändern. Dornheims Buch ist kein politisches Manifest. Es erklärt empathisch, aber auch pragmatisch, wie alltäglich ungewollte Schwangerschaften und Abbrüche sind. Wie die Rechtslage ist. Wer den vorgeschriebenen Beratungsschein ausstellt. Welche Methoden welche Vor- und Nachteile haben. Dazu gibt es Listen mit hilfreichen Links, Adressen und Literatur. Ein Buch wie eine gute, schlaue Freundin, die für einen da ist, wenn man sie braucht.
Laura Dornheim: Deine Entscheidung. 28. April, 18 Uhr, Petersbogen-Apotheke, Petersstraße 36-44.
Schkeuditz liest | Von Kerstin Scholz, Projektmanagerin Messeorganisation/Ausstellerservice
Die Schriftstellerin Kati Naumann hat schon etliche Romane geschrieben, in denen sie in beeindruckender Weise Vergangenheit lebendig werden lässt. Die Kaiserzeit, die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus und die DDR-Vergangenheit sind Epochen, in denen ihre Bücher spielen. In ihrem neuesten Roman Die Sehnsucht nach Licht (HarperCollins) geht es um die Geschichte einer Bergarbeiterfamilie im Schlematal im Erzgebirge. Kati Naumann erzählt von den lebensgefährlichen Arbeiten im Bergbau, aber sie schildert auch die tiefe Verbundenheit mit diesem Beruf. Ihr Roman trifft mich persönlich: Meine Mutter stammt aus dem Erzgebirge, meine Großeltern wohnten nur zehn Kilometer vom Schlematal entfernt. Da ich in einem Ortsteil von Schkeuditz wohne, freue ich mich besonders über den „Lokaltermin“. Und als ob das alles noch nicht reichen würde: Der Lesungsort, unsere Stadtbibliothek, hat 2022 den Sächsischen Bibliothekspreis bekommen!
Kati Naumann: Die Sehnsucht nach Licht. Lesung. 28. April, 19 Uhr, Stadtbibliothek Schkeuditz, Bahnhofstraße 9.
Wundersame Welt der Webtoons | Von Lusy Seifarth, Praktikantin
Webtoons oder auch Manhwa sind aus Südkorea stammende Comics, die sich in den letzten Jahren wachsender Beliebtheit erfreuen und auch in Deutschland längst bekannt und beliebt sind. Allerdings haben bisher nur wenige Comic- und Mangaverlage überhaupt Webtoons auf Deutsch gedruckt und veröffentlicht. papertoons aus Ludwigsburg, gegründet von den ehemaligen Manga Cult-Redakteuren Lea Heidenreich und Michael Schuster, ist seit Anfang 2023 der erste und bislang einzige deutsche Verlag, der sich ausschließlich auf diese Art Comics spezialisiert hat. Was alles passieren muss, damit ein in Südkorea digital veröffentlichter Webtoon seinen Weg als gedrucktes Buch in deutsche Bücherregale findet, erklären Lea und Micha im Comicforum auf dem Schwarzen Sofa. Ich selbst habe vor einigen Jahren, ausgehend von meiner Beschäftigung mit Manga, zu Webtoons gefunden – und freue mich daher sehr auf dieses Panel.
Papertoons & Webtoons in Deutschland. Eine kurze Reise durch die Welt der Webtoons. Präsentation mit Lea Heidenreich und Michael Schuster (papertoons GmbH). 27. April, 14.30 Uhr, Schwarzes Sofa, Halle 1, Stand C 400/ A 401.
Zwischen allen Stühlen | Von Inka Kirste, Projektmanagerin Belletristik/Sachbuch, Fachbuch/Wissenschaft, Religion, Reisen
In der DDR zierte ihr Porträt Münzen, Briefmarken und Geldscheine. Gedenkmedaillen und Straßen waren nach ihr benannt – und wer kennt in Leipzig nicht den Clara-Park? Der internationale Frauentag, den Zetkin mit anderen Sozialdemokratinnen 1910 erfand, wurde offiziell begangen – im Alltag sah es mit der Gleichberechtigung schon anders aus. Und noch heute ist der Gender Pay Gap, das geschlechtsspezifische Lohngefälle, in Deutschland und Österreich europaweit am stärksten ausgeprägt. Gründe genug, sich für eine biografische Annäherung an Clara Zetkin aus der Feder einer seit den 60er Jahren frauenpolitisch engagierten Autorin zu interessieren. „Clara Zetkin – geliebt und gehasst. Eine umstrittene Sozialistin“ (Karl Dietz Verlag) von Florence Hervé (die erst letztes Jahr mit dem Louise-Otto-Peters-Preis der Stadt Leipzig ausgezeichnet wurde) beleuchtet Frauengeschichte, das Recht auf Arbeit, Bildung, politische Betätigung und Selbstbestimmung sowie, brennend aktuell, Krieg und Frieden. Ach ja: Wie diese Leipzig liest-Begegnung sind die meisten Veranstaltungen des Frauenkultur e. V. Leipzig offen für alle Menschen.
Florence Hervé: Clara Zetkin – geliebt und gehasst. Lesung und Gespräch. 26. April, 17 Uhr, Frauenkultur e. V., Windscheidstraße 51.
Auf dem Papier wurde der Luftschacht Verlag schon 2001 gegründet…
Jürgen Lagger: Ich habe eigentlich Architektur studiert und von 1987 an als freier Mitarbeiter in Architekturbüros gearbeitet. Im Zuge des eigenen literarischen Schreibens habe ich Stefan Buchberger und Gabriel Vollmann kennengelernt, die damals Lesungen veranstaltet und den Verlag gegründet haben. Wir freundeten uns an – und beschlossen, den damals nur als „Karteileiche“ bestehenden Verlag endlich zu beleben.
Das war 2003, nachts, in Ihrer Küche. Erinnern Sie die ‚Urszene’ noch?
Lagger: Nicht wirklich, wir hatten schon ein paar Bier. Aber das erste Buch war ein schmales Paperback im Digitaldruck, Auflage 300 Exemplare. Wir haben das auf Lesungen selbst vertickt, es gab keinerlei Vertriebsstruktur. Ich musste sehr viel lernen. Anfangs habe ich parallel weiter als Architekt gearbeitet; irgendwann habe ich den Sprung gewagt und meine Erwerbstätigkeit ganz auf den Verlag hingelenkt.
Was war die wichtigste Entscheidung in 20 Jahren Luftschacht? Die Geschichte eines Verlags ist ja keine Aneinanderreihung von Zufällen, oder?
Lagger: Der vielleicht folgenreichste Entschluss fiel um 2008 – da haben wir uns entschlossen, neben Belletristik auch Graphic Novels und Comics zu machen. Etwas, wofür es in Österreich noch keinen Verlag gab. Wir wurden von Sebastian Broskwa angesprochen, der mit seinem Vertrieb Pictopia nebst angeschlossener Buchhandlung als die Comic-Instanz der Republik gilt. Seastian hat die Kontakte hergestellt – aus diesem Pool haben wir am Anfang unsere Zeichner bezogen. Man braucht noch nicht mal zu gendern, weil es wirklich ausschließlich Männer waren. Inzwischen sind mit Regina Hofer oder Michaela Konrad auch tolle Zeichnerinnen dazugekommen.
Der Comic hat Luftschacht dann seine dritte Programm-Säule beschert?
Lagger: Genau, das aufwändig gestaltete Bilderbuch. Inzwischen sind wir für viele Zeichnerinnen und Zeichner so etwas wie ein sicherer Hafen jenseits des schnelldrehenden Lesefutters geworden. Und ich finde es auch für mich schön, dass ich so unterschiedliche Kunstformen im Verlag habe – die jeweils eine ganz spezifische Beschäftigung erfordern.
Welche Erfahrungen machen Sie mit dem Buchhandel?
Lagger: Wir haben uns sowohl bei Leser:innen wie auch bei Buchhändler:innen ein Stammpublikum erarbeitet, das auf die leicht abseitigen Dinge steht, die wir machen. Andere sehen Probleme, das zu vermitteln, was ich ein bisschen schade finde. Auch wenn unser Programm nicht dem Mainstream hinterherläuft, ist es doch nichts, was einen abschrecken müsste – im Gegenteil! Natürlich sind die Erwartungen immer höher, als es der Markt dann einlöst. Aber man kriegt die Leute schon!
Können Sie uns ein Lieblingsbuch nennen, das Ihnen über die Zeit besonders ans Herz gewachsen ist?
Lagger: Ich habe all meine Kinder lieb! (lacht) Worauf ich stolz bin, sind die Bücher von Dennis Cooper, die wir im Programm haben.
Und der heuer passender Weise 70 wird. Sie bringen „Ich wünschte“ von Dennis Cooper als Spitzentitel…
Lagger: In den 1990er Jahren gab es Übersetzungen von ihm im Wiener Passagen Verlag. Die habe ich zufällig in einer Grabbelkiste entdeckt – und war völlig hingerissen. Als ich später noch mehr von ihm lesen wollte, merkte ich: Es gibt keine Übersetzungen mehr! Ich habe angefangen zu recherchieren, mit diversen Agenturen gesprochen – irgendwann hat’s dann geklappt. Im April kommt mit „Ich wünschte“ das vierte Buch, das wir von ihm bringen. Das freut mich sehr – nicht zuletzt, weil Cooper für meine eigene Lesebiografie enorm wichtig war.
Sie haben dafür ein Nachwort von Clemens J. Setz ergattert?
Lagger: Der Clemens ist ein absoluter Cooper-Fanboy! Noch ärger als ich! Der kennt wirklich alles. Und liest dazu alles, was Cooper empfiehlt.
Haben Sie Visionen für die nächsten 20 Luftschacht-Jahre?
Lagger: Vom Lebensalter her gerechnet könnte es knapp werden (lacht), aber: Nein, eigentlich nicht. Im Kern möchte ich weitermachen wie bisher. Wen sich der Verlag auf diesem Level weiterentwickelt, bin ich sehr zufrieden. Nur manchmal denke ich: Vielleicht hätte ich zehn Jahre früher anfangen sollen?
Luftschacht auf der Leipziger Buchmesse: Halle 4, Stand E 109
Books & Beers: Neue Bücher und das aktuelle Programm stellen die beiden unabhängigen Verlage Luftschacht aus Wien und Parasitenpresse aus Köln zum ersten Mal gemeinsam vor. Es lesen Jelena Jeremejewa (Berlin), Adrian Kasnitz (Köln), Greta Lauer (Wien), Thomas Podhostnik (Leipzig), Uroš Prah (Wien) und Alexander Rudolfi (Hannover). Durch den Abend führen die Verleger Adrian Kasnitz und Jürgen Lagger. 28. April, 20 Uhr, Schaubühne Lindenfels Westflügel, Eintritt frei.
Şeyda Kurt, in Ihrem im März erscheinenden Buch „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ führen Sie an Orte des Hasses wie Hanau oder Istanbul, Sie führen in die queere Community, Sie führen aber auch an den Küchentisch Ihrer Mutter. Die Frage, die Sie umtreibt: Wer darf hassen? Was macht diese Frage so zentral?
Şeyda Kurt: Das „Wer“ ist eine zentrale Frage für mich, weil es sehr viel über Herrschaftsverhältnisse, über Ohnmacht und Handlungsfähigkeit erzählt. Es gibt ja Begriffe und Themen, die auch in liberalen Gesellschaften sehr moralisch aufgeladen sind: Wenn etwa Politiker*innen nach rassistischen Anschlägen wie in Hanau sagen: „Hass hat bei uns keinen Platz!“ Wir wissen, dass das nicht stimmt. Außerdem sollte man innehalten und fragen: Um wessen Hass geht es eigentlich? Wir sehen oft die Tendenz, dass Opfer von Faschismus, Rassismus oder Misogynie abgesprochen wird, dass sie selbst auch hassende Subjekte sein können – einfach, weil sie Zielscheibe von Hass sind. Stattdessen müssen sie immer wieder beweisen, dass sie selbst nicht hassend sind. Um sich als Opfer eine Legitimation zu verschaffen, dem eigenen Leid, dem durchgemachten Trauma Gültigkeit zu verschaffen. Das passiert den „Samstagsmüttern“ in Istanbul, die wegen ihrer durch den Staat verschleppten Söhne und Männer demonstrieren, aber auch den Angehörigen der Opfer des Terroranschlags von Hanau.
Gibt es eine dunklen, einen hellen Hass?
Kurt: Mir geht es darum, den Hass aus der Versenkung herauszuholen, mir geht es um die Sichtbarmachung seines widerständigen Potentials. Letztendlich interessiert mich tatsächlich auch ein Hass, der Zärtlichkeit hervorbringen kann. So paradox das auch klingt.
Aber ist Hass nicht allgegenwärtig?
Kurt: Ja, wir haben in den letzten Jahren sehr viel über Hass gesprochen, von Pegida bis zur Reichsbürgerszene. Mich haben vor allem die Gefühle der Menschen interessiert, die zur Zielscheibe wurden, Menschen, über die nicht so oft gesprochen wird. Egal ob ihr Hass berechtigt ist – es gibt ihn. Ihre Geschichte möchte ich nachzeichnen. Wenn Menschen Gewalt geschieht, können sie oft nicht einfach abschließen. Sie sind traumatisiert, sitzen oft in einer Vergangenheit fest, die sich ständig wiederholt. Zu einer Aushandlung über die Konsequenzen auf Augenhöhe kommt es fast nie…
Es geht aber nicht um ein biblisches „Auge um Auge, Zahn um Zahn“?
Kurt: Der angeblich rachsüchtige Gott des Ersten Testaments… viele Theolog*innen legen das anders aus: Es soll nicht eine Gewalttat mit einer anderen vergolten werden. Aber den von Gewalt Betroffenen steht eine Aushandlung auf Augenhöhe zu, was jetzt auf die Gewalt folgen soll. Das hat nichts mit „vergeben und vergessen“ zu tun. Vergebung muss erst verdient werden.
Hier höre ich Ihre Erfahrung aus der Arbeit mit dem Hanau-Komplex mit heraus…
Kurt: Es ist das, was die Angehörigen nicht müde werden zu sagen: Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben. Eine Gerechtigkeit, die die Perspektive der Betroffenen – und sei es mit ihrem Hass! – mit einbezieht.
Hass lässt sich nicht wegdiskutieren…
Kurt: Das ist die politische Ebene, die sich mit der biografischen verbindet. Im Buch schreibe ich auch sehr viel entlang meiner Biografie – etwa die Art und Weise, wie ich erzogen worden bin, wo Bestrafung eine große Rolle gespielt hat. Auch darauf habe ich als Kind mit einer gewissen Form von Hass reagiert.
Sie gelten als sehr meinungsfreudige Publizistin – wie schätzen Sie den Stand der Debattenkultur im Deutschland des Jahres 2023 ein?
Kurt: Allein der Umstand, dass ich nach Leipzig eingeladen wurde, zeigt, dass aus meiner perspektive viele Sachen ganz gut laufen. Dass es eine gewisse Öffnung, eine Pluralität der Stimmen gibt. Auf der anderen Seite wird in den Medien noch immer sehr stark in Binaritäten gedacht, etwa in den Reaktionen auf Putins Angriffskrieg. Emanzipatorische, feministische und zugleich konsequent anti-militaristische Perspektiven, die für Rechte nicht anschlussfähig sind, kommen nicht vor. Die Pandemie hat vieles noch verschärft: Sie hat viele Menschen isoliert, vereinzelt. Viele haben – jenseits ihrer Internet-Bubbles – oft einfach verlernt zu debattieren. Es ist etwas anderes, einem konkreten Menschen in die Augen zu schauen, als sich auf einer Internet-Plattform anzuschreien.
Auf Twitter geht es ordentlich zur Sache…
Kurt: Deswegen bin ich dort nicht mehr so gern unterwegs (lacht). Natürlich habe ich mir über Twitter eine gewisse Reichweite aufgebaut. Aber eigentlich bin ich diese verkürzenden Ping-Pong-Debatten leid.
Gibt es Alternativen? Den Mikroblogging-Dienst Mastodon?
Kurt: Ich finde, Instagram funktioniert schon ein bisschen anders als Twitter. Man kann – ich mache das ganz gern – auch längere Texte schreiben. Obwohl das vom Algorithmus noch nicht belohnt wird… Ich konzentriere mich inzwischen wieder sehr stark auf persönliche Gespräche, in meinem Kiez zum Beispiel. Mit Menschen, mit denen ich mich vor Ort organisiere. Ich merke, dass mich das sehr erdet.
Welche Rolle können Räume wie Leipziger Buchmesse und dort das Forum offene Gesellschaft spielen?
Kurt: Die große Chance bei Debatten, die sich um Literatur herum entspinnen, ist, dass sie die Geschwindigkeit von uns allen etwas herunterbremst, uns zu uns selbst kommen lässt.
Das Forum offene Gesellschaft ist ja eher als gesellschaftspolitischer Resonanzraum gebaut…
Kurt: Alexander Kluge hat mal sinngemäß in einem Radiointerview gesagt, dass es darum gehen müsse, die Debatte aus der Horizontalen herauszuholen – und in die Vertikale zu bringen. Also nicht sich nur an der Oberfläche bewegen und in denselben Floskeln und Reaktionen verharren. Sondern bei einer Sache bleiben und die so gründlich erforschen, wie man irgend kann. In Gespräche zu gehen, die auch mal wehtun. Ich bin gespannt, was im April passiert!
Sehen Sie die Gefahr, immer in der eigenen Bubble zu bleiben? Lässt sich das irgendwie aufbrechen?
Kurt: Letztlich bringt das grundsätzliche Fragen nach sozialer Gerechtigkeit ein Innehalten mit sich: Wer kann sich denn eigentlich Bücher leisten? Wer nimmt sich tatsächlich Zeit, auf Messen zu gehen, und die Gespräche zu verfolgen? Vielleicht sogar mitzudiskutieren, in so einem Forum.
Können Bücher die Welt verändern?
Kurt: Für mich verändern Menschen die Welt. Aber Bücher können Menschen dabei motivieren, sie mobilisieren und ihnen Kraft geben.
Zur Person:
Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin und Kolumnistin schreibt sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien, darunter Zeit Online. Als Redakteurin arbeitete sie an dem Spotify-Originalpodcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, der 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr zählte das Medium Magazin das Redaktionsteam zu den Journalistinnen des Jahres. In ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist“ (2021) untersuchte sie Liebe im Kraftfeld von Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus. Mitte März erscheint ihr neues Buch „Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ bei HarperCollins.
Das Wort Transparenz könnte für Bahoe Books erfunden worden sein. Die Verlagsräume befinden sich in einem ebenerdigen Gassenlokal mit großen Schaufenstern im 1. Wiener Gemeindebezirk Wir können Rudi Gradnitzer und Leo Gürtler, den aus Kärnten und Niederösterreich zugezogenen Verlegern, quasi bei der Arbeit zuschauen. Der Laden beherbergte früher eine Lederwarenhandlung, mittlerweile ist er das Headquarter von Bahoe Books. Auf der anderen Straßenseite, im Bahoe Art House, präsentieren Gradnitzer und Gürtler regelmäßig Ausstellungen – gleich zur Eröffnung mit Arbeiten von Josef Schützenhöfer, dem derzeit wohl politischsten bildenden Künstler Österreichs, ging es nicht eben lieb und sanft zu.
Kein Wunder: Einen Bahö machen steht im Österreichischen für Aufruhr, Tumult, Lärm – Gürtler und Gradnitzer wollen mit ihrem Verlag „das Signal unter den Geräuschen“ sein. Bahoe ist ein gesellschaftskritischer Verlag, der sich auf Graphic Novels und politisches Sachbuch fokussiert, im Sortiment sind aber auch Belletristik, Kinderliteratur und Kunstbücher. Entstanden ist Bahoe Books Mitte der Nullerjahre aus dem Spektrum der undogmatischen Linken, als in Folge der Bankenkrise Globalisierungsgegner weltweit im Aufwind waren.
„Bevor wir den Verlag gegründet haben“, sagt Gradnitzer, „haben wir mit Samisdat-Literatur, grauer Literatur ohne ISBN-Nummern sehr frei experimentiert“. So stammt das erste Bahoe-Buch eigentlich aus dem Jahr 1936: „Teoria dell’insurrezione“ („Theorie des Aufstands“) von Emilio Lussu ist ein Klassiker des italienischen Widerstands, der seit den 1970er Jahren vergriffen war. Gradnitzer und Gürtler haben das Buch als Reprint wieder zugänglich gemacht.
Nachdem Bahoe seine Bücher lange gegen freie Spenden auf Demos aus dem Koffer vertrieben hat, ist der Verlag seit 2016 ganz offiziell am Markt, mit Auslieferung, Barsortimentsanschluss und Vertretern. Im Comic-Segment ist Bahoe heute sogar der größte Player der Alpenrepublik. Seit geraumer Zeit sind sie auch Mitglied im Hauptverband des Österreichischen Buchhandels, und als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Privatverlage kommen sie in den Genuss staatlicher Verlagsförderung. Ein Professionalisierungs-Schub, der den jungen Wienern aus dem eigenen Umfeld schon mal als „Kommerzialisierung“ um die Ohren geschlagen wird. „Ein Prozess der Veränderung; mitunter schmerzhaft, aber immer spannend“, erklärt Gürtler.
Besonders ins Auge fallen bei Bahoe Sachcomics mit historischen Hintergrund: Eine berührende Biografie des italienischen Juden, Widerstandskämpfers und Holocaust-Überlebenden Primo Levi etwa, oder „Leben und Sterben in Auschwitz“ aus der Feder des Zeichners Dietmar Reinhard. Viele der Bücher sind Übersetzungen. Mit Hilfe eines Beirats, der sich aus Universitäts-Angehörigen rund um den Erdball, aus Aktivisten und Aktivistinnen, Freunden und Bekannten zusammensetzt, versucht man Perlen zu finden, die den großen Mainstream-Comicverlagen entgehen.
Ob man sich an der dauerkriselnden ÖVP abarbeitet, den Autokolumnisten des Magazins „profil“ übers Leben mit vier Rädern schreiben lässt oder dem österreichischen Dream-Team Monika Helfer und Michael Köhlmeier ein Kinderbuch abluchst – wer Harmonie sucht, ist bei Bahoe an der falschen Adresse. Sich fügen hieße lügen. Die Bahoe-Verleger halten es mit der alten Weisheit „Erst denken, dann handeln!“ Die Wiener, die es notorisch lieben, sich zu beschweren, kehren diese Reihenfolge manchmal um – und klopfen erregt an die Schaufensterscheibe in der Fischerstiege. Glücklicherweise haben die Bahoe-Verleger die wunderbare Gabe, negatives Feedback in positive Energien umwandeln zu können.
Veranstaltungstipps zur Buchmesse:
Giulio Camagni: Der Kaiser Maximilian I. Eine Graphic Novel. Stand Gastland Österreich, Halle 4, D 201/E 200, 29. April, 16.30 Uhr
Oliver Schreiber: Die Krise der Volkspartei. Konservative Wende oder konservatives Ende. Leseinsel Junge Verlage, Halle 5, C 200, 27. April, 14.30 Uhr
Der Buchhandel ist der wichtigste Partner der Leipziger Buchmesse, die deutschsprachige Literatur einer ihrer Schwerpunkte. Unter dem Motto „Your Place to read“ lesen ab März Autorinnen und Autoren in 12 Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Messe zahlt Honorare und Reisekosten aus Fördergeldern der Kulturstaatsministerin. Los geht’s am 9. März bei Lessing und Kompanie in Chemnitz: Jutta Hoffritz (Verlagsgruppe HarperCollins) und Christian Bommarius (dtv) sprechen mit Moderatorin Melanie Longerich (Deutschlandfunk) über das deutsche Schicksalsjahr 1923 und ihre Bücher zum Thema.
Für Buchhändler Klaus Kowalke ist der Start auf dem Chemnitzer Kaßberg eine super Reverenz an die Kulturhauptstadt in spe. Der Kaßberg, eines der größten Gründerzeitviertel Deutschlands, ist eher kein Hipster-Biotop. Dennoch ist miteinander leben hier mehr, als Amazon- und Zalando-Päckchen für den abwesenden Nachbarn anzunehmen. Hier eröffneten Kowalke und seine Partnerin Susanne Meysick im März 2008 ihre Buchhandlung „Lessing und Kompanie“ – ein wunderbarer Link von der Chemnitzer Theodor-Lessing-Straße zu Sylvia Beachs Traumbuchhandlung Shakespeare & Co. in Paris.
Wir nehmen den Start der Buchhandelstour zum Anlass, um mit Klaus Kowalke über Buchhandlungen als Lese-Orte und Magneten für Literatur- und Kultur-Interessierte zu sprechen. Aber auch über die Leidenschaft, mit der Buchhändlerinnen und Buchhändler landauf, landab immer wieder neue, spannende Begegnungen zwischen Autoren und Leser-Gemeinde organisieren.
Hand aufs Herz, Klaus: Sind Lesungen für Dich die Königsdisziplin, wo Du als Buchhändler Deinen kuratorischen Ehrgeiz ausleben kannst? Oder der Ausgangspunkt von viel Arbeit und häufigem Heimkommen weit nach Mitternacht?
Klaus Kowalke: Lesungen und andere Veranstaltungsformate machen riesigen Spaß – aber auch jede Menge Arbeit. Wir bekommen sehr viele Anfragen von Verlagen, auch von Autorinnen und Autoren direkt. Oft müssen wir ‚Nein’ sagen, wir könnten sonst an allen 365 Tagen des Jahres mehrere Lesungen anbieten. Bedenkt man, dass das alles seriös finanziert werden soll – wer bei uns auftritt, soll ein faires Honorar erhalten, dazu kommen Reise- und Übernachtungskosten – müssen wir sorgfältig auswählen.
Wie viele Veranstaltungen macht ihr pro Jahr?
Kowalke: Bis zur Corona-Pandemie haben wir in der Regel jeden zweiten Donnerstag im Monat eine Lesung angeboten, ab 2020 haben wir dann auch mit kleineren Open-Air-Formaten experimentiert, die tagsüber vor der Buchhandlung liefen, quasi mitten im laufenden Straßenleben.
In Corona-Zeiten habt ihr begonnen, auch andere Genres zu bespielen, zuallererst die Musik?
Kowalke: Wir haben im Lockdown mit befreundeten Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie gesprochen, die auch nicht auftreten konnten. So wurde der „FreitagsLuK“ geboren; von Mai bis September, den ganzen Sommer über, gab es die letzten beiden Jahre immer freitags 19.30 Uhr Konzerte mit wechselnden Beteiligten vor dem Laden. Wir haben das mit kleinem Geld, aus eigener Tasche finanziert. 2022 gab es dann sogar eine Mikroprojekt-Förderung der Stadt.
Wie plant ihr eure Lesungen? Nach welchen Kriterien wählt ihr aus?
Kowalke: Wir arbeiten die Vorschauen mit den Novitäten durch, überlegen dabei, welche Autorinnen und Autoren zu uns passen könnten. Belletristik nimmt den Löwenanteil ein, auf zehn Lesungen kommt vielleicht ein Sachbuch. Aber wir versuchen, einen guten Mix herzustellen, bei uns ist auch für Fantasy oder Kinderbücher Platz. Wir nehmen auch Anregungen von unseren Kundinnen und Kunden auf. Am Ende gilt immer: Wenn wir schon Leute einladen, muss es auch uns selbst Spaß machen.
Gegenwärtig hört man häufiger von zögerlich besuchten Kinos und Theatern – wie ist das mit euren Lesungen?
Kowalke: Es ist schwieriger geworden. Das Eintrittsgeld ist kein wirklicher Bestandteil der Finanzierung, eher der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Dabei bemühen wir uns schon um eher günstige Preise. Eine klassische Lesung kann man bei uns in der Regel für zehn Euro erleben. Aber die Infrastruktur kostet ja auch, von Strom, Wasser und Heizung bis zu den Überstunden des Personals!
Nicht alle Veranstaltungen finden bei euch im Laden statt?
Kowalke: In den letzten Jahren sind wir mit größeren Lesungen regelmäßig ins „Metropol“ gegangen, ein imposantes Kino, das 1912/13 am Fuß des Kassbergs, in der Zwickauer Straße, errichtet wurde. Wenn’s voll ist, sind alle glücklich, aber du kannst auch Pech haben: Vor einer Lesung von Nino Haratischwili, die sehr stark nachgefragt war, gab es Eisregen, so dass am Abend ‚nur’ 80 Leute kamen. Hin und wieder sind wir auch im Club „Atomino“ oder im „Weltecho“ gewesen; das Gros der Veranstaltungen findet aber hier im Laden statt.
2014 fiel der Startschuss für euer ungewöhnliches Projekt „EinhundertMeter Weihnachtsmarkt“, bald darauf kam „EinhundertMeter Sommer“ dazu. Was ist da passiert?
Kowalke: Das hat mit dem besonderen Charakter des Kassberg zu tun, wir sind eine gute Nachbarschaft. Der Weihnachtsmarkt sollte Anwohner und Händler zusammenbringen. Uns schwebte ein Straßenmarkt der etwas anderen Art vor, einer, der eben nicht auf der Straße stattfindet – und damit das Ordnungsamt auf den Plan rufen würde. Mit rund 30 befreundeten Geschäften, Initiativen, Künstlern und Musikern aus der ganzen Stadt wurden die privaten Vorgärten und Freiflächen vor den Häusern der oberen Franz-Mehring-Straße in eine turbulente Meile verwandelt, dazu gab es an zwei Tagen nicht nur Glühwein und Kuchen, sondern auch ein opulentes Kulturprogramm – vom Bläserensemble der Chemnitzer Mozart-Gesellschaft bis zum Geigenkonzert und mehreren Chören. Wir holten keine gewerbliche Gastronomie dazu, der Reiz des Ganzen besteht im ‚handgemachten’ Charakter. Zur Premiere kamen rund 3000 Chemnitzer, im Jahr darauf waren es an die 5000, inzwischen reisen Leute aus dem Umland an. Bei der Sommermeile gibt es immer ein Motto, und eine Jury aus Chemnitzer Promis, die wir Buchhändler zusammentrommeln, entscheidet, wer die beste Idee hat. Als Preis winkt ein opulenter Warenkorb, der von allen beteiligten Händlern bestückt wird.
Was zeichnet für Dich eine ideale Lesung aus?
Kowalke: Sowohl die geladenen Autorinnen und Autoren wie auch das Publikum sollen sich wohl fühlen. Idealer Weise ist es ein Abend mit Mehrwert für alle – in ganz seltenen Fällen wird daraus ein unvergessliches Erlebnis. So war es bei uns 2019, als wir am Vorabend der PEN-Jahrestagung in Chemnitz zu einer klitzekleinen Lesung mit Leuten aus dem damaligen Vorstand eingeladen hatten. Am Ende war die Bude proppenvoll, die Leute saßen sich auf dem Schoß, wildfremde Menschen haben Freundschaft geschlossen. Es war ein Traum!
Eure Buchhandlung feiert im März ihren 15. Geburtstag – am Ende auch mit einer Lesung?
Kowalke: Der 29. März liegt mitten in der Woche, aber wir wollen genau am Gründungstag feiern. Es wird eine Kinderbuch-Lesung mit Rusalka Reh geben, das Kraftwerk-Ensemble der Robert-Schumann-Philharmonie wird ein einstündiges Umsonst & Draußen-Konzert geben, und abends spielen unsere Freunde von Foreghost einen Mix aus Folk und Electronica. Es kann nur großartig werden.
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