Weisheit der Fulbe 

Weisheit der Fulbe 

Es ist zwanzig vor fünf an diesem Buchmessedonnerstag 2012, in der sonnendurchfluteten Glashalle wird gleich der Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik verkündet und man könnte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Als Wolfgang Herrndorf und sein Roman „Sand“ genannt werden – 2011 war der Autor hier schon einmal mit „Tschick“ nominiert, Wahnsinn! – schiebt sich Robert Koall, Chefdramaturg des Dresdner Staatsschauspiels, aus den Sitzreihen, entert die Bühne und tritt ans Mikro: „Ich bin von Wolfgang Herrndorf gebeten worden, im Erfolgsfall heute für ihn einzuspringen, ich freue mich wahnsinnig, freue mich in seinem Namen, weiß auch, dass er sich wahnsinnig freut, und er hat mir einen Satz mitgegeben: ‚Die Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nächsten ist.’ In diesem Sinne vielen Dank für die Jury, vielen Dank für den Preis, danke für das viele schöne Geld.“ Beifall brandet, die ein oder andere Träne wird verdrückt. Aber: Was, bitte, hat es mit dem rätselhaften Satz auf sich, den der frisch gekürte Preisträger unbedingt in die Welt tragen wollte – und der, auch zehn Jahre nach Herrndorfs Tod, noch immer auf Youtubenachhallt?  

Anruf zwölf Jahre später bei Robert Koall, inzwischen Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall erinnert sich noch genau an jenen Glücksmoment und seine Vorgeschichte. Als Herrndorfs Roman Anfang Februar 2012 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, stand für den Autor fest, dass er unter keinen Umständen persönlich kommen würde. Seine Erkrankung war zu diesem Zeitpunkt bereits sehr weit fortgeschritten; schon den Deutschen Jugendliteraturpreis für „Tschick“ hatte im Herbst 2011 Kathrin Passig für ihn auf der Frankfurter Buchmesse entgegengenommen. Als feststand, dass Robert Koall im Fall der Fälle den Preis entgegennehmen würde, lief im Internet-Forum „Wir höflichen Paparazzi“ – in dem damals fast alle aus Herrndorfs großem Freundeskreis verbandelt waren – die Vorbereitungs-Diskussion heiß. Besonders emsig wurde im Kreis der „Pappen“ gefachsimpelt, welche Botschaften im Ernstfall in einer Dankesrede unterzubringen wären. Running Gag im Forum waren damals die „Weisheiten der Fulbe“, laut Koall „sinnlose Zuckertüten-Aphorismen“, die man einem realexistierenden, laut Wikipedia einstmals nomadisierenden Westafrikanischen Hirtenvolk unterschob. Ein „Sprichwort der Fulbe“ hatte es bereits, neben echten Worten von Herodot bis Stephen Hawking, als Mottozitat in „Sand“ geschafft. Der Nonsens-Satz „Wer nicht weiß, wohin er geht, erreicht mit jedem Schritt sein Ziel“ leitet dort Kapitel 11 ein. In der Nacht vor der Preisverleihung wurde dann jener Satz mit Sonne und Düne geboren, der, wie Koall lachend gesteht, „weder astronomisch noch sonst wie Sinn macht“.  

Als es dann soweit ist und er leibhaftig auf der Glashallen-Bühne steht, freut sich Koall nicht nur für Herrndorf, sondern für alle „Pappen“, den Freundeskreis, der die Verleihung natürlich im Livestream verfolgte. „Ich wusste, alle schauen zu!“ Wolfgang Herrndorf selbst meldet sich ein paar Minuten später im Forum und fragt kreuzbrav: „Hab’ ich was verpasst?“ Treffer versenkt. Das gilt auch für den frei erfunden Satz: Der kleine Guerilla-Gag wird von den Medien aufgegriffen – die SZ macht ein „afrikanisches Sprichwort“ daraus, die F.A.Z. einen „Sinnspruch aus Nordafrika“. Für Robert Koall endet der Tag weit nach Mitternacht, im Taxi fährt er aus einem MDR-Studio ins Hotel. Er hat die mediale Nach-Wirkung des Preises unterschätzt: „Ich dachte: Super, jetzt gibt’s Sekt, Schnittchen und Party! Gab’s auch – aber ich hatte währenddessen einen Interview-Marathon zu absolvieren.“ Als die „Pappen“ am nächsten Tag im Berliner „Prassnik“, ihrer Stammkneipe, Wolfgang Herrndorfs Leipziger Buchpreis feiern, ist Robert Koall schon wieder auf Arbeit im Theater. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.  

Robert Koall, Chefdramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus (c)Thomas Rabsch

Robert Koall, geboren 1972 in Köln, studierte zunächst einige Semester Jura, Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Von 1995 bis 1998 war er Assistent von Christoph Schlingensief, anschließend arbeitete er als Dramaturg an den Schauspielhäusern in Hamburg, Zürich und Hannover. Von 2009 bis 2016 war er Chefdramaturg am Staatsschauspiel Dresden, seit der Saison 2016/17 ist er Chefdramaturg und stellvertretender Generalintendant am Düsseldorfer Schauspielhaus. Koall hat zahlreiche Romane für das Theater bearbeitet, darunter „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, das zum meistgespielten Bühnenstück der 2010-er Jahre wurde.

Am Düsseldorfer Schauspielhaus läuft derzeit Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ in einer sehr sehenswerten Bühnenfassung von Robert Koall (Regie: Adrian Figueroa).

Preis der Leipziger Buchmesse 2012 im Video

Entdeckungen an den Rändern

Entdeckungen an den Rändern

Jedes Jahr dasselbe: Man rast auf Weihnachten und die Zeit „zwischen den Jahren“ zu und hofft auf freies, voraussetzungsloses Lese-Glück. Ein Glück, das auch Jury-Mitgliedern von Literaturpreisen zuteil wird?  

Marie Schmidt: Wir haben von der Buchmesse einen Reader bekommen, auf dem alle 486 Einreichungen für den Preis der Leipziger Buchmesse gespeichert sind. Mit dem sitze ich schon seit geraumer Zeit auf dem Sofa. Das ist aber kein Lesen, wie man es sich für ruhige Tage erträumt.  

Sie haben – vom Wilhelm-Raabe- bis zum Döblin-Preis – bereits in allerhand Jurys gesessen und wissen, dass Jury-Arbeit vor allem eins ist: Arbeit. Warum setzt man sich dem aus?  

Es gibt sonst kaum einen Ort, an dem so konzentriert über Texte gesprochen wird wie in der Jury-Sitzung eines Literaturpreises. 

Marie Schmidt

Schmidt: Es gibt sonst kaum einen Ort, an dem so konzentriert über Texte gesprochen wird wie in der Jury-Sitzung eines Literaturpreises. Beim Döblin-Preis, der ja für noch unveröffentlichte Buchprojekte vergeben wird, war ich sehr berührt: Man bekommt dort einen sehr intimen Einblick in entstehende Bücher. Im Job bei der Tageszeitung denke ich in anderen Formen von Relevanz als bei der Juryarbeit; es sind ganz unterschiedliche Umgehensweisen mit Büchern, an denen man wächst. 

Wir haben keinen Mangel an Literaturpreisen – was ist für Sie das Besondere am Preis der Leipziger Buchmesse? 

Schmidt: Das ist die Auffächerung in drei Kategorien, insbesondere die tolle Kategorie Übersetzung. Ein Bereich, der in der großen Öffentlichkeit zumeist unterbelichtet bleibt. Mit der Frage, was eine sehr gute Übersetzung wirklich ausmacht, hatte auch ich mich, so ins Detail gehend, seit meinem Studium nicht mehr befasst. Das ist schon jetzt ein Gewinn.    

Wie organisiert sich die Jury-Arbeit?  

Schmidt: Wir haben uns in einer Zoom-Konferenz gesehen, einige Kolleginnen auch schon im Real Life. Es gibt sehr viele E-Mails, die die ganze Zeit über hin und her gehen.  

Aber es liest nicht jeder alles? 

Schmidt: Nein. Die Titel sind unter den Jurorinnen und Juroren aufgeteilt. Sobald es jedoch zu einzelnen Büchern Zustimmung gibt, fangen auch die Kolleginnen und Kollegen an zu lesen. 

Sie steigen dann auch für Ihre Favoriten in den Ring? 

Schmidt: Das kommt, aber vermutlich eher später im Prozess. Wenn die Liste kürzer geworden ist.  

Im Herbst wurde, etwa von Ludwig Lohmann vom Kanon Verlag, der auch als Literatur-Podcaster unterwegs ist, bemängelt, dass auf den Shortlists der wichtigen Literaturpreise Bücher aus unabhängigen Verlagen fehlen. Eine berechtigte Kritik?   

Schmidt: Das erlebe ich als Berichterstatterin, ehrlich gesagt, nicht so… 

Der Preis der Leipziger Buchmesse scheint sich die Jacke tatsächlich nicht anziehen zu müssen: In der Kategorie Belletristik ging er zuletzt an Mikrotext (2023), Droschl (2022 und 2021) und die Verbrecher (2019).   

Schmidt: Anders als bei den Preisen haben es Indie-Verlage in den Feuilletons schwerer. Das hat mit Dynamiken der Öffentlichkeit zu tun: Das, was scheinbar groß und wichtig ist, wird auch groß und wichtig in der Zeitung dargestellt. So wird ein neuer Roman von Stuckrad-Barre… 

… am Erscheinungstag groß besprochen… 

Schmidt: Aufmerksamkeit, die dann womöglich fehlt für eine Entdeckung aus dem Verbrecher Verlag.  

Sie würden aber keine Indie-Quote fordern? 

Schmidt: Ich glaube, das ist illusorisch. Wenn es um ästhetische Urteile geht, sollte man es der Sensibilität der Jurorinnen und Juroren überlassen, darauf zu achten, dass auch weniger „laute“ Positionen gehört werden. Das schaffen wir schon!  

Identitäts- und Genderfragen werden im Literaturbetrieb gerade breit diskutiert. Welche Rolle spielen außerliterarische Überlegungen in der Jury-Arbeit?  

Schmidt: Es glaubt immer niemand, aber: In den Jurys, in denen ich bisher saß, spielten sie in erstaunlichem Ausmaß KEINE Rolle. Und sollte jemand mal, ich beispielsweise, in einer drohenden Patt-Situation, angeregt haben, nach äußeren Kriterien zu gehen, bin ich sehr zurechtgewiesen worden. Allerdings gibt es eben auch Literaturen, die in den Jahrzehnten zuvor vielleicht nicht so ernst genommen wurden; Bücher von Frauen beispielsweise oder Bücher von Menschen mit Diskriminierungserfahrung – die vielleicht auch ästhetisch interessanter sind als andere Bücher. Ihnen ist eine Signatur unserer Epoche eingeschrieben – über gebrochene Lebensläufe vielleicht oder, speziell in Deutschland, die Frage nach der mehr oder weniger gelungenen Vereinigung. Das sind die Fragen unserer Zeit… 

Sie waren im Frühjahr Critic-in-Residence in St. Louis. Das klingt, wenn nicht nach dem Kritikerinnen-Himmel, so doch spannend? 

Schmidt: Es ist eine tolle Einladung. Aber St. Louis ist nicht das Paradies. Die Aufgabe besteht darin, dort zu unterrichten. Das Germanistik-Department der Washington University St. Louis hat seit den 1980er Jahren ein Programm, innerhalb dessen sie jedes Jahr eine Kritikerin und eine Dichterin einladen, Protagonisten der Gegenwartsliteratur, wenn man so will. Ich habe einen Kurs angeboten zu Literatur, in der Sprachwechsel eine Rolle spielt, Arbeitstitel „Einwanderungsbedingungen in die deutsche Sprache und Literatur“. Da spielten die Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse 2022 eine wichtige Rolle – Uljana Wolfs Etymologischer Gossip (Kookbooks) in der Kategorie Sachbuch/Essayistik, und Tomer Gardis Roman Eine runde Sache (Droschl) in der Belletristik-Kategorie.  

Für Sie auch Gelegenheit, sich mit den Voraussetzungen und „Begleitumständen“ Ihres Kritikerinnen-Jobs auseinanderzusetzen? 

Schmidt: Ich wollte eigentlich mit den Studierenden über die Bücher reden, sie hatten allerdings ganz andere Fragen. Es gibt dort auch ein Creative-Writing-Programm, bei dem man seinen PhD zur Hälfte mit einem Roman-Projekt erlangen kann. Infolgedessen waren die Studierenden sehr heiß darauf zu wissen, wie eben solche Preise funktionieren und wer sie bekommt. 

In meinen Kritiken findet sich meist nicht dieser eineindeutige Satz: Dieses Buch ist toll. Oder jenes ist schlecht, das können Sie sich sparen.

Marie Schmidt

Und was, bitte, macht eine gute Literaturkritik aus? 

Schmidt: Oha. Große Frage. Eine gute Kritik stellt ein Buch – egal, ob Belletristik oder Sachbuch – erst mal seinen eigenen Prinzipien gemäß dar. Was will es, was versucht es? Dann stellt es diesen Versuch in einen Kontext. Wie steht es, seinen eigenen Maßstäben folgend, in der Welt? Dadurch ergibt sich ein Urteil fast wie von selbst. Zumindest können die Leserinnen und Leser entscheiden, ob sie sich mit dem Gegenstand der Kritik auseinandersetzen wollen. In meinen Kritiken findet sich meist nicht dieser eineindeutige Satz: Dieses Buch ist toll. Oder jenes ist schlecht, das können Sie sich sparen. Dafür werde ich durchaus auch kritisiert. Um der Bücher willen möchte ich so nicht sprechen. Die letzte Entscheidung sollten die Leserin, der Leser in der Buchhandlung treffen. 

Die Marketing- und Werbeabteilungen der Verlage lieben diese „blurbs“… 

Schmidt: Ehrlich gesagt, versuche ich sogar so zu schreiben, dass diese zitierbaren Halbsätze nicht in meinen Texten enthalten sind. Manchmal klappt es nicht, Zeitungen leben nun mal von Zuspitzungen.  

Manchmal wirkt aber auch der Hammersatz: Als Sie in der SZ schrieben, dass Mascha Jacobs’ „Dear Reader“ der aktuell beste Literatur-Podcast im Land sei, musste ich den sofort anhören.   

Schmidt: Erwischt, Regel gebrochen. Aber auch, weil sich die Podcast-Welt derzeit drastisch umstellt. Es war lange eine Medien-Welt, in der sehr viel passieren konnte, auch Experimentelles. Nun sortiert sich auch das nach ökonomischen Maßstäben der Reichweite und des Anzeigenpotenzials neu. Ein Podcast wie Dear Reader, der ganz anders funktioniert als gewöhnliches Literaturfernsehen, hat es da sehr schwer. Diese Fallhöhe musste man einmal markieren.   

Sie haben mal gesagt, dass die „kulinarische Kritik“ auf dem Vormarsch wäre. Sie meinen da keine Kochbücher, oder?  

Schmidt: Oft wird das eigene Wohlgefühl bei der Lektüre als Kriterium herangezogen. 

„Ich habe das gern gelesen…“ – So?  

Schmidt: Das ist natürlich ein phatischer Satz; damit möchte man eher ausdrücken, dass man das Buch überhaupt gelesen hat – und eher dafür ist. Zum Glück finden wir Kritiker dann meist noch einen zweiten, dritten und vierten Satz (lacht).  

Jetzt untertreiben sie, denn 2019 haben Sie den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik bekommen und sind damit ein Stück weit in den Kritiker-Olymp vorgerückt. Können Sie sich noch an Ihre Anfänge erinnern? Gab es einen Plan?  

Schmidt: Nein. Ich habe eine Ausbildung an der Journalistenschule absolviert zur Redakteurin und Journalistin. Ich hatte zwar bereits als Kind in einem Lehrerhaushalt immer mit Büchern zu tun gehabt und dann Komparatistik, also Vergleichende Literaturwissenschaften, studiert – hätte mich aber nie zu sagen getraut: Ich werde Literaturkritikerin. 

Es ist Ihnen passiert… 

Schmidt: Bei der „Zeit“, für die ich dann frei arbeitete, gab es Leute, die mir manchmal kommentarlos Bücher zugeschickt – und mich haben schreiben lassen. Irgendwann, als ich mal etwas Bescheidenes über das Literaturkritikerin-Werden gesagt habe, meinte ein Kollege: Das bist Du schon! Und ich dachte: Ah. Ich würde heute auch jüngeren Kolleginnen und Kollegen immer sagen: Es ist eine Frage der Praxis. Man macht’s – oder man macht’s nicht. Es ist ja nicht so, dass es zu viele gute Literaturkritiker gäbe! Es kann auch ein zäher Beruf sein. Oft lese ich nicht nur das zu rezensierende Werk, sondern ziehe in der Bibliothek noch ein Zweit- oder Drittbuch zu Rate. Das ist eine lange, einsame Geschichte. 

Als Freier ist man auch finanziell nicht auf Rosen gebettet… 

Schmidt: Stimmt. Auf Zeile bei einer Tageszeitung zu schreiben, macht man nicht, um seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen.  

In der Laudatio zum Kerr-Preis sagte Ihre Kollegin Susanne Mayer über Sie: „Sie schreibt weniger für die Kollegen, sie schreibt auch nicht, um der Welt mitzuteilen, wie wichtig sie ist, sie schreibt über Dinge, die sie interessieren. Das sind vielleicht Bücher, die andere noch gar nicht auf dem Schirm haben.“     

Schmidt: Das ist sehr freundlich. Das stimmte natürlich mehr in meinen ersten Berufsjahren, wo es arriviertere Kritikerinnen und Kritiker gab, die die Bücher besprachen, auf die alle warteten. Und ich habe am Rande auch Dinge entdecken können, die etwa in Deutschland noch nicht so bekannt waren, die ich aus einem amerikanischen oder französischen Kontext kannte. Das einbringen zu können, ist ein wenig das Privileg der Anfänger, die sich einen Weg erst noch bahnen. Das war eine schöne Zeit. Inzwischen besteht die Erwartung, dass ich als Literaturredakteurin auch „große“ Bücher bespreche.   

Wir sind in den Wochen der Empfehlungslisten, deshalb möchte ich sie zum Schluss fragen: Welchem Buch aus dem zurückliegenden Jahr wünschen Sie möglichst viele Leserinnen und Leser? 

Schmidt: Da gibt es einige. Aber Dana Vowinckel und ihrem in Chicago, Jerusalem und Berlinspielenden Roman Gewässer im Ziplock (Suhrkamp) wünsche ich sie besonders; vor allem jetzt, nach dem 7. Oktober, wo vieles im Buch noch einmal einen ganz anderen Bedeutungsraum entwickelt. In den SZ-Literaturtipps zu Weihnachten habe ich die erste Werkausgabe von Marlen Haushofer (Claassen) empfohlen. Die meisten kennen vermutlich „Die Wand“, aber es gibt darüber hinaus eine ganze Reihe von Romanen und Erzählungen, die uns heute unglaublich aktuell und modern anmuten.   

Marie Schmidt wurde 1983 in München geboren, studierte im Hauptfach Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Europäische Ethnologie und Interkulturelle Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Nach der Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule München und einer abgebrochenen Promotionsarbeit über Ezra Pound arbeitete sie als Redakteurin vier Jahre bei der „Zeit“ in Hamburg. Seit Juli 2018 ist sie Literaturredakteurin bei der „Süddeutschen Zeitung“. Im Frühjahr 2023 war sie Critic-in-Residence an der Washington University in St. Louis. Juryerfahrung sammelte sie bereits beim Wilhelm Raabe-Literaturpreis, Alfred-Döblin-Preis und Marie Luise Kaschnitz-Preis. Gemeinsam mit David Hugendick von der „Zeit“ gehört Marie Schmidt nun erstmals der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse an.  

Straße der Besten

Straße der Besten

Bei der nächsten Manga-Comic-Con im März wird aus der bisherigen Gemeinschaftspräsentation MCC Kreativ die New Artist Alley – an der Weltsprache Englisch führt kein Weg vorbei? 

Sassette Scheinhuber (lacht): Das spart uns an der ein oder anderen Stelle Übersetzungsarbeit…

Im Ernst: Was hat Sie veranlasst, diesen Schritt zu gehen? 

Kerstin Krämer: Man muss ihn vor dem Hintergrund einer generellen Überarbeitung unseres Hallenkonzepts sehen. Wir haben ja sämtliche Ausstellungsbereiche in den Hallen 1 und 3 umbenannt. Wir haben uns gefragt: Wie können wir am Puls der Zeit bleiben, noch mehr Besucher anlocken? Wir haben uns dazu, klar, auch andere Conventions angeschaut – und uns am Ende in den Bezeichnungen an eine japanische Stadt angelehnt – mit ihren Straßen, Plätzen und speziellen Ecken. Das Ganze natürlich in Englisch. Und da passte MCC Kreativ nicht rein…

Scheinhuber: Mit einer Umbenennung allein ist es natürlich nicht getan. Wir feiern 2024 zehn Jahre Manga-Comic-Con; den Bereich MCC Kreativ gibt es dabei schon seit dem Start 2014 – insofern galt es, generell an ein paar Stellschrauben zu drehen, ein bisschen aufzuräumen, frischen Wind reinzubringen. Mit dem neuen Namen lässt sich das perfekt kommunizieren. 

Planen die MCC: Kerstin Krämer (links) und Sassette Scheinhuber vom Team der Leipziger Buchmesse (c)Leipziger Messe

Krämer: Ein Punkt, der uns wichtig ist: Wir wollen den Bereich der kreativen Einzelkünstler deutlicher abgrenzen von den Künstlerinnen und Künstlern, die sich schon einen eigenen Messestand leisten. In unseren Köpfen war die Trennung vorhanden – aber nicht bei Ausstellern und Publikum. Der Bereich MCC Kreativ war auf 130 Teilnehmer begrenzt, die aus 400 bis 500 Bewerbungen ausgelost wurden. Allerdings hatten nicht wenige offenbar sehr stabiles Losglück, und waren immer wieder dabei – obwohl die Auslosungen notariell überwacht wurden und wir auch streng darauf geachtet haben, Doppelbewerbungen zu vermeiden. 

Nun führen Sie einen Turnus ein?

Scheinhuber: Das ist die wahrscheinlich krasseste Neuerung. Die Teilnahme an der New Artist Alley ist nur noch alle drei Jahre möglich. Teilnehmer, die ausgelost wurden und sich angemeldet haben, können sich erst nach drei Jahren erneut bewerben…

Krämer: … oder regulär Aussteller werden, mit einem kleinen Stand. 

Stimmt, aber auch der kostet! Für manche Künstlerinnen und Künstler war der Bereich MCC Kreativ auch aufgrund der günstigen Preise attraktiv. Wird die New Artist Alley nun teurer?  

Scheinhuber: Ja, aber das Gros der Bewerber hat realisiert, dass es in den vergangenen drei Jahren generell Preissteigerungen gegeben hat. MCC Kreativ war ein von uns bezuschusster Bereich, vor allem im Standbau haben wir da ordentlich was draufgelegt – und das lange vor Corona! Das Projekt soll nun weitgehend kostendeckend laufen, im Idealfall mit einer schwarzen Null.  

Die MCC ist ein Magnet für kreative Künstlerinnen und Künstler (c) Jens Schlüter/Leipziger Messe

Sie haben auch die Teilnehmerzahl strenger limitiert: Statt 130 Künstlerinnen und Künstler der MCC Kreativ liegt die Höchstgrenze der New Artist Alley bei 80 Plätzen…

Krämer: Das muss man vor dem Hintergrund einer insgesamt positiven Entwicklung in diesem Kreativ-Segment sehen. Sehr viele Künstler haben uns im Vorfeld signalisiert, dass sie 2024 eigene Stände mieten wollen. Zum anderen waren die 130 Plätze bei MCC Kreativ schon die Obergrenze dessen, was Besucher sinnvoll aufnehmen können. Und wir mussten damit rechnen, dass sich der Pool der potenziellen Bewerber durch den Drei-Jahres-Turnus etwas verringert. Deshalb die Begrenzung auf 80 Plätze bei der New Artist Alley. Es ist eine Konzentration, von der alle profitieren: Die Künstlerinnen und Künstler und das Publikum. 

Wie viele Bewerbungen haben Sie für die erste New Artist Alley erhalten? 

Scheinhuber: Es waren 415; damit lagen wir auf dem Level der Vor-Corona-Zeit. 

Krämer: Wir sind insgesamt mit dem Stand der Jubiläums-MCC hoch zufrieden! Wir hatten im Frühjahr 397 Aussteller auf einer Fläche von 3880 Quadratmetern. Für 2024 konnten wir bei Ausstellern und belegter Fläche noch einmal zulegen. Wenn wir speziell auf den Kreativ-Bereich schauen: Da hatten wir im Frühjahr über 100 Künstlerinnen und Künstler mit eigenem Stand, dachten aber, dass das mit der BKM-Förderung zusammenhängt. Dank der Neustart-Kultur-Gelder konnten wir ja 30 Prozent Rabatt auf den eigenen Messestand gewähren. Diese Förderung ist nun ausgelaufen. Insofern haben wir prognostiziert, dass der Run auf eigene Stände etwas abebbt. Aber es sind jetzt mehr als im Frühjahr 2023!

(c) Jens Schlüter/Leipziger Messe

Abschließend gefragt: Welche Bedeutung kommt dem Kreativ- und Künstlerbereich auf der MCC aus Ihrer Sicht zu? 

Scheinhuber: Für Künstlerinnen und Künstler ist die MCC eine der wichtigsten Veranstaltungen im Jahr. Im Gegensatz zu anderen Conventions haben wir den Vorteil, dass hier auch alle relevanten Verlage ausstellen. Am Ende des Tages hat das Gros der nicht-kommerziellen Kreativen doch das Ziel, ihr Werk über einen professionellen Verlag zu veröffentlichen. Die meisten, die hier Artworks und selbstproduzierten Merch anbieten, schreiben eigene Manga oder zeichnen Comics. Hier finden sie das Publikum und die Fachplattform, die sie suchen. 

Krämer: Durch die Verknüpfung von Leipziger Buchmesse und MCC erreicht man schlicht andere Publikumsbereiche als auf einer reinen Anime- oder Manga-Convention mit jeweils sehr spitzer Zielgruppe. Bei uns in Leipzig trifft man auf Schulklassen, Lehrer, Eltern, ein neugieriges allgemeines Publikum. Das ist ein ungeheures Pfund!   

Kerstin Krämer ist Projektdirektion Bildung / Kinder+Jugend / Manga-Comic-Con und leitet das Management der Leipziger Buchmesse. 

Sassette Scheinhuber ist Projektmanagerin bei der Manga-Comic-Con.

Leseförderung per Podcast

Leseförderung per Podcast

Alles begann im ersten Lockdown: Lena Stenz, freiberufliche Kommunikations- und Marketingexpertin sowie Mutter zweier Kinder, die sich im hessischen Hofheim schon ehrenamtlich als „Lese-Mama“ engagiert hatte, wurde Podcasterin. Ihre Lesehäppchen-Show eroberte die Kinderzimmer – und zeigte, wie in einer Nussschale, schon das, was ab November 2021 den Podcast Bücheralarm erfolgreich machen sollte. Die Idee: Kinder liebevoll an das Lesen heranführen, indem man sie selbst mitmachen lässt, sei es als Fragenstellende oder Vorlesende. Dazu möglichst viele aus der Bücher-Macher-Welt mit einbinden, von Autorinnen und Autoren über Illustratorinnen bis zu Verlagen – um auf diese Weise ein Hörerlebnis rund ums Buch zu schaffen, was Kinder dazu animiert, eigenständig weiterzulesen. „Die Idee der Leseförderung per Podcast war geboren“, erinnert sich Stenz. Daran, dass das Medium einen regelrechten Boom hinlegen würde, war damals noch nicht zu denken. 

Bücheralarm-Gründerin Lena Stenz (c)Bücheralarm

Inzwischen hat Lena Stenz daraus die bundesweiten Initiativen Bücheralarm und Bücheralarm@school entwickelt, viele Partner gefunden und ein großes Netzwerk aufgebaut. Für Kinder im Grundschulalter setzte Stenz zunächst auf Büchereien als Projektpartner – den Einstieg ermöglichen Podcast-Koffer mit spannenden Buchtiteln, der passenden Podcast-Technik, dazu umfangreiches Begleitmaterial für Bibliotheksmitarbeitende und Lehrkräfte. Bücheralarm@school, gestartet im November 2022 und als multimediales Angebot für weiterführende Schulen konzipiert, war dann „die nächste Evolutionsstufe“ des Projekts. Inzwischen sind mehr als 6000 Kinder und Jugendliche auf die ein oder andere Weise an Bücheralarm beteiligt gewesen. Vermittelt wird nicht nur Spaß am Lesen, sondern, quasi spielerisch, auch Medien- und Digital-Kompetenz, die Fähigkeit, in der Gruppe zu arbeiten. „Die Kinder und Jugendlichen“, sagt Stenz, „werden zu Lese-Botschaftern, indem sie sich intensiv mit der Lektüre auseinandersetzen.“ Das Konzept ist großartig, dennoch ist es enorm kräftezehrend, die Finanzierung des Projekts am Laufen zu halten. Ein Dutzend renommierter Kinder-, Jugend- und Schulbuchverlage, von Magellan bis Klett-Sprachen, unterstützen „Bücheralarm“, Technikpartner sind die Mikrofonhersteller Røde und Shure sowie der Hosting-Anbieter Julep Media. „Jede Türklinke wurde von mir persönlich geputzt“, lacht Lena Stenz.  

Das Bücheralarm-Mobil (c)Bücheralarm

Für die Initiatoren des Deutschen Lesepreises, die Stiftung Lesen und die Commerzbank-Stiftung, war Bücheralarm so auszeichnungswürdig, dass sie Lena Stenz 2023 in der Kategorie „Herausragendes individuelles Engagement“ mit dem 1. Preis auszeichneten. Zur Leipziger Buchmesse Ende April 2023 zündete Lena Stenz dann die nächste Raketenstufe ihres Projekts: Mit dem Bücheralarm Award startet der deutschlandweit erste Podcast-Preis für Schulen! „Wie ließen sich Jugendliche besser motivieren und aus der Reserve locken als mit einem Wettbewerb um besonders coole Podcast-Folgen“, findet Stenz. Schon das Ausfüllen des Bewerbungsbogens hält dazu an, die eigene Leistung zu reflektieren. „Die Auszeichnung auf der großen Bühne in Halle 3 am Buchmesse-Freitag 2024 dürfte für alle Preisträgerinnen und Preisträger ein bleibendes Erlebnis werden.“ In einer kleinen Bühnen-Show konnte sich im letzten April schon einmal die Jury des neuen Preises vorstellen: Neben Kerstin Krämer, Projektdirektorin Bildung bei der Buchmesse, gehört ihr etwa der Rapper CRZA an, der parallel zum eigenen Label das Projekt Rap macht Schule gestartet und auf der Buchmesse-Bühne gleich mal Goethes „Erlkönig“ als Rap vertont hat. Außerdem dabei: Der podcastende Influencer und Lehrer Benjamin Donath aka Benni Cullen, Schulleiter Gerd Mengel und Mirai Mens aka @lesehexemimi – mit knapp 10.000 Followern eine der bekanntesten jugendlichen Bookstagramerinnen des Landes, die eben beim Lübbe-Imprint One mit Lass mal bloggen! ihr erstes Buch herausgebracht hat.   

Der Launch des Bücheralarm Awards auf der Leipziger Buchmesse im April 2023 (c)Bücheralarm

In Halle 3, wo Stenz den Aufschlag für den neuen Preis gemacht hat, waren auch der 20-Quadratmeter-Messestand von Bücheralarm – und das Bücheralarm-Podcast-Mobil zu finden. Mit dem in einen Mercedes-VAN eingebauten mobilen Studio konnte Stenz mitten im Messetrubel Podcasts in Studioqualität produzieren. So wurde die neue Podcast-Reihe Bücheralarm-Talk in Leipzig gelauncht – ein Format, das Hintergründe zum Thema Leseförderung allgemein und zum Projekt im Speziellen bietet. Die ersten zwölf Folgen sind live auf der Leipziger Buchmesse entstanden. Wer sich fragt, wie man an solch ein schickes rollendes Studio kommt, ja, mehr noch: Wie man so ein mächtiges Projekt überhaupt stemmen kann, erhält von der energiegeladenen Bücheralarm-Gründerin faszinierende Einblicke zum Making-of: „Von unserem Mikrofon-Partner Røde erfuhr ich von dem rollenden Studio. Der Geschäftsführer der Agentur, die den Bus betriebt, ist selbst Papa – und zwar einer, dem Bildung am Herzen liegt. So ist er zum Selbstkostenpreis mit uns auf die Messe gefahren.“ Low Budget ist angesagt, wenn die Koffer für Leipzig 2024 gepackt werden – alles Geld fließt ins Projekt. „Das meiste nimmt man von zu Hause mit“, lacht Stenz. „So muss mein Mann während der Buchmesse auf unsere Kaffeemaschine verzichten. Und unseren Kühlschrank habe ich bei Ebay Kleinanzeigen geschossen.“ Doch ein Messestand braucht Menschen. Engagierte Fans der Leseförderung, so wie die beiden Bibliotheksleiterinnen, die im Frühjahr Urlaub genommen haben, um beim Bücheralarm mitzuhelfen. „Das sind“, so Lena Stenz, „kostbare Momente, die man zurückbekommt, wenn man so ein Projekt startet.“ 

Vom Buch auf die Bühne

Vom Buch auf die Bühne

Connewitz goes West: Der Saal im Neuen Schauspiel nahe dem Lindenauer Markt, in dem die Cammerspiele Leipzig an diesem Abend zu Gast sind, ist komplett ausverkauft. Auf der Bühne: Die Uraufführung der Dramatisierung von Annika Büsings mehrfach preisgekröntem Roman Nordstadt, 2022 erschienen im Göttinger Steidl Verlag. Die Bühnenfassung fokussiert ganz auf die beiden Hauptfiguren Nene und Boris. Sie ist Bademeisterin im städtischen Schwimmbad, er ein arbeitsloser Underdog, der nach einem Schwimmbrett fragt: Der Beginn einer intensiven Liebesgeschichte – ohne Happy End, wie man bald ahnt. Die Schauspieler sind in Hochform, das Publikum geht begeistert mit – langsam legt sich auch das Lampenfieber von Regisseur Johann Christoph Awe von den Cammerspielen, der gerade mal knapp vier Wochen hatte, um die Inszenierung mit seinem Team zu erarbeiten. Nach diversen Regie-Projekten in Duo-Konstellationen ist „Nordstadt“ seine erste komplett eigenverantwortliche Arbeit als Regisseur. Später, nach dem Schluss-Applaus, kann Awe den Abend langsam auch selbst genießen: Die Autorin ist mit Freunden da, zwei Steidl-Mitarbeiter; großes Hallo und lange Gespräche. Die Nacht wird kurz. Und der nächste Abend ist bereits wieder ausverkauft.

Christoph Awe, Jahrgang 1985, studierter Kommunikations- und Kulturmanager, gehört, mit Unterbrechungen, seit 2017 zum Leitungsteam der Cammerspiele Leipzig, wo er für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und als Dramaturg tätig ist. Dazu kamen in den letzten Jahren vermehrt Regie-Arbeiten. Die Cammerspiele starteten zu Beginn der Nullerjahre auf dem Gelände der Kulturfabrik Werk 2, inzwischen gilt der von Sophie Renz (Geschäftsführung), Christian Hanisch (Künstlerische Leitung), Elisa Jentsch und Michaela Günold (Vorstand) und eben Christoph Awe geführte Verein als die zentrale Produktionsstätte für den Theaternachwuchs in Leipzig, ein Labor und Sprungbrett für freie Gruppen. Daneben gibt es auch regelmäßig eigene Produktionen – so wie jetzt im Fall von „Nordstadt“, das einen kleinen Trend markiert: In den letzten Jahren gab es auffallend häufig Roman-Adaptionen. Awe findet den „Erstzugriff“ auf solche Stoffe spannend: „Es ist sehr reizvoll, ein Buch, das einen begeistert hat, auf die Theaterbühne zu bringen. Die spannende Frage ist, ob freie Theater wie wir dann auch die Uraufführungsrechte bekommen?“ 

Bringt gern Romane auf die Theaterbühne: Christoph Awe (c)nk

Im Fall von „Nordstadt“ und dem Steidl Verlag klappte das reibungslos, manchmal muss man Geduld mitbringen. Bei „Ein Mann seiner Klasse“ (Ullstein) nach dem Roman von Christian Baron, eine Produktion von Das Üz, einer freien Truppe um Christian Hanisch, die, mit Awe als Dramaturgen, ebenfalls 2023 herauskam, lagen die Uraufführungsrechte beim Staatstheater Hannover. Dort verzögerte sich die Aufführung pandemiebedingt. Schneller ging’s bei anderen Produktionen, an denen Awe beteiligt war: „Scherbenhelden“ und „Bis die Sterne zittern“ nach Büchern von Johannes Herwig, sowie „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ nach dem Debüt von Björn Stephan“ (Galiani, 2021). „Wir sind schon stolz darauf, dass wir uns in den letzten Jahren mit mehreren Ur- oder Zweitaufführungen nach wichtigen Romanen einen Namen machen konnten“, sagt Christoph Awe. „Sowohl in der Theater- wie auch in der Verlagswelt hat man das aufmerksam registriert, es hilft uns, wenn wir Rechteinhaber wegen interessanter Stoffe anfragen.“  

Bei so viel Nähe zur Buch- und Verlagswelt ist es kein Zufall, dass die Cammerspiele seit mehr als zehn Jahren auch ein etablierter „Leipzig liest“-Ort ist. „Hin und wieder haben kleine Leipziger Verlage bei uns angefragt“, erklärt Christoph Awe. „Meist ist es jedoch so, dass wir uns im „Leipzig liest“-Büro melden – wir bestätigen, dass unser Saal von Mittwoch bis Sonntag zur Verfügung steht, schlagen aber auch selbst Autorinnen und Autoren vor.“ Ein Theaterbezug ist den Cammerspielen dabei nicht nur wichtig – er hat sich über die Jahre geradezu zu einem Qualitäts- und Alleinstellungs-Merkmal im Rahmen des Lesefests entwickelt. Abende mit Theaterautoren wie Roland Schimmelpfennig, Nis-Momme Stockmann oder Ferdinand Schmalz, die mit eigenen Romanen am Start waren, oder mit Sachbuchautoren wie dem Theaterkritiker Peter Michalzik („Horváth, Hoppe, Hitler“) sind legendär. 

Großer Andrang bei der Lesung aus „Samuels Buch“: Gerwig Epkes (SWR, links) und Samuel Finzi (rechts) (c)Cammerspiele

In diesem Frühjahr waren die Abende mit Björn Bicker („Aminas Lächeln“, Kunstmann), Katharina Peter („Erzählung vom Schweigen“, Matthes & Seitz Berlin) oder Samuel Finzi („Samuels Buch“, Ullstein) allesamt gut besucht, bei Finzi musste immer weiter nachgestuhl werden, so dass der Autor schließlich ganz am Ende des schlauchförmigen Saals saß. Dass der Off-Kultur-Hotspot seine Lesungen bei freiem Eintritt anbietet, mag im Szeneviertel Connewitz ein weiterer Grund seiner Beliebtheit sein. Die Kontakte, die durch „Leipzig liest“ in die Verlagswelt geknüpft wurden, haben mit dazu geführt, dass es inzwischen auch außerhalb der Buchmesse Lesungen in den Cammerspielen gibt. Neulich gab es etwa einen Abend mit Manja Präkels; der kurze Draht zum Berliner Verbrecher Verlag machte es möglich. „Um weitere Füße in die Verlags- und Buchwelt reinzubekommen und ein Publikum anzulocken, dass uns noch nicht kennt, sind die ‚Leipzig liest’-Termine ideal, freut sich Christoph Awe. Mit Leserinnen und Lesern, die ja sowieso Genussmenschen sind, kommt er auch in seinen beiden Nebenjobs ständig in Kontakt – regelmäßig kann man ihn in Schleußig hinterm Tresen des Weinladens Edelrausch und der Buchhandlung H24 treffen.