„Wir müssen wieder loslaufen!“

„Wir müssen wieder loslaufen!“

Die Buchmesse in den Hallen stattfinden zu lassen, ist Ihr oberstes Credo. Wenn wir jedoch eines aus der Pandemie gelernt haben, dann, dass Pläne nicht immer aufgehen…

Oliver Zille: Wir sind gebrannte Kinder. Dabei hatte alles, was wir in der Vergangenheit getan haben, seinen Sinn und seine Begründung. Am Ende hat es nicht gereicht. Blicke in die Glaskugel helfen nicht. Aber das uns Mögliche haben wir in Gang gesetzt – übrigens im Einvernehmen mit der Branche. Es ist zwingend notwendig, Sichtbarkeit für Literatur herzustellen!

Ist Leipzig 2023, nach menschlichem Ermessen, gesichert?  

Zille: Wir sind überzeugt davon. Wir haben nach drei Jahren Zwangspause diese Buchmesse wieder zu etablieren. Der späte Termin soll garantieren, dass es eine physische Messe mit Publikum in den Hallen geben kann. Aber Messen sind auch vor der Pandemie kein Konstrukt gewesen, das man sich am grünen Tisch ausdenkt und dann in die Praxis umsetzt. Es ist etwas, das man gemeinsam mit seinen Kunden realisiert. Die haben wir allerdings drei Jahre mehr oder weniger nicht gesehen. Drei Jahre, in denen sich die Situation für uns alle dramatisch verändert hat. Es gilt, gemeinsam einen neuen Anfang zu finden. Das wird ein Marathon – aber wir müssen jetzt einfach wieder loslaufen!  

Das „Denken in Szenarien“, von dem bei Zukunftstreffen mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth noch die Rede war, ist vom Tisch?  

Zille: Denken in Szenarien bedeutet auch, die Rahmenbedingungen, in denen man arbeitet, mitzudenken. Es wird nicht möglich sein, einen Plan A, B und C mit gleicher Seriosität parallel voranzutreiben – und dann einen davon aus der Tasche zu ziehen. Unsere Dienstleister sind extrem motiviert, die Leipziger Buchmesse wieder in Schwung zu bringen. Aber sie ächzen unter den derzeitigen Bedingungen, unter Personal-Engpässen, unter gewaltigen Auftragsüberhängen. Wir haben die Zeitkette so gebaut, dass wir flexibel reagieren – und unsere Formate in verschiedenen Größen funktionieren können.  

Wer bis zum 30. September bucht, tut das zu den Konditionen der Leipziger Buchmesse 2019.

Oliver Zille

Die Messe hat länger gebraucht, diese Rahmenbedingungen zu definieren, vieles musste neu gedacht werden – der in den Sommer gezogene Akquise-Start zeugt davon. Worauf sollte man als potentieller Aussteller achten? 

Zille: Wenn man bis zum 30. September bucht, tut man das zu den moderaten Konditionen der Leipziger Buchmesse 2019. Zusätzlich sind Fördermöglichkeiten im Rahmen des vom BKM aufgelegten Programms Neustart Kultur geplant – zum Frühbucher-Rabatt kommt also eine weitere Vergünstigung. Wie sich die Konditionen genau darstellen, werden wir noch deutlich vor Ende der Frühbucher-Phase kommunizieren.   

In vorpandemischen Zeiten konnte man sich bis gefühlt Ultimo anmelden – das ändern Sie nun. Bis zum Anmeldeschluss 15. November bezahlt ein Aussteller, der sich im Eiltempo wieder zurückzieht, 25 Prozent – danach sind 100 Prozent fällig, wie es normalerweise mit einer Zulassung üblich ist. 

Zille: Nach den Erfahrungen des Frühjahrs mussten wir hier etwas verändern. Wir gehen davon aus, dass auch Aussteller, die sich vorher angemeldet haben, noch mal einen „Realität-Check“ zum 15. November machen. Das macht die Sache auch für uns planbar. So hätten wir genügend Vorlauf, mit unseren Dienstleistern auch ein kleineres Format auf dem Messegelände zu bauen. Natürlich kann man sich auch nach dem 15. November noch anmelden – aber eben zu anderen Konditionen und eventuell nicht in der erhofften Wunsch-Platzierung. Ich weiß, man soll sich vor solchen Aussagen hüten, aber: Wenn wir 75 Prozent der Ausstellerinnen und Aussteller aus vorpandemischen Zeiten in Leipzig haben würden, wäre das ein Erfolg.  

Sie haben den Termin der Messe nach hinten verlegt, nicht aber die gesamte Zeitkette: Die Anmeldung für „Leipzig liest“ endet wie gewohnt am 30. November. Sind die lokalen Partner, in in Corona-Zeiten teils heftig bluten mussten, wieder mit im Boot?  

Zille: Es gibt größere Orte, die seit 20 Jahren feste Programm-Bestandteile sind, dazu kommen fallweise kleinere Partner. Die Mehrzahl unserer Partner plant mit dem April-Termin. Aber es gilt natürlich auch hier, was für alle jetzt in Gang gesetzten Prozesse gilt: Ganz ohne Bewegungen auf dem Weg wird es nicht gehen, mit dieser Rest-Unruhe müssen wir klarkommen.   

Wie geht es personell beim Lesefestival der Buchmesse weiter?  

Zille: Es passt zur fortschreitenden Digitalisierung der Buchmesse-Organisation, dass wir mit Unterstützung des BKM unsere „Leipzig liest“-Datenbank aufrüsten. Die Verschränkung dessen, was über die Datenbank läuft, mit dem „Gesamtwissen“ der Buchmesse ist ein entscheidender Punkt. In vorpandemischen Zeiten hat er vielleicht eine nachgeordnete Rolle gespielt – aber das hat sich deutlich geändert. Deshalb wollen wir die klassischen „Leipzig liest“-Stellen in die Messe holen, den Job mit eigenen Leuten wuppen. Wir werden aber weiterhin vertrauensvoll auch mit Freien zusammenarbeiten, die den „Leipzig liest“-Organismus aus dem Effeff kennen.  

Ein Organismus, der stetem Wandel unterliegt: Warum wurde das Hallen-Layout geändert? 

Zille: Wir haben uns überlegt, was die wichtigsten Entwicklungsfelder der Leipziger Buchmesse für die Zukunft sein werden. Eine unserer Hauptaufgaben ist zweifellos, Kinder und Jugendliche zum gedruckten Buch, zu den Medien zu bringen. Deshalb wollen wir die Bereiche Manga-Comic-Con (MCC), Fantasy, Kinder- und Jugendbuch stärker miteinander verschränken. In Halle 2, also in direkter Nachbarschaft zum Congress Center Leipzig, werden wir die Themenbereiche Fachbuch/Wissenschaft, Belletristik und Sachbuch, Buchkunst & Grafik, Reise, Hörbuch sowie den Bildungsbereich konzentrieren.   

Wie wird es nach der Geschäftsaufgabe von abooks.de mit der Antiquariatsmesse weitergehen?  

Zille: Die Nachricht hat uns kurzfristig erreicht. Wir überlegen, eine Fläche mit antiquarischen Angeboten ins Messe-Layout zu integrieren; derzeit laufen Gespräche darüber mit lokalen Antiquariatspartnern. Ich sehe diese Bemühung als eine Brücke in eine noch zu definierende Zukunft.  

Messen machen ist wie Atmen oder Fahrradfahren: Man verlernt es nicht, oder? 

Zille (lacht): Man darf aber auch nicht aufhören zu treten. Sonst fällt man vom Rad. Aber jetzt ernsthaft: Unser Arbeitsalltag hat sich radikal verändert. Wir schauen, klar, auf unsere Kunden, müssen aber ebenso fest unsere Dienstleister und deren Lage im Blick behalten. Es gibt keine Routinen, nichts Eingespieltes mehr. Die Messen in den nächsten Jahren werden sich von denen, die wir kannten, deutlich unterscheiden. Wir wissen nur noch nicht genau wie.  

Welcher Ihrer Pinnwand-Sprüche im Büro erweist sich gerade als besonders wertvoll? 

Zille: Douglas Adams: „Don’t panic!“   

Der Text ist die leicht bearbeitete Fassung eines Gesprächs, das am 9. August auf boersenblatt.net erschienen ist.

„Vielgestaltigkeit erzählen“

„Vielgestaltigkeit erzählen“

Ich würde mit der ersten Frage gern Ihre „Meaoiswiamia“-Podcast-Methode aufnehmen, getreu dem schönen Motto: Warum allgemein reden, wenn’s auch persönlich geht? Österreich ist seit 2001 mit einem größeren Auftritt in Leipzig präsent – was verbindet die Literaturjournalistin Katja Gasser mit Leipzig? Haben Sie Freunde hier? 

Katja Gasser: Ich kenne Leipzig und die Buchmesse im Wesentlichen aus der Perspektive meines Kamerateams und der Produktionsfirma, mit der ich arbeite. Ein Buchmesse-Auftritt gestaltet sich für eine TV-Journalistin so, dass man vier Tage lang im Grunde mit dem Kamerateam zusammenklebt. Das Team, mit dem ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, zählt für mich zu den liebenswürdigsten und patentesten Teams, mit denen ich je zu tun gehabt habe. Meine Empfindungen für Leipzig sind also wesentlich von diesen Leuten geprägt: Beide haben die DDR erlebt, sie haben mir ihre Umbruchs-Geschichten und die ihrer Familien erzählt. Was weiter zurückliegt als meine ersten Leipzig-Erfahrungen: Ich habe schon immer empfunden, dass das österreichische Gemüt – was immer das auch ist! – näher am ostdeutschen als am westdeutschen Gemüt ist: ich weiß, wie prekär es ist, so etwas zu sagen (lacht). 

Können Sie das erklären?  

Gasser: Das Nicht-endgültig-zu-Erklärende ist vielleicht wichtiger Bestandteil dieses Empfindens. Ich glaube, es hat wesentlich damit zu tun, dass die sogenannte „Ost-Erfahrung“ – ich bezeichne das jetzt behelfsmäßig so – näher an der österreichischen Erfahrung ist: auch wenn ‚wir‘, also Österreich, den Eisernen Vorhang nicht quer durchs Land gezogen hatten. Aber wir sind in der historischen, politischen und geographischen Prägung durch den Osten, den Südosten Europas viel stärker gezeichnet als etwa Norddeutschland.  Es ist also auch kein Zufall, dass viele Autorinnen und Autoren aus dem südosteuropäischen Raum ihre ersten Publikations-Schritte auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in kleineren österreichischen Verlagen gemacht haben – um dann nicht selten einen größeren deutschen Verlag zu finden. 

Haben Sie eigentlich Leipziger Lieblingsorte?

Gasser: Lieblingsorte? Schwer zu sagen. Ich kann mit einem Bild aufwarten: es war ein windiger, regnerischer, wenig freundlicher Tag während einer der Leipziger Buchmessen, und das Kamerateam und ich waren auf der Suche nach Bildern von der Stadt. Und da trafen wir auf dem zentralen Marktplatz Leipzigs einen Pianisten an, der gegen alle Wetter-Widrigkeiten anspielte – und das sehr intensiv, schön. Dieses Bild hat sich in mir abgelegt: als ein Symbol für Würde und Widerständigkeit. Dieses Bild grundiert meinen Leipzig-Eindruck. Im Grunde bin ich aber eine klassische Leipzig-Touristin, die sich kaum über die üblichen Orte hinaus wirklich auskennt. Durch meine Fernseharbeit, meine Interviews bin ich natürlich auch an Orte gekommen, über die man als regulärer Tourist nicht stolpert – aber die könnte ich jetzt nicht benennen. Als TV-Journalistin bin ich ein Orientierungs-Dummie, weil ich immer an die Leute vor Ort gebunden bin, die mit mir arbeiten: die sind in der Regel so freundlich, mich mit dem Auto abzuholen und herumzulotsen. Was dazu führt, dass ich mich geografisch ausklinke. Meine Tendenz zum Lemming ist diesbezüglich sehr ausgeprägt. Als visueller Mensch bin ich nicht zufällig beim Fernsehen gelandet; ich könnte Ihnen Details in den Outskirts von Leipzig beschreiben – aber nicht sagen, wo genau das gewesen war.  

Wie gefällt Ihnen Ihr künftiges Gastland-Hauptquartier, die Schaubühne Lindenfels?  

Gasser: Es ist kein Zufall, dass sich auch Gastländer vor uns diesen Ort gewünscht und dann auch bespielt haben. Er verbindet ein niederschwelliges Kunst- und Kulturverständnis mit sehr hoher Professionalität auf diesem Gebiet. Man spürt dem Ort an, dass er offen ist für viele – und zugleich sehr präzise in dem, was dort geboten wird. Genau in dieser Kombination sehe ich auch den Österreich-Auftritt in Leipzig angelegt.  

Normalerweise haben staatstragende Veranstaltungen wie Gastlandauftritte eineindeutige, leicht eingängige Slogans…  

Gasser: Das war auch ein hartes Ringen, das durchzusetzen… 

Das kann ich mir vorstellen. Mit „Meaoiswiamia“ referieren Sie auf Avantgardistisches von Ernst Jandl bis zur Band Attwenger. Wie ist es zu dieser Sprachskulptur gekommen – und was wollen Sie mit ihr transportieren?  

Gasser: Mir war es einerseits wichtig, dass wir mit diesem Claim zeigen: Wir sind eine KUNST-Veranstaltung, eine literarische Veranstaltung – und zwar nicht irgendeine, sondern eine, die einen sehr expliziten Bezug zu Avantgarde-Traditionen hat, für die ja die österreichische Literatur in Deutschland immer wieder gerühmt wird. 

Wir wollen uns als Land zeigen, das die Kapazitäten hat, sich über ein enges Wir-Verständnis hinaus als kulturell, literarisch, sprachlich, religiös vielgestaltig zu zeigen.  

Katja Gasser

Gleichzeitig war mir bewusst, dass wir auch eine politische Setzung brauchen. „Meaoiswiamia“ ermöglicht, dass sich ein Land auch mit einem Fragezeichen präsentiert. Wir erleben ja im Moment identitätspolitische Verschärfungen auf sehr unterschiedlichen Ebenen – und mir war ganz wichtig, dass wir im Claim selbst mit einem offenen „Wir“-Wort auftreten. Im Bewusstsein, dass jede Konstruktion von „Wir“ eine sehr schwierige, mitunter auch gefährliche Geschichte ist. Wir wollen uns als Land zeigen, das die Kapazitäten hat, sich über ein enges Wir-Verständnis hinaus als kulturell, literarisch, sprachlich, religiös vielgestaltig zu zeigen.  

Sie setzen stark auf Vielfalt: Sind Mehrsprachigkeit und Multikulturalität die richtigen Assoziationen?  

Gasser: Ja, und zwar nicht in einem propagandistischen Sinn, sondern im Sinne einer großen Selbstverständlichkeit: es ist einfach so, dass Österreich ein multikulturelles und mehrsprachiges Land ist, das ist Fakt. Und das aus unterschiedlichsten Gründen, nicht zuletzt historisch bedingt. 

Für mich ist es zentral, im Kontext des Gastlandauftritts auch die Frage virulent zu halten, wer ‚wir‘ sein wollen. Welche Konzepte bilden die Grundlage unsers Verständnisses davon, was Gesellschaft sein soll? Und daran gebunden die Frage, welche Rolle bei all dem die Literatur, die Kunst spielt.   

Wir wollen als Gastland 2023 kein Nischenprogramm haben, keine Sparten, wo wir etwa österreichische Migranten-Literatur zeigen. Sondern dass wir im Herzen unseres Programms diese Vielgestaltigkeit erzählen!  

Sie selbst sind, in Klagenfurt geboren, mehrsprachig aufgewachsen…?  

Gasser: Das ist sicher eine Grundschärfung meines Bewusstseins, dass ich aus einer zweisprachigen Region komme. Es gibt ja in Österreich mehrere anerkannte Volksgruppen, eine der autochthonen Minderheiten Österreichs sind die Kärntner Slowenen – und ich komme aus einer Familie, die slowenischsprachig geprägt ist. Diese Prägung hat sicher mit dazu geführt, dass ich mich unter anderem in meiner Arbeit als TV-Journalistin sehr auf die südosteuropäischen Literaturen spezialisiert, Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum vorgestellt habe. Der Zufall der Biografie spielt also sicher mit, mein kämpferisches Naturell hat wohl auch darin seine Wurzeln. Ich bin aber auch unabhängig von der eigenen Lebensgeschichte politisch davon überzeugt, dass wir gar keine andere realistische Lösung haben, als zu versuchen, dieses „Viele“ im Zentrum anzuerkennen – und daraus so etwas wie Gesellschaft zu zimmern. Immer unter der Voraussetzung von Ideen wie Gerechtigkeit und Solidarität. Ich habe in einem der Texte, die ich rund ums Gastland geschrieben habe, festgehalten, dass für mich die Anerkennung dieser Vielfalt die einzig nicht-ideologische Setzung ist! Alles, was dieses Faktum nicht anerkennen möchte, ist Ideologie. 

Gibt es denn aus Ihrer Sicht in Deutschland Klischees, die österreichische Literatur betreffend, die Sie ärgerlich finden und die Sie mit Ihrem Programm aufbrechen, wenn nicht gar in die Rumpelkammer verbannen möchten?  

Gasser: Zuviel der Ehre. Ich finde es grundsätzlich unvernünftig, gegen Klischees auftreten zu wollen. Vielleicht sogar etwas infantil (lacht). Klischees haben auch etwas Gutes. Ich mache zum Beispiel jetzt die Erfahrung, dass das immer etwas verniedlichende Bild des Österreichers uns durchaus gut bekommt: Man mag uns! Das kommt unserem Projekt auch zugute (lacht). Ich will weniger gegen Klischees auftreten, als mit einem Selbstverständnis – das auch nicht auftrumpfend ist! – zu zeigen, was dieses Land literarisch zu bieten hat. Und das ist viel mehr, als man kennt.  

Mehr als Thomas Bernhard…  

Gasser: Absolut. Einer unserer Programmhöhepunkte im April 2023 wird die Show „Werdet Österreicher!“ in der Schaubühne Lindenfels sein. Dort werden zwei der bekanntesten Kabarettisten Österreichs, Stermann & Grissemann, mit diversen Autorinnen und Autoren einen Abend gestalten. Vorausgehen wird diesem Abend ein Literaturwettbewerb der schule für dichtung in wien in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Gesucht wird da der österreichischste Text der Gegenwart. Wir fordern also dazu auf, Bernhard, Jandl & Co. zu übertrumpfen.  

Ich entnehme Ihren Worten eine gewisse Fähigkeit zur Selbstironie… 

Gasser: Das ist natürlich eine Grundvoraussetzung, um das Leben generell zu überstehen (lacht). Ironiefähigkeit empfiehlt sich auch bei der Leitung eines Gastland-Auftritts. Auf dem Terrain der Kunst haben wir – Gottseidank! – die Möglichkeit, Dinge, die sonst in die Katastrophe führen, anders anzugehen.  

Lassen Sie uns darüber sprechen, was uns bis zum April 2023 erwartet. Die erste Raketenstufe ist ja bereits gezündet: Sie haben Mitte Mai in Berlin eine Literaturhaus-Tour eröffnet. Was haben Sie in den nächsten Monaten vor?  

Gasser: In den letzten Monaten waren wir damit beschäftigt, die Projekte und unseren Claim zu entwickeln, der Startschuss fiel im letzten März in Leipzig. Die Fortsetzung fand das im Mai in Berlin. Es gab jetzt im LCB wieder einen „Langen Abend der Österreichischen Literatur“. Im September wird „Literatur on Tour“ richtig Fahrt aufnehmen. Wir haben insgesamt mehr als 30 Veranstaltungen in Deutschland und der Schweiz, wo wir – meist mit musikalischen Acts – die ganze Vielfalt der österreichischen Literatur zeigen wollen. Meist in Konstellationen, die so in Literatur-Institutionen sonst nicht stattgefunden hätten. Begleitet wird das von unserem Podcast-Projekt und weiteren Aktivitäten in den Sozialen Medien. Anfang 2023 richtet sich unser Fokus dann verstärkt nach Leipzig. Unsere Präsenz 2023 startet, so der Plan, mit einer Ausstellung des zeichnerischen Werks von einer der interessantesten und bekanntesten österreichischen Künstlerinnen des 20.Jahrhundersts, die ein ausgeprägtes Naheverhältnis zur österreichischen Literaturszene hatte: Maria Lassnig. Rund um Maria Lassnig, zu der es spannende Buchpublikationen gibt in unterschiedlichen österreichischen Verlagen, sind mehrere Aktivitäten geplant. Darüber hinaus:  Im Literaturhaus Leipzig wird es eine Nicolas-Mahler-Ausstellung geben, in der Schaubühne eine Woche mit österreichischen Literaturverfilmungen. Nikolaus Habjan wird ein ganzes Wochenende lang auftreten mit einem Kult-Stück von Werner Schwab, „Die Präsidentinnen“, das Burgtheater wird Leipzig mit einem herausragenden Gastspiel beehren: darüber und darauf freue ich mich sehr: Details möchte ich noch keine verraten. 

Wir versuchen, unseren Gastlandauftritt im Vorfeld auf sehr unterschiedlichen Ebenen anzukündigen und mitzuzählen – nicht nur auf dem Feld des Literarischen.

Katja Gasser

Wir versuchen, unseren Gastlandauftritt im Vorfeld also auf sehr unterschiedlichen Ebenen anzukündigen und mitzuzählen – nicht nur auf dem Feld des Literarischen. So wird es auch während der Buchmesse weitergehen: Mit einer großen Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek („50 Jahre österreichische Literatur“) in der DNB Leipzig, im Leipziger Theater der Jungen Welt werden wir während der Buchmesse einen Tag lang Workshops mit österreichischen Kinder- und Jugendbuch-Illustratoren abhalten. Dazu wird das ‚Dschungel Wien‘ – eines der herausragendsten Kinder- und Jugendtheater Österreichs – ein Gastspiel am TdJW haben. Und so weiter, und so weiter… Wir versuchen, an sehr unterschiedlichen Stellen die unterschiedlichsten Kunstsparten sichtbar zu machen – auch mit dem Wunsch, über diesen Moment der Leipziger Buchmesse hinaus Netzwerke zu schaffen, die dann über den April 2023 weit hinaustragen. 

Wenn man sich auf das Projekt, Österreicher zu werden, ordentlich vorbereiten will – welche Bücher sollte man dann in den Sommer mitnehmen? Und: Was lesen Sie gerade?  

Gasser: Ich lese gerade ein Buch, das nicht direkt mit unserem Auftritt zu tun hat, aber von einem Autor stammt, den ich für einen der relevantesten der Gegenwart halte: „Mesopotamien“ von Serhij Zhadan. Was österreichische Novitäten betrifft, tue ich mich schwer, ein Buch besonders hervorzuheben. Vielleicht so viel: Der Claim „Meaoiswiamia“ ist ja nicht bei mir am Schreibtisch entstanden. Ich habe mehrere Autorinnen und Autoren darum gebeten, darüber nachzudenken, wie wir als Gastland heißen könnten. „Meaoiswiamia“ ist eine Erfindung von Thomas Stangl, der zuletzt gemeinsam mit Anne Weber ein Buch über „Gute und böse Literatur“ bei Matthes & Seitz veröffentlicht hat. Das liegt mir sehr am Herzen, wie überhaupt Thomas Stangl – ein Leuchtstern der österreichischen Gegenwartsliteratur, der in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist. Im August kommt sein neuer großer Roman „Quecksilberlicht“ (Matthes & Seitz Berlin) heraus, dazu ein Erzählband in seinem ‚Herkunftsverlag‘, dem österreichischen Droschl-Verlag. Das andere Buch, das ich erwähnen möchte, kommt aus einem tollen, jungen österreichischen Verlag – Alexander Lippmanns Roman „Innere Gewalt“ ist bei Bahoe Books erschienen; eine Geschichte darüber, was es heißt, einer mehr oder minder sinnlosen Arbeit nachzugehen. Insgesamt kann ich nur sagen: liebe Leserinnen: schaut Euch auf dem österreichischen Buchmarkt um: es gibt Hochkarätiges zu entdecken! 

Katja Gasser ist Literaturkritikerin und Kulturjournalistin, 2019 wurde sie mit dem Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet. Seit 2008 leitet sie das ORF-TV-Literaturressort; in dieser Funktion ist sie zur Zeit freigestellt, weil sie die künstlerische Leitung des Gastlandprojekts ,Österreich bei der Leipziger Buchmesse 23’ übernommen hat. 

Wie am Schnürchen

Wie am Schnürchen

Die letzte Woche war lang, mitunter zog es sich: Donnerstag Referentenabend im Hôtel de Pologne, Freitag Ceva-Kongressabend mit 1200 Teilnehmern des Tierärztekongresses in der Kongresshalle am Zoo. Ein nine-to-five-Job ist es nun wirklich nicht, den Carina Menzer, Protokollreferentin bei der Leipziger Messe, ausfüllt. Aber das ist auch gut so: Eine Nullachtfünfzehn-Anstellung hat Menzer nie gesucht. 

Nach dem Abitur wünschte sie sich ein Studium mit Praxisbezug. „Und für eine gebürtige Leipzigerin ist die Leipziger Messe natürlich ein Begriff.“ Menzer bewarb sich für ein duales Hochschulstudium – und erhielt die Zusage. Drei Jahre lang, von 1999 bis 2002, pendelte sie zwischen der Berufsakademie Ravensburg und dem neuen Messegelände: Auf drei Monate Theorie am Bodensee folgten jeweils drei Monate in einer neuen Abteilung der Messe. Menzer schloss als diplomierte Betriebswirtin, Fachrichtung Messe- und Kongressmanagement, ab – und erhielt zunächst einen befristeten Vertrag im Projektteam der Wäsche-Messen Body Look und Fashion Look. Eine Zeit, die Carina Menzer rückblickend sehr schätzt: „Es ist nicht das Schlechteste, wenn man die Arbeit im Projektteam – von der Aussteller-Akquise bis zur Besucherwerbung – von der Pike auf und in der Vernetzung mit anderen Abteilungen kennenlernt. Das schärft das Verständnis fürs Funktionieren des Messe-Mechanismus insgesamt.“ Als die Body Look 2006 nach Düsseldorf ging, bewarb sich Carina Menzer auf eine frei werdende Stelle in der Protokollabteilung. Sie bekam den Job – und blieb bis heute. 

Politiker auf Tuchfühlung, Konzentration fürs Protokoll: Martin Schulz auf der Leipziger Buchmesse 2017 (c)LBM

Fällt das Wort „Protokoll“, denkt man zumeist ans klassische diplomatische Parkett – und Vorschriften, die den Ablauf staatlicher Zeremonien, so etwa den Ablauf von Staatsbesuchen, regeln. Berühmt-berüchtigt waren die mit großem Aufwand betriebenen „Protokollstrecken“ der DDR – auf dem Weg vom Flughafen Schönefeld zum Schloss Niederschönhausen, dem Gästehaus der Regierung, soll der Rasen schon mal per Nagelschere geschnitten und grün lackiert worden sein. Weniger bekannt ist, dass heute auch große Wirtschaftsunternehmen über eine eigene Protokollabteilung verfügen. Bei der Leipziger Messe ist die Abteilung „Protokoll und Geschäftsführungsangelegenheiten“, so die korrekte Bezeichnung, eine so genannte „Querschnittsabteilung“: Zusammen mit ihren Kolleginnen betreut Menzer ein begrenztes Aufgabengebiet für alle Messe-Themen – von Kongressen über Industriemessen bis zur Leipziger Buchmesse im Frühjahr, bei der der Anteil protokollarischer Herausforderungen naturgemäß besonders hoch ist. 

So ist die Protokollabteilung fürs VIP-Management verantwortlich, der Betreuung ausgewählter very important persons aus Politik, Wirtschaft oder Kultur. Ganz gleich, ob ein Promi am Helikopter-Landeplatz einrauscht, oder mit seiner Entourage am Glashallen-Eingang vorfährt: Mit dem Betreten des Messegeländes ist buchstäblich jeder Schritt getaktet. Diskretion gehört dazu: „Während die Geschäftsführung begrüßt, hält sich das Protokoll im Hintergrund“, so Menzer. „Wir schauen, dass alles läuft und die richtigen Wege eingehalten werden.“ Kommissar Zufall ist, so gesehen, der natürliche Feind des Protokolls. „Am Ende agieren Menschen. Wenn ein VIP spontan die Idee hat, vom Plan abzuweichen, bedeutet das zusätzlichen Stress. Im Zweifel muss man sehr schnell reagieren.“ Natürlich spielen auch Sicherheitsaspekte eine wichtige Rolle; als Faustregel gilt: Je prominenter die Gäste, desto aufwändiger die Vorbereitungen. 

Burkhard Jung übergibt den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 an Tomer Gardi (c)LBM/Tom Schulze

Zu den Aufgaben des Protokolls gehört auch die Organisation von Rahmenveranstaltungen – im Fall der Buchmesse etwa die Eröffnung im Gewandhaus, die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Glashalle, die traditionelle Ausstellerparty in der Moritzbastei oder der Übersetzer-Empfang. „Bei der Eröffnung reicht das von Mietvertrag und Catering über die persönliche Platzierung der Ehrengäste bis zum Ablauf auf der Bühne oder das Programmheft.“ Wenn also 2019, im prä-pandemischen Buchmesse-Jahr des tschechischen Gastlandauftritts, auf der Gewandhaus-Bühne Bedřich Smetanas „Moldau“ erklingt, hat das Protokoll präzise vorgearbeitet. Dazu sind Menzer und ihre Kolleginnen für den reibungslosen Betrieb der VIP-Lounges, den VIP-Shuttleservice und die Erarbeitung individueller Messe-Rundgänge zuständig. „Im Zusammenspiel mit dem Börsenverein und den Kolleginnen des Buchmesse-Projektteams erarbeiten wir Wegeverläufe und Zeitrahmen“, erklärt Menzer. „Und wir kontaktieren natürlich vorab die ausgewählten Aussteller, um vorab die Details des Besuchs zu klären.“ 

Fragt man Carina Menzer, was sie an ihrem Job reizt, ist es zuallererst die Vielfalt der Aufgaben, die herausfordert. „Wir arbeiten nicht nur mit einer Messe, einem Projektteam zusammen – sondern eigentlich mit dem gesamten Haus!“ Während die Buchmesse-Organisatoren gefühlt 360 Tage im Jahr auf ein fünftägiges Feuerwerk zuarbeiten, kennt Menzers Jahreskreis viele Höhepunkte. Dazu lernt sie durch die Planung mit vielen Leipziger Locations ihre Stadt immer wieder anders und neu kennen. Für Ihren Job braucht Carina Menzer Organisationsgeschick, gute Nerven und die Gabe, Wichtiges von weniger Relevantem zu trennen. Effizienz ist das Zauberwort: „Ich kann ziemlich gut erkennen, wo es sich lohnt, Zeit und Mühe zu investieren – und wo man Gefahr läuft, sich in Details zu verbeißen.“ Für ausgefallene Hobbies hat die Mutter zehnjähriger Zwillingsjungs kaum Zeit; Sport und Yoga bieten Ausgleich zum kräftezehrenden Beruf. Am besten entspannt sie auf Ausflügen mit der Familie in die Natur. Wer denkt, die seien perfekt durchorganisiert, ist schief gewickelt. In der Freizeit dürfen die To-do-Listen gern mal Pause machen. „Auf Klassentreffen“, lacht Menzer, „bin ich lieber Gast.“ 

Kulturstaatsministerin Claudia Roth mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung beim Zukunftsgespräch zur Leipziger Buchmesse im März 2022 (c) Leipziger Messe

Die Zeit der Corona-Pandemie, in der auch auf dem Leipziger Messegelände der gewohnte Betrieb still stand, hat Carina Menzer genutzt, um etwas zu tun, für das in der engen Taktung des physischen Messe-Alltags eigentlich kein Platz ist: Das Gewohnte in Frage stellen, konzeptionell neue Horizonte eröffnen. „Die Verbindung von Home-Office und Home Schooling war manchmal kräftezehrend. Aber angesichts der Tatsache, dass es in unserer Branche zu nicht wenigen Verwerfungen gekommen ist, Corona mancher Agentur oder Messebauer die Luft abgeschnürt hat, hatte ich das Privileg, mich neu fokussieren zu können.“ Als erste Präsenzmessen gingen im September letzten Jahres Cadeaux und Midora an den Start. Im Herbst 2020 waren sie die ersten Messen unter Pandemie-Bedingungen – jetzt markierten sie wieder einen Meilenstein. Die Leipziger Buchmesse im nächsten April wirft ihre Schatten voraus. Protokoll ist, zum Glück, ein wenig wie Fahrradfahren oder Atmen: Man verlernt nichts. Carina Menzer ist längst wieder im Tritt.