Vom Text zum Bild

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Auf dem Papier wurde der Luftschacht Verlag schon 2001 gegründet… 

Jürgen Lagger: Ich habe eigentlich Architektur studiert und von 1987 an als freier Mitarbeiter in Architekturbüros gearbeitet. Im Zuge des eigenen literarischen Schreibens habe ich Stefan Buchberger und Gabriel Vollmann kennengelernt, die damals Lesungen veranstaltet und den Verlag gegründet haben. Wir freundeten uns an – und beschlossen, den damals nur als „Karteileiche“ bestehenden Verlag endlich zu beleben.

Das war 2003, nachts, in Ihrer Küche. Erinnern Sie die ‚Urszene’ noch?

Lagger: Nicht wirklich, wir hatten schon ein paar Bier. Aber das erste Buch war ein schmales Paperback im Digitaldruck, Auflage 300 Exemplare. Wir haben das auf Lesungen selbst vertickt, es gab keinerlei Vertriebsstruktur. Ich musste sehr viel lernen. Anfangs habe ich parallel weiter als Architekt gearbeitet; irgendwann habe ich den Sprung gewagt und meine Erwerbstätigkeit ganz auf den Verlag hingelenkt. 

Was war die wichtigste Entscheidung in 20 Jahren Luftschacht? Die Geschichte eines Verlags ist ja keine Aneinanderreihung von Zufällen, oder?

Lagger: Der vielleicht folgenreichste Entschluss fiel um 2008 – da haben wir uns entschlossen, neben Belletristik auch Graphic Novels und Comics zu machen. Etwas, wofür es in Österreich noch keinen Verlag gab. Wir wurden von Sebastian Broskwa angesprochen, der mit seinem Vertrieb Pictopia nebst angeschlossener Buchhandlung als die Comic-Instanz der Republik gilt. Seastian hat die Kontakte hergestellt – aus diesem Pool haben wir am Anfang unsere Zeichner bezogen. Man braucht noch nicht mal zu gendern, weil es wirklich ausschließlich Männer waren. Inzwischen sind mit Regina Hofer oder Michaela Konrad auch tolle Zeichnerinnen dazugekommen. 

Der Comic hat Luftschacht dann seine dritte Programm-Säule beschert?

Lagger: Genau, das aufwändig gestaltete Bilderbuch. Inzwischen sind wir für viele Zeichnerinnen und Zeichner so etwas wie ein sicherer Hafen jenseits des schnelldrehenden Lesefutters geworden. Und ich finde es auch für mich schön, dass ich so unterschiedliche Kunstformen im Verlag habe – die jeweils eine ganz spezifische Beschäftigung erfordern. 

Welche Erfahrungen machen Sie mit dem Buchhandel?

Lagger: Wir haben uns sowohl bei Leser:innen wie auch bei Buchhändler:innen ein Stammpublikum erarbeitet, das auf die leicht abseitigen Dinge steht, die wir machen. Andere sehen Probleme, das zu vermitteln, was ich ein bisschen schade finde. Auch wenn unser Programm nicht dem Mainstream hinterherläuft, ist es doch nichts, was einen abschrecken müsste – im Gegenteil! Natürlich sind die Erwartungen immer höher, als es der Markt dann einlöst. Aber man kriegt die Leute schon! 

Können Sie uns ein Lieblingsbuch nennen, das Ihnen über die Zeit besonders ans Herz gewachsen ist? 

Lagger: Ich habe all meine Kinder lieb! (lacht) Worauf ich stolz bin, sind die Bücher von Dennis Cooper, die wir im Programm haben. 

Und der heuer passender Weise 70 wird. Sie bringen „Ich wünschte“ von Dennis Cooper als Spitzentitel…   

Lagger: In den 1990er Jahren gab es Übersetzungen von ihm im Wiener Passagen Verlag. Die habe ich zufällig in einer Grabbelkiste entdeckt – und war völlig hingerissen. Als ich später noch mehr von ihm lesen wollte, merkte ich: Es gibt keine Übersetzungen mehr! Ich habe angefangen zu recherchieren, mit diversen Agenturen gesprochen – irgendwann hat’s dann geklappt. Im April kommt mit „Ich wünschte“ das vierte Buch, das wir von ihm bringen. Das freut mich sehr – nicht zuletzt, weil Cooper für meine eigene Lesebiografie enorm wichtig war. 

Sie haben dafür ein Nachwort von Clemens J. Setz ergattert?

Lagger: Der Clemens ist ein absoluter Cooper-Fanboy! Noch ärger als ich! Der kennt wirklich alles. Und liest dazu alles, was Cooper empfiehlt. 

Haben Sie Visionen für die nächsten 20 Luftschacht-Jahre?

Lagger: Vom Lebensalter her gerechnet könnte es knapp werden (lacht), aber: Nein, eigentlich nicht. Im Kern möchte ich weitermachen wie bisher. Wen sich der Verlag auf diesem Level weiterentwickelt, bin ich sehr zufrieden. Nur manchmal denke ich: Vielleicht hätte ich zehn Jahre früher anfangen sollen?  

Luftschacht auf der Leipziger Buchmesse: Halle 4, Stand E 109 

Books & Beers: Neue Bücher und das aktuelle Programm stellen die beiden unabhängigen Verlage Luftschacht aus Wien und Parasitenpresse aus Köln zum ersten Mal gemeinsam vor. Es lesen Jelena Jeremejewa (Berlin), Adrian Kasnitz (Köln), Greta Lauer (Wien), Thomas Podhostnik (Leipzig), Uroš Prah (Wien) und Alexander Rudolfi (Hannover). Durch den Abend führen die Verleger Adrian Kasnitz und Jürgen Lagger. 28. April, 20 Uhr, Schaubühne Lindenfels Westflügel, Eintritt frei. 

„Gespräche, die auch mal wehtun“

„Gespräche, die auch mal wehtun“

Şeyda Kurt, in Ihrem im März erscheinenden Buch „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ führen Sie an Orte des Hasses wie Hanau oder Istanbul, Sie führen in die queere Community, Sie führen aber auch an den Küchentisch Ihrer Mutter. Die Frage, die Sie umtreibt: Wer darf hassen? Was macht diese Frage so zentral? 

Şeyda Kurt: Das „Wer“ ist eine zentrale Frage für mich, weil es sehr viel über Herrschaftsverhältnisse, über Ohnmacht und Handlungsfähigkeit erzählt. Es gibt ja Begriffe und Themen, die auch in liberalen Gesellschaften sehr moralisch aufgeladen sind: Wenn etwa Politiker*innen nach rassistischen Anschlägen wie in Hanau sagen: „Hass hat bei uns keinen Platz!“ Wir wissen, dass das nicht stimmt. Außerdem sollte man innehalten und fragen: Um wessen Hass geht es eigentlich? Wir sehen oft die Tendenz, dass Opfer von Faschismus, Rassismus oder Misogynie abgesprochen wird, dass sie selbst auch hassende Subjekte sein können – einfach, weil sie Zielscheibe von Hass sind. Stattdessen müssen sie immer wieder beweisen, dass sie selbst nicht hassend sind. Um sich als Opfer eine Legitimation zu verschaffen, dem eigenen Leid, dem durchgemachten Trauma Gültigkeit zu verschaffen. Das passiert den „Samstagsmüttern“ in Istanbul, die wegen ihrer durch den Staat verschleppten Söhne und Männer demonstrieren, aber auch den Angehörigen der Opfer des Terroranschlags von Hanau. 

Gibt es eine dunklen, einen hellen Hass? 

Kurt: Mir geht es darum, den Hass aus der Versenkung herauszuholen, mir geht es um die Sichtbarmachung seines widerständigen Potentials. Letztendlich interessiert mich tatsächlich auch ein Hass, der Zärtlichkeit hervorbringen kann. So paradox das auch klingt. 

Aber ist Hass nicht allgegenwärtig?

Kurt: Ja, wir haben in den letzten Jahren sehr viel über Hass gesprochen, von Pegida bis zur Reichsbürgerszene. Mich haben vor allem die Gefühle der Menschen interessiert, die zur Zielscheibe wurden, Menschen, über die nicht so oft gesprochen wird. Egal ob ihr Hass berechtigt ist – es gibt ihn. Ihre Geschichte möchte ich nachzeichnen. Wenn Menschen Gewalt geschieht, können sie oft nicht einfach abschließen. Sie sind traumatisiert, sitzen oft in einer Vergangenheit fest, die sich ständig wiederholt. Zu einer Aushandlung über die Konsequenzen auf Augenhöhe kommt es fast nie…

Es geht aber nicht um ein biblisches „Auge um Auge, Zahn um Zahn“? 

Kurt: Der angeblich rachsüchtige Gott des Ersten Testaments… viele Theolog*innen legen das anders aus: Es soll nicht eine Gewalttat mit einer anderen vergolten werden. Aber den von Gewalt Betroffenen steht eine Aushandlung auf Augenhöhe zu, was jetzt auf die Gewalt folgen soll. Das hat nichts mit „vergeben und vergessen“ zu tun. Vergebung muss erst verdient werden. 

Hier höre ich Ihre Erfahrung aus der Arbeit mit dem Hanau-Komplex mit heraus…

Kurt: Es ist das, was die Angehörigen nicht müde werden zu sagen: Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben. Eine Gerechtigkeit, die die Perspektive der Betroffenen – und sei es mit ihrem Hass! – mit einbezieht. 

Hass lässt sich nicht wegdiskutieren…

Kurt: Das ist die politische Ebene, die sich mit der biografischen verbindet. Im Buch schreibe ich auch sehr viel entlang meiner Biografie – etwa die Art und Weise, wie ich erzogen worden bin, wo Bestrafung eine große Rolle gespielt hat. Auch darauf habe ich als Kind mit einer gewissen Form von Hass reagiert. 

Sie gelten als sehr meinungsfreudige Publizistin – wie schätzen Sie den Stand der Debattenkultur im Deutschland des Jahres 2023 ein? 

Kurt: Allein der Umstand, dass ich nach Leipzig eingeladen wurde, zeigt, dass aus meiner perspektive viele Sachen ganz gut laufen. Dass es eine gewisse Öffnung, eine Pluralität der Stimmen gibt. Auf der anderen Seite wird in den Medien noch immer sehr stark in Binaritäten gedacht, etwa in den Reaktionen auf Putins Angriffskrieg. Emanzipatorische, feministische und zugleich konsequent anti-militaristische Perspektiven, die für Rechte nicht anschlussfähig sind, kommen nicht vor. Die Pandemie hat vieles noch verschärft: Sie hat viele Menschen isoliert, vereinzelt. Viele haben – jenseits ihrer Internet-Bubbles – oft einfach verlernt zu debattieren. Es ist etwas anderes, einem konkreten Menschen in die Augen zu schauen, als sich auf einer Internet-Plattform anzuschreien. 

Auf Twitter geht es ordentlich zur Sache…

Kurt: Deswegen bin ich dort nicht mehr so gern unterwegs (lacht). Natürlich habe ich mir über Twitter eine gewisse Reichweite aufgebaut. Aber eigentlich bin ich diese verkürzenden Ping-Pong-Debatten leid. 

Gibt es Alternativen? Den Mikroblogging-Dienst Mastodon? 

Kurt: Ich finde, Instagram funktioniert schon ein bisschen anders als Twitter. Man kann – ich mache das ganz gern – auch längere Texte schreiben. Obwohl das vom Algorithmus noch nicht belohnt wird… Ich konzentriere mich inzwischen wieder sehr stark auf persönliche Gespräche, in meinem Kiez zum Beispiel. Mit Menschen, mit denen ich mich vor Ort organisiere. Ich merke, dass mich das sehr erdet. 

Welche Rolle können Räume wie Leipziger Buchmesse und dort das Forum offene Gesellschaft spielen? 

Kurt: Die große Chance bei Debatten, die sich um Literatur herum entspinnen, ist, dass sie die Geschwindigkeit von uns allen etwas herunterbremst, uns zu uns selbst kommen lässt. 

Das Forum offene Gesellschaft ist ja eher als gesellschaftspolitischer Resonanzraum gebaut… 

Kurt: Alexander Kluge hat mal sinngemäß in einem Radiointerview gesagt, dass es darum gehen müsse, die Debatte aus der Horizontalen herauszuholen – und in die Vertikale zu bringen. Also nicht sich nur an der Oberfläche bewegen und in denselben Floskeln und Reaktionen verharren. Sondern bei einer Sache bleiben und die so gründlich erforschen, wie man irgend kann. In Gespräche zu gehen, die auch mal wehtun. Ich bin gespannt, was im April passiert! 

Sehen Sie die Gefahr, immer in der eigenen Bubble zu bleiben? Lässt sich das irgendwie aufbrechen? 

Kurt: Letztlich bringt das grundsätzliche Fragen nach sozialer Gerechtigkeit ein Innehalten mit sich: Wer kann sich denn eigentlich Bücher leisten? Wer nimmt sich tatsächlich Zeit, auf Messen zu gehen, und die Gespräche zu verfolgen? Vielleicht sogar mitzudiskutieren, in so einem Forum. 

Können Bücher die Welt verändern? 

Kurt: Für mich verändern Menschen die Welt. Aber Bücher können Menschen dabei motivieren, sie mobilisieren und ihnen Kraft geben. 

Zur Person: 

Şeyda Kurt, geboren 1992 in Köln, studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Als freie Journalistin und Kolumnistin schreibt sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien, darunter Zeit Online. Als Redakteurin arbeitete sie an dem Spotify-Originalpodcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, der 2021 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr zählte das Medium Magazin das Redaktionsteam zu den Journalistinnen des Jahres. In ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist“ (2021) untersuchte sie Liebe im Kraftfeld von Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus. Mitte März erscheint ihr neues Buch „Hass – Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ bei HarperCollins. 

Şeyda Kurt im Programm von „Leipzig liest“

„Das Signal unter den Geräuschen“

„Das Signal unter den Geräuschen“

Das Wort Transparenz könnte für Bahoe Books erfunden worden sein. Die Verlagsräume befinden sich in einem ebenerdigen Gassenlokal mit großen Schaufenstern im 1. Wiener Gemeindebezirk Wir können Rudi Gradnitzer und Leo Gürtler, den aus Kärnten und Niederösterreich zugezogenen Verlegern, quasi bei der Arbeit zuschauen. Der Laden beherbergte früher eine Lederwarenhandlung, mittlerweile ist er das Headquarter von Bahoe Books. Auf der anderen Straßenseite, im Bahoe Art House, präsentieren Gradnitzer und Gürtler regelmäßig Ausstellungen – gleich zur Eröffnung mit Arbeiten von Josef Schützenhöfer, dem derzeit wohl politischsten bildenden Künstler Österreichs, ging es nicht eben lieb und sanft zu. 

Die Bahoe-Verleger vor ihrem Laden-Büro in einem ehemaligen Lederwarengeschäft in der Wiener Fischerstiege (c)nk

Kein Wunder: Einen Bahö machen steht im Österreichischen für Aufruhr, Tumult, Lärm – Gürtler und Gradnitzer wollen mit ihrem Verlag „das Signal unter den Geräuschen“ sein. Bahoe ist ein gesellschaftskritischer Verlag, der sich auf Graphic Novels und politisches Sachbuch fokussiert, im Sortiment sind aber auch Belletristik, Kinderliteratur und Kunstbücher. Entstanden ist Bahoe Books Mitte der Nullerjahre aus dem Spektrum der undogmatischen Linken, als in Folge der Bankenkrise Globalisierungsgegner weltweit im Aufwind waren. 

Bevor wir den Verlag gegründet haben“, sagt Gradnitzer, „haben wir mit Samisdat-Literatur, grauer Literatur ohne ISBN-Nummern sehr frei experimentiert“. So stammt das erste Bahoe-Buch eigentlich aus dem Jahr 1936: Teoria dell’insurrezione“ („Theorie des Aufstands“) von Emilio Lussu ist ein Klassiker des italienischen Widerstands, der seit den 1970er Jahren vergriffen war. Gradnitzer und Gürtler haben das Buch als Reprint wieder zugänglich gemacht.

Buchcültüre: Mit der Leipziger Buchmesse 2016 begann die offizielle Verlagsgeschichte (c)nk

Nachdem Bahoe seine Bücher lange gegen freie Spenden auf Demos aus dem Koffer vertrieben hat, ist der Verlag seit 2016 ganz offiziell am Markt, mit Auslieferung, Barsortimentsanschluss und Vertretern. Im Comic-Segment ist Bahoe heute sogar der größte Player der Alpenrepublik. Seit geraumer Zeit sind sie auch Mitglied im Hauptverband des Österreichischen Buchhandels, und als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Privatverlage kommen sie in den Genuss staatlicher Verlagsförderung. Ein Professionalisierungs-Schub, der den jungen Wienern aus dem eigenen Umfeld schon mal als „Kommerzialisierung“ um die Ohren geschlagen wird. „Ein Prozess der Veränderung; mitunter schmerzhaft, aber immer spannend“, erklärt Gürtler.   

Primo Levis Biographie als berührende Graphic Novel (c)bahoe books

Besonders ins Auge fallen bei Bahoe Sachcomics mit historischen Hintergrund: Eine berührende Biografie des italienischen Juden, Widerstandskämpfers und Holocaust-Überlebenden Primo Levi etwa, oder „Leben und Sterben in Auschwitz“ aus der Feder des Zeichners Dietmar Reinhard. Viele der Bücher sind Übersetzungen. Mit Hilfe eines Beirats, der sich aus Universitäts-Angehörigen rund um den Erdball, aus Aktivisten und Aktivistinnen, Freunden und Bekannten zusammensetzt, versucht man Perlen zu finden, die den großen Mainstream-Comicverlagen entgehen.  

Ob man sich an der dauerkriselnden ÖVP abarbeitet, den Autokolumnisten des Magazins „profil“ übers Leben mit vier Rädern schreiben lässt oder dem österreichischen Dream-Team Monika Helfer und Michael Köhlmeier ein Kinderbuch abluchst – wer Harmonie sucht, ist bei Bahoe an der falschen Adresse. Sich fügen hieße lügen. Die Bahoe-Verleger halten es mit der alten Weisheit „Erst denken, dann handeln!“ Die Wiener, die es notorisch lieben, sich zu beschweren, kehren diese Reihenfolge manchmal um – und klopfen erregt an die Schaufensterscheibe in der Fischerstiege. Glücklicherweise haben die Bahoe-Verleger die wunderbare Gabe, negatives Feedback in positive Energien umwandeln zu können. 

Veranstaltungstipps zur Buchmesse:

Giulio Camagni: Der Kaiser Maximilian I. Eine Graphic Novel. Stand Gastland Österreich, Halle 4, D 201/E 200, 29. April, 16.30 Uhr 

Oliver Schreiber: Die Krise der Volkspartei. Konservative Wende oder konservatives Ende. Leseinsel Junge Verlage, Halle 5, C 200, 27. April, 14.30 Uhr 

www.bahoebooks.net

„Mehrwert für alle“

„Mehrwert für alle“

Der Buchhandel ist der wichtigste Partner der Leipziger Buchmesse, die deutschsprachige Literatur einer ihrer Schwerpunkte. Unter dem Motto „Your Place to read“ lesen ab März Autorinnen und Autoren in 12 Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Messe zahlt Honorare und Reisekosten aus Fördergeldern der Kulturstaatsministerin. Los geht’s am 9. März bei Lessing und Kompanie in Chemnitz: Jutta Hoffritz (Verlagsgruppe HarperCollins) und Christian Bommarius (dtv) sprechen mit Moderatorin Melanie Longerich (Deutschlandfunk) über das deutsche Schicksalsjahr 1923 und ihre Bücher zum Thema.  

Für Buchhändler Klaus Kowalke ist der Start auf dem Chemnitzer Kaßberg eine super Reverenz an die Kulturhauptstadt in spe. Der Kaßberg, eines der größten Gründerzeitviertel Deutschlands, ist eher kein Hipster-Biotop. Dennoch ist miteinander leben hier mehr, als Amazon- und Zalando-Päckchen für den abwesenden Nachbarn anzunehmen. Hier eröffneten Kowalke und seine Partnerin Susanne Meysick im März 2008 ihre Buchhandlung „Lessing und Kompanie“ – ein wunderbarer Link von der Chemnitzer Theodor-Lessing-Straße zu Sylvia Beachs Traumbuchhandlung Shakespeare & Co. in Paris. 

Wir nehmen den Start der Buchhandelstour zum Anlass, um mit Klaus Kowalke über Buchhandlungen als Lese-Orte und Magneten für Literatur- und Kultur-Interessierte zu sprechen. Aber auch über die Leidenschaft, mit der Buchhändlerinnen und Buchhändler landauf, landab immer wieder neue, spannende Begegnungen zwischen Autoren und Leser-Gemeinde organisieren.  

Normalerweise ist Lesen ein einsames Geschäft – bei Lesungen begegnet man anderen Buch-Fans und Autoren (c)nk

Hand aufs Herz, Klaus: Sind Lesungen für Dich die Königsdisziplin, wo Du als Buchhändler Deinen kuratorischen Ehrgeiz ausleben kannst? Oder der Ausgangspunkt von viel Arbeit und häufigem Heimkommen weit nach Mitternacht? 

Klaus Kowalke: Lesungen und andere Veranstaltungsformate machen riesigen Spaß – aber auch jede Menge Arbeit. Wir bekommen sehr viele Anfragen von Verlagen, auch von Autorinnen und Autoren direkt. Oft müssen wir ‚Nein’ sagen, wir könnten sonst an allen 365 Tagen des Jahres mehrere Lesungen anbieten. Bedenkt man, dass das alles seriös finanziert werden soll – wer bei uns auftritt, soll ein faires Honorar erhalten, dazu kommen Reise- und Übernachtungskosten – müssen wir sorgfältig auswählen.

Qual der Wahl: Klaus Kowalkes privater Lesetisch (c) LuK

Wie viele Veranstaltungen macht ihr pro Jahr?

Kowalke: Bis zur Corona-Pandemie haben wir in der Regel jeden zweiten Donnerstag im Monat eine Lesung angeboten, ab 2020 haben wir dann auch mit kleineren Open-Air-Formaten experimentiert, die tagsüber vor der Buchhandlung liefen, quasi mitten im laufenden Straßenleben. 

In Corona-Zeiten habt ihr begonnen, auch andere Genres zu bespielen, zuallererst die Musik? 

Kowalke: Wir haben im Lockdown mit befreundeten Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie gesprochen, die auch nicht auftreten konnten. So wurde der „FreitagsLuK“ geboren; von Mai bis September, den ganzen Sommer über, gab es die letzten beiden Jahre immer freitags 19.30 Uhr Konzerte mit wechselnden Beteiligten vor dem Laden. Wir haben das mit kleinem Geld, aus eigener Tasche finanziert. 2022 gab es dann sogar eine Mikroprojekt-Förderung der Stadt.   

Im Sommer gibts jeden Freitag auf die Ohren: Die Kaßberg-Philharmoniker vor der Buchhandlung (c) LuK

Wie plant ihr eure Lesungen? Nach welchen Kriterien wählt ihr aus?

Kowalke: Wir arbeiten die Vorschauen mit den Novitäten durch, überlegen dabei, welche Autorinnen und Autoren zu uns passen könnten. Belletristik nimmt den Löwenanteil ein, auf zehn Lesungen kommt vielleicht ein Sachbuch. Aber wir versuchen, einen guten Mix herzustellen, bei uns ist auch für Fantasy oder Kinderbücher Platz. Wir nehmen auch Anregungen von unseren Kundinnen und Kunden auf. Am Ende gilt immer: Wenn wir schon Leute einladen, muss es auch uns selbst Spaß machen.  

Ob Newcomer oder prominente Autorinnen wie hier Marion Brasch: alle zwei Wochen wird auf dem Kaßberg gelesen (c) LuK

Gegenwärtig hört man häufiger von zögerlich besuchten Kinos und Theatern – wie ist das mit euren Lesungen? 

Kowalke: Es ist schwieriger geworden. Das Eintrittsgeld ist kein wirklicher Bestandteil der Finanzierung, eher der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Dabei bemühen wir uns schon um eher günstige Preise. Eine klassische Lesung kann man bei uns in der Regel für zehn Euro erleben. Aber die Infrastruktur kostet ja auch, von Strom, Wasser und Heizung bis zu den Überstunden des Personals! 

Lesende Tätigkeit: Co-Chefin Susanne Meysick bei der Arbeit (c) LuK

Nicht alle Veranstaltungen finden bei euch im Laden statt?

Kowalke: In den letzten Jahren sind wir mit größeren Lesungen regelmäßig ins „Metropol“ gegangen, ein imposantes Kino, das 1912/13 am Fuß des Kassbergs, in der Zwickauer Straße, errichtet wurde. Wenn’s voll ist, sind alle glücklich, aber du kannst auch Pech haben: Vor einer Lesung von Nino Haratischwili, die sehr stark nachgefragt war, gab es Eisregen, so dass am Abend ‚nur’ 80 Leute kamen. Hin und wieder sind wir auch im Club „Atomino“ oder im „Weltecho“ gewesen; das Gros der Veranstaltungen findet aber hier im Laden statt. 

2014 fiel der Startschuss für euer ungewöhnliches Projekt „EinhundertMeter Weihnachtsmarkt“, bald darauf kam „EinhundertMeter Sommer“ dazu. Was ist da passiert? 

Kowalke: Das hat mit dem besonderen Charakter des Kassberg zu tun, wir sind eine gute Nachbarschaft. Der Weihnachtsmarkt sollte Anwohner und Händler zusammenbringen. Uns schwebte ein Straßenmarkt der etwas anderen Art vor, einer, der eben nicht auf der Straße stattfindet – und damit das Ordnungsamt auf den Plan rufen würde. Mit rund 30 befreundeten Geschäften, Initiativen, Künstlern und Musikern aus der ganzen Stadt wurden die privaten Vorgärten und Freiflächen vor den Häusern der oberen Franz-Mehring-Straße in eine turbulente Meile verwandelt, dazu gab es an zwei Tagen nicht nur Glühwein und Kuchen, sondern auch ein opulentes Kulturprogramm – vom Bläserensemble der Chemnitzer Mozart-Gesellschaft bis zum Geigenkonzert und mehreren Chören. Wir holten keine gewerbliche Gastronomie dazu, der Reiz des Ganzen besteht im ‚handgemachten’ Charakter. Zur Premiere kamen rund 3000 Chemnitzer, im Jahr darauf waren es an die 5000, inzwischen reisen Leute aus dem Umland an. Bei der Sommermeile gibt es immer ein Motto, und eine Jury aus Chemnitzer Promis, die wir Buchhändler zusammentrommeln, entscheidet, wer die beste Idee hat. Als Preis winkt ein opulenter Warenkorb, der von allen beteiligten Händlern bestückt wird. 

Folk & Electronica: Foreghost spielen auch zum Buchhandlung-Jubiläum (c) LuK

Was zeichnet für Dich eine ideale Lesung aus? 

Kowalke: Sowohl die geladenen Autorinnen und Autoren wie auch das Publikum sollen sich wohl fühlen. Idealer Weise ist es ein Abend mit Mehrwert für alle – in ganz seltenen Fällen wird daraus ein unvergessliches Erlebnis. So war es bei uns 2019, als wir am Vorabend der PEN-Jahrestagung in Chemnitz zu einer klitzekleinen Lesung mit Leuten aus dem damaligen Vorstand eingeladen hatten. Am Ende war die Bude proppenvoll, die Leute saßen sich auf dem Schoß, wildfremde Menschen haben Freundschaft geschlossen. Es war ein Traum! 

Eure Buchhandlung feiert im März ihren 15. Geburtstag – am Ende auch mit einer Lesung? 

Kowalke: Der 29. März liegt mitten in der Woche, aber wir wollen genau am Gründungstag feiern. Es wird eine Kinderbuch-Lesung mit Rusalka Reh geben, das Kraftwerk-Ensemble der Robert-Schumann-Philharmonie wird ein einstündiges Umsonst & Draußen-Konzert geben, und abends spielen unsere Freunde von Foreghost einen Mix aus Folk und Electronica. Es kann nur großartig werden. 

Betreiben seit 15 Jahren Lessing und Kompanie in Chemnitz: Susanne Meysick und Klaus Kowalke (c) LuK

„Wer alles liest, hat nichts begriffen“

„Wer alles liest, hat nichts begriffen“

Nicolas Mahler polarisiert: Für die einen ist der 1969 in Wien geborene Zeichner ein Spaßvogel, für andere ein verkappter Tragiker. Und was, bitte, ist von einem zu halten, der dickleibige Weltliteratur-Wälzer zu handlichen Bildgeschichten eindampft? Gemessen an der Zahl der Preise, die er eingeheimst hat, ziemlich viel: Mahler, der gern selbst mit dicker Brille und Gurkennase durch seine Strips geistert, ist einer der profiliertesten und produktivsten Comic-Künstler im deutschsprachigen Raum. 

Mahlers neuester Streich erscheint pünktlich zur Buchmesse (c) Reprodukt

Früher wurde Nicolas Mahler häufig gefragt, ob das, was er macht, Kunst sei? Mitfühlende Geister schlossen dann meist ein „Können Sie davon leben?“ an. Doch inzwischen hat sich der Wind gedreht: Der Mahler-Stil, einst als Krakelei abgetan, gilt als unverwechselbar in der grafischen Reduktion. Seine Figuren haben weder Ohren noch Münder, aber zweifellos Charakter. Neben den fast 50 Buchveröffentlichungen, die seit den späten 90er Jahren entstanden sind, experimentiert der Zeichner auch mit anderen Medien – offenbar ein Tausendsassa. 

Bernhard und kein Ende… (c) Suhrkamp

Einem größeren Publikum wurde Mahler durch Comic-Adaption von Thomas Bernhard oder Robert Musil im Suhrkamp Verlag bekannt. So destillierte er aus Musils 1700-Seiten-Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ einen 150-Seiten-Strip. Ein Sakrileg für Germanisten. Auch die Bearbeitung von Bernhards Theaterstück „Der Weltverbesserer“ ist längst Kult: Ein Mann in seinem hohen Sessel, eine Frau – das war’s auch schon. Doch Mahler bebildert nicht einfach, sondern interpretiert mit seiner Darstellung neu.

(c) Suhrkamp

Literarische Comic-Erzählungen mit Suhrkamp-Gütesiegel – ist das noch zu toppen? Dem schlitzohrigen Wiener gelang es: Mit seinem schlicht „Gedichte“ betitelten Band schaffte er es in die Insel-Bücherei. Die bibliophile Buchreihe gilt als Hort der Hochkultur. Mahler weiß, dass die Aufnahme hier eigentlich Klassiker-Status verbürgt – und spielt damit. „Also, ich bin ja ganz gern blöd. Und a Blödsinn funktioniert natürlich am besten in einem total seriösen Mantel.“

Ohne Mahler ist eine Reise nach Salzburg möglich, aber sinnlos (c) Residenz

Ohne Mahlers kongeniale Annäherung an „Thomas Bernhards Salzburg“ (Residenz 2022) ist eine Reise an die Salzach zwar möglich, aber sinnlos. Neun Blätter zieren die Wände der neuen Dauerausstellung im Salzburg Museum Neue Residenz. Mahlers Adaptionen von Texten der österreichischen Literatur-Prominenz von Musil bis Jelinek zeigt eine Ausstellung, die im März im Literaturhaus Leipzig zu sehen ist und dort zur Buchmesse Finissage feiert („Ah! Thomas Bernhard. Den kenn ich. – Schreibt der jetzt für Sie?“, Eröffnung: 9. März, Laudatio Andreas Platthaus).

Ist das Kunst – oder kann das weg? (c) Reprodukt

Mit „Franz Kafkas nonstop Lachmaschine“, einer Sammlung autobiografischer Bildgeschichten, lässt uns Mahler an den oft grotesken Missverständnissen teilhaben, die aus dem Zusammenprall von Literaturbetrieb und Comic erwachsen. Franz Kafka und Rolf Kauka, der legendäre „Fix und Foxi“-Erfinder, haben offensichtlich mehr gemein, als mancher sich träumen lässt. Dass Germanisten und bornierte Kritiker ihr Fett abbekommen, versteht sich von selbst. „Wer alles liest, hat nichts begriffen“, schreibt ihnen Nicolas Mahler, frei nach Bernhard, ins Stammbuch. Ist ein Roman, nur weil er mehr Zeilen zur Verfügung hat, wertvoller als ein Comic? Umgekehrt ist es richtig, meint Nicolas Mahler: „Die Verknappung ist aussagekräftiger als das große Ganze!“ 

(c) Reprodukt

Nicolas Mahler, geboren 1969, lebt und arbeitet als Comic-Zeichner und Illustrator in Wien. Seine Comics und Cartoons erscheinen in Zeitungen und Magazinen wie Die Zeit, NZZ am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und in der Titanic. Für sein umfangreiches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet; unter anderem erhielt er 2010 den Max-und Moritz-Preis als »Bester deutschsprachiger Comic-Künstler« und 2015 den Preis der Literaturhäuser.

www.mahlermuseum.at.