Geteiltes Glück 

Geteiltes Glück 

„Verdamp lang her“ kommt einen in den Sinn, der Song der Kölschrock-Dinos von BAP, den Wolfgang Niedecken 1981 schrieb. Und der, der Legende zufolge, der Band die Einladung bescherte, als Vorgruppe der Rolling Stones zu spielen. Bei Oliver Zille war die Freude mit Händen zu greifen über die Rückkehr einer „ganz realen, brummenden, quirligen, lebendigen Buchmesse“. Lange hat es gedauert, aber: „Wirklich gute, starke Dinge stehen fest!“ In der sonnendurchfluteten Glashalle dankte der Buchmesse-Direktor allen, „die uns in den wilden Zeiten zur Seite gestanden und die Treue gehalten haben“. Und, klar doch: Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer, all die Transporteure der Literatur und zum Schluss die Leserinnen und Leser bleiben die Seele dieser Buchmesse. Deren Kraftzentrum und erster magischer Moment ist die Preisverleihung unterm Glashallenrund, Donnerstag um Punkt vier. Dank der Zauberhände von Jörg Wagner und seiner Profis von SHOW concept an den Reglern wurden diesmal zwei Nominierte, die sich gerade auf anderen Kontinenten befanden, zugeschaltet. Lessons learned, hybride Umsetzungen gehören seit Corona zum kleinen Event-Einmaleins. Nur live ist schöner! 

Die drei Siegertitel (c) Tom Schulze

Jury-Sprecherin Insa Wilke, die uns im letzten Jahr auf diesem Blog mit den Kriterien ihrer Arbeit vertraut machte, ließ nun auch die gespannten Gäste in der Glashalle noch einmal ins Innerste des „Jury-Körpers“ blicken, der als einheitliches Ganzes sowieso nicht denkbar ist. Es geht um sieben sehr unterschiedliche Menschen, die in einer Art „Vertrauensraum“ den „Lektüren der Anderen“ begegnen können. Nicht um die vorgeblich „besten“ Bücher gehe es, sondern um solche, von denen die Jurorinnen und Juroren annehmen, dass „sie wichtig in unserer Zeit“ sind. „Wir lesen alle mit unseren Erfahrungen, Vorurteilen oder Hoffnungen“, so Wilke. Das mache es möglich, „sich auf ein Gegenüber einlassen zu können“. Was nicht heißt, Analyse und Erkenntnis hinten unter fallen zu lassen. 

Mit 85 Jahren hat die argentinische Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Übersetzerin Aurora Venturini (1922-2015) einen aufregenden Coming-of-Age-Roman geschrieben, der nun endlich auch international entdeckt wird: Johanna Schering hat „Die Cousinen“ für dtv aus dem argentinischen Spanisch übersetzt – und damit hoch verdient den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung bekommen. „Venturini hat in ihrer Heimat 60 Jahre unpubliziert unter dem Radar der Öffentlichkeit gestanden“, sagte Schering in einer ersten Reaktion. Ihre deutsche Übersetzung sei dazu „vergleichsweise kurze sechs Monate unbeachtet geblieben“. Regina Scheer, die als Autorin und Herausgeberin mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte veröffentlicht und für „Machandel“ (Knaus 2014) den Mara-Cassens-Preis erhalten hat, hatte nicht damit gerechnet, für ihr neues Buch „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution (Penguin Random House) in der Sachbuch-Kategorie zu gewinnen. „Hertha Gordon-Walcher steht für so viele vergessenen Frauen. Sie hat sich nie ins Licht gedrängt. Nun ist sie in einem gewissen Sinn im Licht!“

 

Momente des Glücks: Preisträger Dincer Gücyeter (c) Tom Schulze

Als Dincer Gücyeter für sein Buch „Unser Deutschlandmärchen“ (mikrotext) von der sächsischen Staatsministerin für Kultur, Barbara Klepsch, zum Sieger in der Kategorie Belletristik ausgerufen wird, brandet Jubel in der Glashalle auf. Der sich noch verstärkt, als der Mann aus Nettetal seine Frau auf die Bühne holt, sie fest an sich drückt und davon erzählt, dass sein jetzt prämierter Roman ohne sie niemals fertig geworden wäre – weil Ayse ihn ermutigt habe, zwölf Jahre lang, durchzuhalten, weiterzumachen, an sich zu glauben, die Nudeln würden schon reichen. Große Heiterkeit, als Gücyeter – der Autor, Verleger, Theatermacher, Gabelstaplerfahrer und Hans-Dampf-in-allen-Gassen – davon erzählt, wie er im vergangenen Jahr den Peter- Huchel-Preis für seinen Lyrikband ”Mein Prinz, ich bin das Ghetto” erhalten habe. Er war zu seiner Mutter gelaufen, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Die Antwort der alten Dame: „Zwei Jahre Pandemie, und die Leute haben den Verstand verloren.“

 

Alle zusammen: Preisträger Gücyeter mit den anderen Nominierten in der Kategorie Belletristik (c) Tom Schulze

Als Ayse längst wieder sitzt, ruft Gücyeter die anderen Belletristik-Nominierten zu sich, um seinen Preis zum Preis für alle umzudeuten. Als Erstes springt Clemens J. Setz auf, dann stehen sie da tatsächlich alle nebeneinander, Gücyeter, Setz, Ulrike Draesner, Joshua Groß, Angela Steidele, und halten sich kurz im Arm. Es ist der Signature-Moment der diesjährigen Preisverleihung. Und erinnert ein wenig an Klagenfurt im letzten Sommer, wo die vierzehn Autorinnen und Autoren dort vor der Preisvergabe diskutiert und sogar darüber abgestimmt hatten, ob sie die Preisgelder solidarisch untereinander aufteilen sollen. Die große Mehrheit hatte sich aber dagegen entschieden. „Schade, dass es schon wieder vorbei ist“, sprach Oliver Zille nach 60 Minuten vielen aus dem Herzen. Doch nach der Preisverleihung ist vor der Preisverleihung: In exakt 329 Tagen wird man sich wiedersehen. 

„Es geht immer ums Vollenden“ 

„Es geht immer ums Vollenden“ 

Wenn Schlagzeuger Markus Binder ohne sein angestammtes Instrument zur Eröffnung des Österreich-Stands antritt, an dem am Messe-Donnerstag kein Millimeter freier Platz bleibt, ist die mit Hans-Peter Falkner an der Harmonika gebildete Zweimann-Kapelle Attwenger zwar „weniger oiswiamia“, der allgemeinen Euphorie tut das aber keinen Abbruch. 

Attwenger unplugged: Hans-Peter Falkner und Markus Binder, erstmals ohne sein Schlagzeug (c) Corinna Mehl

Bundespräsident Alexander Van der Bellen wippt lässig zu „Kaklakariada“ – dass er kein Kleinkarierter, sondern im Gegenteil: ein souveräner Leser ist, hat er am Vorabend zur Buchmesse-Eröffnung bewiesen, als bei seiner weitgehend frei gehaltenen Rede ein Hauch von Anarchie durchs Gewandhaus weht. Zur Eröffnung des 400-Quadratmeter-Stands in Halle 4 danken sich die Architektinnen und Baumeister des Gastland-Auftritts noch einmal ausführlich gegenseitig.

Beharrlich, klar und mit guten Nerven ausgestattet: Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (c) Corinna Mehl

Vor allem Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer ist hier zu nennen, die im Mai 2020 umstandslos beschloss, in „vertiefte Gespräche“ mit den Leipzigern zu gehen. Oliver Zille preist Mayer fürs Bohren dicker Bretter, für „Beharrlichkeit, Klarheit und gute Nerven“. Benedikt Föger droht mit dem Gastland-Status in Permanenz, und irgendwie hat der Hauptverbands-Präsident damit ja recht: Österreich hat nicht nur eine aufregende Literaturszene – es ist für Deutschland der wichtigste Auslandsmarkt, und in seiner kompetenten Vermittler-Funktion für die Literaturen Mittel- und Südosteuropas kaum zu überschätzen.

 

Das wird ja immer schöner! Österreich hat eine aufregende Literaturszene, die hierzulande noch entdeckt werden will (c) Helena Guschlbauer

Doron Rabinovici schlägt in seiner Rede zur Stand-Eröffnung nachdenkliche Töne an: „Können Sie eh Deutsch?“ – so wurde er vor Jahrzehnten als Wiener Jude in der oberösterreichischen Provinz begrüßt; als einer, der in Verdacht stand, der Landessprache nicht mächtig zu sein. Rabinovici nutzt die Anekdote und seine eigene Lebensgeschichte, um zu verdeutlichen, wie in der Literatur die Vielfalt und Ambivalenz der Identität aufgefangen ist: „Literatur hat ihr Herkommen. Aber sie will nicht darauf beschränkt sein.“ 

Arno Kleibel, Otto Müller Verlag Salzburg (c) nk

Bachmann-Preisträgerin Ana Marwan, aufgewachsen in Ljubljana, ist 2005, mit 25 Jahren, nach Wien gekommen – da hatten sich Österreich und Slowenien gerade die EU-Präsidentschaft geteilt. In Leipzig ist Marwan Teil gleich zweier Gastland-Projekte, denn auch Slowenien glüht an der Pleiße für den Frankfurter Herbst vor. Ob das für Identitäts-Verwirrung sorge, will die als Kuratorin des Gastlandauftritts omnipräsente Katja Gasser von Marwan wissen. Der ist das Gefühl des Fremdseins nicht unbekannt: „Man fühlt sich oft fremd, wo man ist. Auch wenn es sich um die eigene Heimat handelt.“ Gerade hat Marwan Karl-Markus Gauß als Herausgeberin von „Literatur und Kritik“ abgelöst und der renommierten Zeitschrift gleich einen Relaunch verordnet. Die aktuelle Ausgabe in leuchtendem Orange ist so etwas wie das obligate „Packerl“, das Gastgeschenk für den Leipzig-Auftritt: Ein literarischer Österreich-Reiseführer, von Pinswang bis in die Oststeiermark.

  

Thomas Stangl, Schöpfer des Meaoiswiamia-Claims (c) Helena Guschlbauer

Vor fast 20 Jahren erhielt Thomas Stangl für sein Debüt „Der einzige Ort“ (Droschl 2004) den Aspekte Literaturpreis. Ein Roman, der uns ins sagenhafte Timbuktu führt und zugleich einer, in dem der Österreicher bewies, dass jedes ernsthafte literarische Projekt auch etwas von existentiellem Exotismus hat. Mit seinem aktuellen Roman „Quecksilberlicht“ ist Stangl – dem wir, ganz nebenbei, die Sprachskulptur „meaoiswiamia“ verdanken – zu Matthes und Seitz Berlin gegangen. Dem Grazer Droschl Verlag fühlt er sich nach all den Jahren trotzdem noch so verbunden, dass er gerade auch dort einen kleinen Band publiziert hat („Diverse Wunder. Eine Handvoll sehr kurzer Geschichten“). Mit Thomas Bernhards Zickzack zwischen Suhrkamp und Residenz, den Siegfried Unseld einst fast in den Wahnsinn trieb, hat das nichts zu tun. „Wir Autoren verbinden mit dem Wechsel zu einem deutschen Verlag die Hoffnung, eher im Buchhandel und im Feuilleton sichtbar zu werden. Aber für nicht marktgängige Schreibansätze wird das immer schwerer.“ 

Dylan vom Praterstern: Der Nino aus Wien (c) Yannick Kurzweil

Insgesamt kamen rund 200 Autorinnen und Autoren aus Österreich zu mehr als 110 Veranstaltungen auf dem Messegelände und in der Stadt. Nino Mandl, der sich als Kunstfigur Der Nino aus Wien neu erfunden hat und in seiner Heimat als „Dylan vom Praterstern“ durchgeht, wünscht aus den Lautsprechern der nach Neuwiederitzsch zuckelnden Tram 16 „einen wunderschönen Tag und eine angenehme Fahrt“ – und gibt in der Schaubühne Lindenfels, der Österreich-Stadtzentrale, ein tolles Konzert. In seinem Song „Es geht immer ums Vollenden“ heißt es: „Wie ein Schwamm saugst du das Jetzt auf und verarbeitest es dann, / Wenn das Jetzt lang genug weg ist, um zu wissen was es kann. / Man genießt dann deine Bilder, die fast keiner je versteht, / Nur die Freude sie zu sehen, ist wohl das worum es geht.“

I wead narrisch: Die Ösi-Autoren-Fußball-Nationalmannschaft im Café Grundmann (c) Autorenfußballteam

Bei einer heillos überbuchten Kriminacht im Café Grundmann servieren neun österreichische Autoren Mord an Paprikahendl – weit nach Mitternacht soll auch die feine Salami von Verleger Lojze Wieser gekillt worden sein. Literatur geht durch den Magen, eh klar! Dass die Kicker der österreichischen Autoren-Nationalmannschaft ihren deutschen Kollegen mit 2:12 unterliegen, dürfte den legendären Radio-Reporter Edi Finger („I wead narrisch!“) im Grab rotieren lassen.

 

Wer braucht noch Tocotronic, wenn es Bipolar Feminin in der Schaubühne gibt? (c) Guschlbauer

Das Satire-Duo Stermann und Grissemann setzt in der Schaubühne den Schlusspunkt – mit einer Gala unter dem Titel „Werdet Österreicher!“ Ein von der Schule für Dichtung (Wien) ausgerufener Literaturwettbewerb hatte nach Texten gesucht, die der beliebten österreichischen Tradition des Schimpfens, Grantelns und „Zur-Kenntlichkeit-Entstellens“ mit Piefke-Gründlichkeit eins draufsetzen. Die Gewinner dürfen sich, neben dem Preisgeld in harten Euro, ihre Sieges-Trophäe aus Knetmasse formen.

Das gemeinsame Wir: Überall sind sie, diese Österreicher. Hier Karl-Markus Gauß vorm Leipziger Hauptbahnhof (c) Johanna Baschke

Einen schönen Gastauftritt hat bei dieser Gelegenheit auch die in der Steiermark geborene Suhrkamp-Lektorin Doris Plöschberger. Während sie sich zu Promis wie Clemens J. Setz oder Peter Handke wenig entlocken lässt, blickt sie auf Katja Gassers Frage nach den nächsten Shooting-Stars der österreichischen Literatur schon mal in die Glaskugel: „Österreichische Autoren schießen immer durch die Decke! Deshalb gibt’s ja diesen Gastauftritt.“  

Endlich! Wieder! 

Endlich! Wieder! 

„Herzlich willkommen zum Familientreffen!“ Drei Jahre musste Burkhard Jung warten, bis er diese vier Worte anlässlich der Buchmesse-Eröffnung an der Rampe eines vollbesetzten Gewandhauses sprechen konnte. Nun war es – „endlich!“ – soweit, der Saal applaudierte sich selbst, und Leipzigs Oberbürgermeister wirkte so, als habe er diesem Moment mindestens sieben Jahre entgegengefiebert. Dabei war der ganze Abend davon gezeichnet, dass über grenzenloser Freude Schwere lastet; wie auch nicht: Seit mehr als einem Jahr tobt Putins Angriffskrieg in der Ukraine. Balsam auf die Seele war es dann schon, den Gewandhaus-Kapellmeister der Jahre 1998 – 2005, Herbert Blomstedt, an alter Wirkungsstätte mit Schuberts 6. Sinfonie zu erleben – voller Energie in stolzem Alter. 

 

Herbert Blomstedt, voller Energie an seiner alten Wirkungsstätte (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter

Auch Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, betonte in ihrem Grußwort die Freude des Zusammenseins nach pandemiebedingter Absenz, nach einer jetzt schon unwirklich anmutenden Zeit, in der Oliver Zille und sein Team drei Mal Anlauf nahmen – und „drei Mal auf der Zielgeraden stoppen mussten“. Was hat gefehlt? Der „erste große Höhepunkt im Bücherjahr“, die erste „Aufmerksamkeitsdusche“ für die Frühjahrsnovitäten, das riesige Lesefest, wo die Vermittlung von Buchbegeisterung niederschwellig funktioniert: „Kaum ein Kind kommt hier nicht mit Geschichtenglück in Berührung. Und näht bestenfalls seit Monaten an seinem Cosplay-Kostüm.“ 

Engagierte Buchmesse-Unterstützerin: Kulturstaatsministerin Claudia Roth (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, möchte am liebsten den ganzen Saal umarmen („liebe alle!“), ist sichtlich gerührt vom Moment und darf sich qua Amt auch einmal selbst zitieren:„Ich lasse mir diese Buchmesse nicht wegnehmen – um alles in der Welt nicht!“ Dieser Schlachtruf war der meistzitierte Satz eines „Zukunftsgesprächs“ zur Leipziger Buchmesse vor Jahresfrist – und selbst wenn jemand damals Diebstahls-Absichten gehabt hätte, hätte er sich anschließend gewisslich nicht mehr getraut. 

Launiger Redner: Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter

Was mit „Meaoiswiamia“, dem Gastland-Claim, wirklich gemeint ist, hat sich Alexander Van der Bellen nicht restlos erschlossen. Im Tiroler Kaunertal jedenfalls, wo der Österreichische Bundespräsident seine frühe Kindheit verlebte, hätte man eine Plakatkampagne der FPÖ unter der fremdenfeindlichen Headline „Daham statt Islam“ gar nicht verstanden. Eine beruhigende Nachricht aus der Alpenrepublik, in der man „mindestens anderthalbsprachig aufwächst“ – und die nach langer Anlaufzeit und zur allgemeinen Freude Gastland der Leipziger Buchmesse 2023 ist. Van der Bellen hielt eine listig-launige Rede, oft jenseits des Manuskripts, in der deutsche Großfeuilletonisten ihr Fett wegbekamen und österreichische Verleger ein verbales Ehrenkreuz angeheftet – natürlich für die klaglose Ausfüllung ihrer Scout-Rolle für den deutschen Buchmarkt. Ein super Move des in zweiter Amtszeit gewählten Staatsoberhaupts war es, vier junge Gäste mit ins Gewandhaus zu bringen, die nicht der Entourage aus der Wiener Hofburg entstammen: Es waren vier Buchhandlungslehrlinge, die Van der Bellen offensichtlich bereits den ein oder anderen Buchtipp vermittelt haben.

Preisübergabe: Maria Stepanova und Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter

In der Klappe der Suhrkamp-Ausgabe von Maria Stepanovas „Mädchen ohne Kleider“ von 2022 steht über die Autorin noch: „Sie lebt in Moskau“. Inzwischen lebt die Dichterin, die mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, in Berlin. In ihrer Laudatio auf die Kollegin und Freundin kommt Ilma Rakusa auch auf jenen denkwürdigen Aufsatz zu sprechen, den Maria Stepanova unlängst in der FAZ („Die russische Frage“) veröffentlichte. Aus einer existentiellen Verstörung fragt sich Stepanova, was sie hätte tun können, um den Wahnsinn des Kriegs zu verhindern? „Vielleicht wird das Stigma, das schmerzhafte Zeichen der kollektiven Mittäterschaft eines Tages zu dem Punkt, an dem der Weg von einem blinden ‚Wir’ zu einer Gesellschaft der sehenden ‚Ichs’ beginnt“, schreibt Stepanova. Und: „Bewerkstelligen lässt sich das nur von innen.“ An dieser Stelle ruft ihr Ilma Rakusa zu: „Liebe Mascha, ein sehendes ‚Ich’ bist du schon lange, wie hättest du sonst deine Gedichte schreiben können, die so viel Welt, Verantwortungsbewusstsein und poetische Schönheit enthalten, die Grenzen überwinden, mannigfache Resonanzräume auftun – und voller Vorahnungen sind?“ 

Das Gewandhaus-Orchester sorgt für den festlichen Rahmen (c) Leipziger Messe/Jens Schlüter

In ihrer – bis auf ein von Boris Dubin ins Russische übersetztes Celan-Zitat – auf Englisch vorgetragenen Dankesrede würdigt Stepanova besonders den Umstand, dass „in einem Jahr der Verwüstung, der Angst und des Verlustes“ der Leipziger Buchpreis zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen Gedichtband, für eine poetische Aussage verliehen wurde. Doch was bewirken Gedichte? Stepanova erinnerte an Daniil Charms, der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs forderte, man solle so schreiben, dass, „wenn man ein Gedicht durch ein Fenster wirft, das Glas zerbricht“. Charms starb 1942 im belagerten Leningrad in einer Gefängniszelle den Hungertod. Was tin, wenn die eigene Sprache zum Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei wird? „Sind wir jetzt verdammt, das zwanzigste Jahrhundert immer wieder neu zu erleben“, fragte Stepanova in der aufwühlendsten Passage ihrer Rede, „seine Gefängnisse, Konzentrationslager und Propagandamaschinen, seine Grabenkriege und Flächenbombardements?“ Was tun? Zu wissen, dass man nicht allein ist, könnte helfen. „Die Arbeit des Verstehens wird, wie die Arbeit der Lyrik, nie allein getan.“  

„Wie wollen wir leben?“ 

„Wie wollen wir leben?“ 

Das Futurium, gelegen zwischen Reichstag und Berliner Hauptbahnhof, direkt an der Spree, erkennt man schon aus der Ferne; mit seinen großen Panoramafenstern wirkt es wie ein kantiges Raumschiff. Tatsächlich erstrecken sich im Inneren über 3200 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf drei Ebenen. Vom Dach des Hauses hat man eine tolle Aussicht auf Spreebogen und Kanzleramt. „Haus der Zukünfte“ ist der Claim dieses Forums für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – ein Plural, der Christian Engelbrecht, Referent für Bildung und Partizipation am Futurium, sehr wichtig ist: „Weil da drinsteckt, dass wir nicht das Orakel von Delphi oder irgendein Zukunftsprognose-Institut sind.“ Stattdessen werden am Futurium verschiedene Zukunfts-Szenarien in den Bereichen Energie, Demokratie, Mobilität, Gesundheit, Arbeit vorgestellt. Die Leitfrage lautet stets: „Wie wollen wir leben?“

 

Am Futurium sind heute schon mögliche Trends von morgen zu sehen, nachgedacht wird über wünschbare, aber auch womöglich vermeidbare Zukünfte. Indem man Zukunfts-Optionen entwirft und vermittelt, prägt man die Zukunftsvorstellung der Besucherinnen und Besucher, kann den Lauf der Dinge beeinflussen – so die Überzeugung von Christian Engelbrecht und seinen Kollegen: „Das Nachdenken über Morgen hat Einfluss aufs Heute.“ Initiator des Projektes ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Zu den beteiligten Partnern gehören unter anderen die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft und die Fraunhofer Gesellschaft.

(c) David von Becker

Die Dauerausstellung am Futuruim untergliedert sich in drei große „Denkräume“ – Mensch, Natur und Technik. Die Fragen, die den Besucherinnen und Besuchern nahegebracht werden sollen, reichen von den Möglichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens und -arbeitens über Wege, von der Natur zu lernen bis zu einer Art „Technikfolgenabschätzung“, wie Engelbrecht erklärt: „Was bietet uns die Technik an möglichen Lösungen? Aber nicht im Sinne einer unkritischen Technik-Faszination, sondern so, wie es heute schon tagtäglich in Themenfeldern wie Gesundheitsvorsorge, Prothetik oder Robotik diskutiert wird: „Wieviel Technik wollen wir in unser Leben lassen?“ 

Im Untergeschoss findet man, wie in allen Museen, die heute etwas auf sich halten, das „Futurium Lab“ – ein Labor, ein Werkstattbereich, in dem sich alles um Erfinden, Experimentieren, kurz: Ausprobieren dreht. Beleuchtet werden etwa die Bereiche Bio-Design, die Zukunft der Mobilität oder der Demokratie. Im Lab integriert ist auch ein Workshop-Bereich, in dem Bildungsangebote für Erwachsene, Familien oder Schüler angeboten werden. Die Methoden, die zur Anwendung kommen, stammen aus der Zukunftsforschung oder dem Design-Thinking; mit 3-D-Drucker, Laser-Cutter oder kleinen Programmier-Aktivitäten entwickeln die Schülerinnen und Schüler eigene Zukunftsvisionen. Eigens entwickelte Bildungsmaterialien wie die „Zukunftsbox“ ermöglichen die spielerische Auseinandersetzung mit künftigen Trends. Das, was am Ende erreicht werden soll, nennt sich in UNESCO-Papers „Futures Literacy“ – Christian Engelbrecht übersetzt das mit dem Bandwurmbegriff „Zukunftsgestaltungs-Kompetenz“. Was nichts Anderes meint, als die Fähigkeit, uns alternative Zukünfte vorzustellen: „Indem wir dieses Denken in Alternativen trainieren“, sagt Engelbrecht, „fühlen wir uns nicht mehr ohnmächtig und ausgeliefert – sondern sehen neue Handlungsräume. Wir werden mündiger, etwa im Verhältnis zu Daten.“ 

(c) David von Becker

Das mobile Futurium bringt die Bildungsangebote und Workshops der Berliner in ländliche Regionen, an Schulen und Events überall in Deutschland. Auf der Leipziger Buchmesse, die zugleich eine der wichtigsten Bildungsmessen in Deutschland ist, wird das Futurium im JugendCampus Uverse zu Gast sein – mit einer spielerischen Auseinandersetzung mit möglichen Zukunftstrends in den Bereichen Stadt und Stadtplanung. Dabei wird es von begrünten Hochhäusern bis zur Frage gehen, wie Mobilität und Verkehr von übermorgen aussehen.   

Zehnjähriger von Smartphone verschluckt“

Zehnjähriger von Smartphone verschluckt“

Die Geschichte von FLIPPO, der Kinderzeitung der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) beginnt 2017 an zwei Grundschulen in Schönefeld, einem Stadtteil im Leipziger Osten. Die Idee: Eine Zeitung von Kindern für Kinder, die Erwachsenen geben nichts vor, sondern helfen lediglich bei der Umsetzung. Das fängt schon beim Namen an: In einer Umfrage setzt sich „FLIPPO“ schließlich gegen „Das Marienkäferblatt“ und „Bananenkopf“ durch. 

Im letzten Jahr wurde mit der Jubiläumsausgabe „Happy Birthday“ der fünfte Geburtstag des Projekts gefeiert: Darin finden sich etwa lustige Wahlplakate („Für Rockmusik auf öffentlichen WCs“), ein Comic über die böse Lehrerin Frau Cibulka oder die hübsche Rubrik „Kinder fragen ahnungslose Erwachsene“, in der man lernen kann, was ein „Glubschi“ oder ein „Frumpel“ ist. Neben freien Heften zu „Marsianern“, „Morgens länger schlafen“ oder „Corona“ gab es auch schon zwei Mal Themenhefte zu GfZK-Ausstellungen, etwa über Städte der Zukunft. 

Für Wiebke Steinert, die als freie Mitarbeiterin in der Kunstvermittlung der GfZK arbeitet und sich mit weiteren Kolleginnen um das Projekt kümmert, ist die Arbeit an jeder neuen Ausgabe ein Experiment mit offenem Ausgang: „Es gibt eine Kinderredaktion, die nach demokratischen Spielregeln aushandelt, was Titel-Thema sein soll.“ Dabei kann man im Dauertakt Überraschungen erleben; geht nicht gibt’s nicht. Wer als schön rational denkender Erwachsener etwa glaubt, beim Thema „Sitzenbleiben“ laufe, na klar, alles auf Schulprobleme hinaus, landet Minuten später bei „Fußball“. Und bekommt auf sein Kopfschütteln und Schulterzucken mit entwaffnender Offenheit entgegengeschleudert, dass man beim Fußballgucken ja „vor dem Fernseher sitzt“. Zack, neues Thema! 

Das Projekt FLIPPO fährt zweigleisig: Zum einen bietet die GfZK Ferienworkshops im Haus an, die dank diverser Förderungen kostenfrei sind. Zum anderen, und das ist mindestens ebenso wichtig, gibt es Kooperationen vor Ort, in den Stadtteilen, etwa mit der Clara-Wieck-Schule in Schönefeld, der Schule am Addis-Abeba-Platz oder dem Leipziger Riso Club, einer offenen Druckwerkstatt, die sich der Risographie verschrieben hat. „Die Kinder arbeiten zumeist analog“, erklärt Wiebke Steinert. „Mir ist es wichtig, dass sie erst mal das Handwerk verstehen. Am Ende digitalisiere ich dann die Arbeiten. Oder es entstehen Poster im Risodruck.“

  

Posterausstellung nach einem Workshop im Riso Club (c)GfZK

Im Rahmen des JugendCampus UVERSE wird FLIPPO nun zum ersten Mal auf der Leipziger Buchmesse zu Gast sein. Geplant ist am Messe-Samstag ein Plakat-Workshop zu Fake-News – ein Thema, das bei Kindern auf offene Ohren stößt und schon jetzt fester Bestandteil jeder FLIPPO-Ausgabe ist. Auf spielerische Weise lernen Kinder, wie solche Fakes funktionieren – und haben bei der Entwicklung von Headlines wie „Zehnjähriger von Smartphone verschluckt“ oder „Nutella – Die Geheimmedizin gegen alle Krankheiten!“ noch ziemlich viel diebischen Spaß. „Natürlich bekommen Kinder in Familie und Schule eine Menge Medienrummel um bestimmte Phänomene mit“, weiß Wiebke Steinert. „Wir klären da mit unserem didaktischen Wissen auf – und es entstehen Poster, die dann über das Monotypie-Verfahren direkt auf der Messe gedruckt werden können.“ Im Workshop sind ganz unterschiedliche Aufgaben möglich, so auch die Herstellung von Collagen: Witzig zum Beispiel, Überschriften aus Zeitungen auszuschneiden und mit neuen Bildern zu versehen – oder andersherum. Da die junge Zielgruppe auf der Buchmesse altersmäßig sehr heterogen sein wird (angegeben ist eine Altersgruppe zwischen 10 und 22 Jahren), dürften Steinert und ihre Kolleginnen ordentlich herausgefordert sein. Dennoch freut sich die Kunstvermittlerin aus der GfZK schon sehr auf den Messesamstag: „Hoffentlich entstehen viele tolle Poster – die dann den Weg in die nächste FLIPPO-Ausgabe finden.“ Vorgestellt wird die dann so, wie es sich gehört: Auf einer echten Kinderpressekonferenz.

 

(c) GfZ