„Wer alles liest, hat nichts begriffen“

„Wer alles liest, hat nichts begriffen“

Nicolas Mahler polarisiert: Für die einen ist der 1969 in Wien geborene Zeichner ein Spaßvogel, für andere ein verkappter Tragiker. Und was, bitte, ist von einem zu halten, der dickleibige Weltliteratur-Wälzer zu handlichen Bildgeschichten eindampft? Gemessen an der Zahl der Preise, die er eingeheimst hat, ziemlich viel: Mahler, der gern selbst mit dicker Brille und Gurkennase durch seine Strips geistert, ist einer der profiliertesten und produktivsten Comic-Künstler im deutschsprachigen Raum. 

Mahlers neuester Streich erscheint pünktlich zur Buchmesse (c) Reprodukt

Früher wurde Nicolas Mahler häufig gefragt, ob das, was er macht, Kunst sei? Mitfühlende Geister schlossen dann meist ein „Können Sie davon leben?“ an. Doch inzwischen hat sich der Wind gedreht: Der Mahler-Stil, einst als Krakelei abgetan, gilt als unverwechselbar in der grafischen Reduktion. Seine Figuren haben weder Ohren noch Münder, aber zweifellos Charakter. Neben den fast 50 Buchveröffentlichungen, die seit den späten 90er Jahren entstanden sind, experimentiert der Zeichner auch mit anderen Medien – offenbar ein Tausendsassa. 

Bernhard und kein Ende… (c) Suhrkamp

Einem größeren Publikum wurde Mahler durch Comic-Adaption von Thomas Bernhard oder Robert Musil im Suhrkamp Verlag bekannt. So destillierte er aus Musils 1700-Seiten-Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ einen 150-Seiten-Strip. Ein Sakrileg für Germanisten. Auch die Bearbeitung von Bernhards Theaterstück „Der Weltverbesserer“ ist längst Kult: Ein Mann in seinem hohen Sessel, eine Frau – das war’s auch schon. Doch Mahler bebildert nicht einfach, sondern interpretiert mit seiner Darstellung neu.

(c) Suhrkamp

Literarische Comic-Erzählungen mit Suhrkamp-Gütesiegel – ist das noch zu toppen? Dem schlitzohrigen Wiener gelang es: Mit seinem schlicht „Gedichte“ betitelten Band schaffte er es in die Insel-Bücherei. Die bibliophile Buchreihe gilt als Hort der Hochkultur. Mahler weiß, dass die Aufnahme hier eigentlich Klassiker-Status verbürgt – und spielt damit. „Also, ich bin ja ganz gern blöd. Und a Blödsinn funktioniert natürlich am besten in einem total seriösen Mantel.“

Ohne Mahler ist eine Reise nach Salzburg möglich, aber sinnlos (c) Residenz

Ohne Mahlers kongeniale Annäherung an „Thomas Bernhards Salzburg“ (Residenz 2022) ist eine Reise an die Salzach zwar möglich, aber sinnlos. Neun Blätter zieren die Wände der neuen Dauerausstellung im Salzburg Museum Neue Residenz. Mahlers Adaptionen von Texten der österreichischen Literatur-Prominenz von Musil bis Jelinek zeigt eine Ausstellung, die im März im Literaturhaus Leipzig zu sehen ist und dort zur Buchmesse Finissage feiert („Ah! Thomas Bernhard. Den kenn ich. – Schreibt der jetzt für Sie?“, Eröffnung: 9. März, Laudatio Andreas Platthaus).

Ist das Kunst – oder kann das weg? (c) Reprodukt

Mit „Franz Kafkas nonstop Lachmaschine“, einer Sammlung autobiografischer Bildgeschichten, lässt uns Mahler an den oft grotesken Missverständnissen teilhaben, die aus dem Zusammenprall von Literaturbetrieb und Comic erwachsen. Franz Kafka und Rolf Kauka, der legendäre „Fix und Foxi“-Erfinder, haben offensichtlich mehr gemein, als mancher sich träumen lässt. Dass Germanisten und bornierte Kritiker ihr Fett abbekommen, versteht sich von selbst. „Wer alles liest, hat nichts begriffen“, schreibt ihnen Nicolas Mahler, frei nach Bernhard, ins Stammbuch. Ist ein Roman, nur weil er mehr Zeilen zur Verfügung hat, wertvoller als ein Comic? Umgekehrt ist es richtig, meint Nicolas Mahler: „Die Verknappung ist aussagekräftiger als das große Ganze!“ 

(c) Reprodukt

Nicolas Mahler, geboren 1969, lebt und arbeitet als Comic-Zeichner und Illustrator in Wien. Seine Comics und Cartoons erscheinen in Zeitungen und Magazinen wie Die Zeit, NZZ am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und in der Titanic. Für sein umfangreiches Werk wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet; unter anderem erhielt er 2010 den Max-und Moritz-Preis als »Bester deutschsprachiger Comic-Künstler« und 2015 den Preis der Literaturhäuser.

www.mahlermuseum.at.  

Von Trakl bis Marwan

Von Trakl bis Marwan

Nach Lehrjahren in Druckereien, Buchhandlungen und Verlagen gründete der 1901 in Karlsruhe geborene Otto Müller 1937 in Salzburg sein eigenes Unternehmen. Was ihm vorschwebte, war so etwas wie ein Universal-Verlag, in dem von der Lyrik bis zum Sachbuch, vom Unterhaltungsroman bis zur theologischen Studie alles seinen Platz haben sollte. Von der Gestapo verhaftet, wurde er unter der Auflage freigelassen, seinen Verlag zu liquidieren; erst im Frühjahr 1945 konnte er darangehen, sein Haus neu aufzubauen. 

Als Arno Kleibel den Verlag seines Großvaters im Oktober 1986 übernahm, war er 25 Jahre jung und, trotz Buchhandels-Lehre, blutiger Anfänger in der Branche. Am ersten Arbeitstag ein Grundkurs Pressearbeit, das erste Interview auf der Frankfurter Buchmesse. Zurück in Salzburg der erste Autoren-Anruf, am Apparat: H.C. Artmann. Der Autor, dessen 100. Geburtstag bei unseren Nachbarn heuer groß gefeiert wird, hatte das Buch, mit dem er berühmt wurde, 1958 bei Otto Müller verlegt: „Med ana schwoazzn Dintn“, Startauflage 4000 Exemplare, innerhalb von sechs Monaten wurde dreimal nachgedruckt. 

H. C. Artmann, einer der Hausgötter von Otto Müller, hätte 2021 seinen 100. Geburtstag gefeiert (c)nk

Viel erfolgreicher, zumal nach Premiere der ersten Verfilmung mit Fernandel und Gino Cervi, war in den 1950er Jahren Giovanni Guareschis „Don Camillo und Peppone. Heute schätzt man das Salzburger Traditionshaus für ausgezeichnete Belletristik, von Georg Trakl über Srečko Kosovel bis zu Ana Marwan. Eben hat die junge Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2022 den Herausgeber-Staffelstab der bei Otto Müller verlegten Zeitschrift „Literatur und Kritik“ von Karl-Markus Gauß übernommen. 

Die Rechte am Werk Georg Trakts hatte Otto Müller schon 1937 erworben (c)nk

Entdeckt ein kleinerer österreichischer Verlag wie Otto Müller ein großes literarisches Talent wie die 1977 im siebenbürgischen Hermannstadt geborene Iris Wolff, weckt das rasch die Begehrlichkeiten von Verlagen im Nachbarland – seit „Die Unschärfe der Welt“ (2020) erscheinen Wolffs Bücher bei Klett-Cotta in Stuttgart. „Verpuppt“, der zweite Roman von Ana Marwan, ist jedenfalls Ende Jänner bei Otto Müller erschienen – die Klagenfurt-Siegerin wird damit auch in Leipzig zu erleben sein.  

Profi für Förderanträge: Robert Stocker, Leiter der Literaturabteilung im Ministerium für Kunst und Kultur (c)nk

Warum Österreich vor allem ein Land der kleinen Verlage ist und wie diese gefördert werden, erfahren wir bei Robert Stocker, Leiter der Literaturabteilung im Ministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport. „Die 1992 ins Leben gerufene Verlagsförderung“, sagt Stocker, „ist ein interessantes Modell, auch auf europäischer Ebene“. Damals brachen größere Player und Finanziers im Verlagssektor weg: So wurde im Oktober 1991 – nach über 100 Jahren wechselvoller Geschichte – die sozialdemokratische Arbeiter-Zeitung (AZ) eingestellt; Anfang der Nullerjahre ist der Bundesverlag verkauft worden. Die Verlagsförderung basiert auf drei Säulen: Sie ist zum einen als Kultur- nicht als Wirtschaftsförderung angelegt, es werden ganze Programme gefördert, förderwürdig sind auch Werbe- und Vertriebsmaßnahmen. Rund 35 bis 40 Publikumsverlage erhalten so in mehreren Tranchen pro Jahr insgesamt rund drei Millionen Euro. 

Lesetipps:

H. C. Artmann: Med ana schwoazzn dintn. Gedichte. Otto Müller Verlag, 96 Seiten, 23 Euro.

Ana Marwan: Verpuppt. Roman. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Otto Müller Verlag, 220 Seiten, 24 Euro. 

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel 

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel 

Einem Mann wie Jörg Wagner, der seine Dienste gewöhnlich geräuscharm im Bauch des Buchmessetankers versieht, ist es wohl nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einmal die Buchmesse grundlegend mitgestalten würde. Wir lernen uns in jenem denkwürdigen Jahr 2021 kennen, als er mit dem Team seiner Firma SHOW concept die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse notgedrungen auf die Bühne der Kongresshalle am Zoo und ins Netz stellte. Keine triviale Aufgabe, galt es doch, im je rechten Moment 17 Nominierte aus allen möglichen Welt-Gegenden per Video zuzuschalten – vom Neu-Metelner Bauernhaus der Helga Schubert bis zum Schweizer Residuum Christian Krachts. Kein Wunder also, dass es im – kein Witz! – ehrwürdigen Wagner-Saal der Kongresshalle so aussah wie in einer Server-Farm im Silicon Valley.

Damals galten, wir erinnern uns, die Ausnahmegesetze einer Pandemie – und Wagner, der seit vielen Jahren als Regisseur und Produzent der Preisverleihung fungierte, war mit seinen Profis früh in die Vorplanung involviert. „Wir waren dankbar, dass die Buchmesse beschlossen hatte, die Preisverleihung in einer neu gedachten Bühnen-Situation hybrid umzusetzen.“ Gelaufen ist es damals ein wenig nach dem Vorbild von „Hart aber fair“ – die Zuschaltung sämtlicher Nominierter über Displays erforderte ein starkes Internet und „redundante Stromversorgung“. Was, so klärt Wagner auf, hier nichts Anderes bedeutete als „doppelt abgesichert“, also: Feststrom plus Notstromaggregat. „Wir hatten für jede Schaltung einen separaten Rechner, ein Medienserver verwaltete die Einzeladressen zentral. Und es hat – toi, toi, toi! – alles funktioniert.“ Gemessen am Einsatz zu einer ‚normalen’ Buchmesse war es sicher nicht das umfangreichste Projekt von SHOW concept. „Für uns war es jedoch so etwas wie ein Ritterschlag, weil wir praktisch auf Mausklick alles abrufen mussten, was die Duplizität von ‚Präsenz’ und ‚Digital’ erfordert.“

Als Jörg Wagner 1966 in Lößnitz, am Fuß des Erzgebirges, geboren wurde, waren solche Events in etwa so weit entfernt wie die Mondlandung. Wagner wollte Lehrer für Polytechnik werden, eine Fächer-Kombination, die es so nur in der DDR gab. Jörg Wagner hätte also 1989 noch ein Studium an der damaligen TU Chemnitz draufsatteln müssen – da sein erster Sohn unterwegs war, entschied sich der werdende Vater für einen doppelten Sprung ohne Netz in den Kapitalismus und heuerte als Vertriebler bei einem Tabak-Konzern an. Nachdem er dabei auch Berührung mit Großveranstaltungen gemacht hatte, tat er sich mit seinem alten Schul-Kumpel Thomas Jähne zusammen – und gründete SHOW concept, die heute von beiden gemeinsam geführt wird; 1994 noch als Full-Service-Agentur in Chemnitz. Wenig später konzentrierte man sich auf die technische Umsetzung von Veranstaltungen, schaute sich auch jenseits des lokalen Tellerrands um – und wuchs durch Partnerschaften, etwa mit der PSR Mediengruppe. Im Jahr des WM-Sommermärchens 2006 gab es erste Zusammenarbeiten mit der Leipziger Messe, inzwischen darf sich die Firma mit 16 Mitarbeitern ganz offiziell als „Servicepartner“ von FAIRNET und Leipziger Messe. Seit 2015 hat SHOW concept, neben neu hochgezogenen Büros und einer Lagerhalle nahe der Leipziger Messe, eine feste Homebase direkt auf dem Messegelände.

Die Branche, in der Jörg Wagner mit seinem Team unterwegs ist, nimmt man natürlich wahr. „Aber viele denken: Die bauen ein paar Zelte auf und machen buntes Licht!“ Weit gefehlt – es gibt inzwischen jede Menge Standards, die zu beachten sind. Lange waren die Türen auch für Seiteneinsteiger wie Wagner und Jähne offen, seit 2002 gibt es strenge fachliche Qualifikationsvorschriften. „Von Woodstock bis dahin war High-Life“, lacht Wagner. „Inzwischen ist das Zertifikat der Standard.“ Jörg Wagner hat sich berufsbegleitend ständig weiterqualifiziert: Er ist Meister für Veranstaltungstechnik, hat sogar den Fachmeister für Veranstaltungssicherheit gemacht – und bildet in der Firma auch aus. Derzeit gehören vier Azubis zur Belegschaft. Neben dem Auf- und Abbau von Traversen, Licht, Ton und Video ist SHOW concept auch in die Planungstätigkeit der Messe und die Entwicklung von Sicherheitskonzepten involviert. Im Auftrag der FAIRNET können auch ganze Foren nebst Veranstaltungstechnik für Aussteller schlüsselfertig bereitgestellt werden; als Paradebeispiel hierfür gilt etwa die LVZ-Arena.

Lampenfieber kennt Jörg Wagner eher nicht; in der Veranstaltungs-Branche sprechen sie lieber von der „Ein-Fehler-Sicherheit“. Das heißt? „Sollte ein Fehler passieren – muss die Redundanz greifen.“ So hatte man in Pandemie-Zeiten mit mehr Personal geplant, um bei möglichen Corona-Fällen auf der sicheren Seite zu sein. Durch die Pandemie-Jahre, in denen die Branche insgesamt ziemlich gebeutelt wurde, ist SHOW concept vergleichsweise gut gekommen. Antizyklisch haben die Sachsen in Personal und Weiterbildung der Mitarbeiter investiert. Im letzten Jahr wurde sogar ein Fachinformatiker eingestellt. „Der Videotechniker aus den 1990er Jahren“, weiß Wagner, „muss heute Netzwerk können.“ Monitore, LED-Wände, dutzende Zuspielvarianten – IT spielt heute eine zentrale Rolle im Berufsalltag „Die Kunst der kommenden Jahre wird darin liegen, die Präsenz-Veranstaltungen, die wir alle lieben und für die wir brennen, zu perfektionieren. Und gleichzeitig im Digitalen weiterzukommen.“ Vor der Buchmesse Ende April, dem Neustart nach der Corona-Zwangspause, haben Wagner und seine Kollegen und Kolleginnen Respekt. Aber die Vorfreude ist allen bei SHOW concept, von den Chefs bis zum Lehrling, deutlich anzumerken. Sepp Herbergers goldenen Worte gelten natürlich auch hier: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“  

Eine Frau für alle Fälle

Eine Frau für alle Fälle

Wer schon einmal das Drehkreuz zwischen Pressezentrum und Halle 1 des Neuen Messegeländes passiert hat, ist der freundlichen Frau mit den sorgfältig frisierten rötlichen Haaren wahrscheinlich begegnet. Mit Sicherheit, ohne darüber groß nachzudenken. Wer indes nicht atem- und blicklos zu einem Termin hastet – mit einem Piepton wird der Strichcode des Messe-Ausweises gescannt – dem fällt auf, dass die Frau hier keinen Job herunterreißt. Sondern das, was sie tut, gern und mit Freude erledigt. Man merkt es an ihrem offenen Blick, einem Lächeln, der Art, wie sie Fragen beantwortet. Normalerweise geht ihre Schicht von neun bis 18 Uhr. Heute, am ersten Tag der Messe Partner Pferd hat Maria Rehm schon um 13 Uhr Feierabend – und wir sind in der Lobby des Verwaltungsgebäudes auf einen Kaffee mit ihr verabredet. 

Maria Rehm war Lohnbuchhalterin bei der Deutschen Reichsbahn; das Ost-Pendant zur Bundesbahn hieß zu DDR-Zeiten tatsächlich so. Nach der Vereinigung zur Deutschen Bahn AG wurde die Leipzigerin nach Dresden versetzt. „Jeden Morgen um 4 Uhr 52 mit dem ersten Zug zur Arbeit“, erinnert sie sich, „das war kein Zuckerschlecken“. Maria Rehm hat die Lohnunterlagen für Lokführer bearbeitet: „Der Ostdeutsche, der aus Leipzig nach München fuhr, hat damals 70 Prozent seines verbeamteten Kollegen aus München verdient.“ Die Bahn-Buchhalterin entschied sich für Altersteilzeit – und ging frühzeitig, aber mit Abschlägen in Rente. Um ihre nicht eben üppigen Bezüge aufzustocken, suchte sie einen Nebenverdienst. „Und wie eine Ruheständlerin habe ich mich schon gar nicht gefühlt.“ 

Durch den Tipp einer Freundin heuerte sie bei der Sicherheitsfirma an, die als Dienstleister auch für die Leipziger Messe tätig ist. Die Tätigkeiten sind abwechslungsreich: Sie ist bei der Eröffnung des Paulinums dabei und lernt alte Leipziger kennen, die die Sprengung der Universitätskirche auf Ulbrichts Geheiß am 30. Mai 1968 selbst erlebt haben. Sie arbeitet am Empfang der IHK, in der Kongresshalle am Zoo, hilft bei der Einkleidung von Messe-Hostessen oder an der Garderobe. Unsere „Frau für alle Fälle“ – so bezeichnen die Kolleginnen in der Firma Maria Rehm. In den 15 Jahren, die sie jetzt auf der Messe tätig ist, findet man sie mit Abstand am häufigsten am Drehkreuz. 

Liebt Begegnungen mit Autorinnen und Autoren: Maria Rehm (c)nk

Die Leipziger Buchmesse ist für Maria Rehm auf vielerlei Weise besonders: „Es sind mehr Medienleute da, als auf anderen Veranstaltungen. Und es wird deutlich mehr gefragt – nach Programmen, Leseorten, Parkschildern. Und auch schon mal nach dem nächsten Geldautomaten.“ Spannend sind auch die Begegnungen mit Autorinnen und Autoren: „Als Andrea Sawatzki hier durchkam, eine angenehm geerdete Person, habe ich mir für ihre Lesung freigeben lassen.“ Manchmal ist für die Frau vom Drehkreuz, wie sie lächelnd berichtet, auch Fingerspitzengefühl gefragt: „Wenn Sie mich nicht durchlassen, rufe ich den Messechef an – das habe ich durchaus schon gehört. Und wenn sich Presseleute schon vor der offiziellen Hallenöffnung zu Interviews verabredet haben, wird es auch schwierig. Mancher, der nicht an uns vorbeikommt, schimpft dann schon mal wie ein Rohrspatz. Ich versuche, die Bälle flach zu halten.“ Merke: Am Drehkreuz ist man immer auch ein wenig im diplomatischen Dienst. 

In Corona-Zeiten ruhte Maria Rehms Arbeitsvertrag – doch inzwischen ist sie längst wieder im Einsatz. Die Buchmesse Ende April soll für sie die letzte am Drehkreuz werden. Die Frau, der man ihre 73 Jahre nicht ansieht, hat ihre Abschluss-Runde sehr bewusst geplant. „Ich feiere im April Geburtstag. Und dann beginnt die Saison in unserem Gartengrundstück, ein kleines Paradies im Auwald zwischen Böhlitz-Ehrenberg und Lützschena. Der Garten wird mich auffangen.“ Ihre Freundinnen glauben nicht recht an den Messe-Abschied, auch Maria Rehms Mann traut dem Frieden noch nicht: Er hat vorsorglich für Mai einen Nordsee-Urlaub für sich und seine Frau gebucht. Und noch etwas wird in diesem Jahr anders sein: Während Maria Rehm 15 Jahre lang keine Zeit für ausgiebige Buchmesse-Entdeckungen hatte – sie musste ja arbeiten! – wird sie diesmal einen Tag frei nehmen. „Ich freue mich riesig darauf!“ 

„Mein Hof verbirgt, was ich tue“ 

„Mein Hof verbirgt, was ich tue“ 

Eine Autostunde von Salzburg, im oberösterreichischen Ohlsdorf, kaufte Thomas Bernhard 1965 einen Vierkanthof, sein erstes Haus. Dabei ging es ihm nicht um Repräsentation oder gesellschaftliches Leben. Der Schriftsteller hatte plötzlich die Möglichkeit der Rückkehr zu Wurzeln, die es eigentlich nie gab, die aber erträumt waren: „Mein Wunsch war schon immer gewesen“, so Bernhard, „ein Haus für mich allein zu haben und wenn schon kein richtiges Haus, so doch Mauern um mich herum, in welchen ich tun und lassen kann, was ich will, in welchen ich mich einsperren kann“.  

Für jeden Fiebergrad des Verlegers tausend Mark: Telefonieren in vor-digitalen Zeiten (c)nk

Legendär das Telefonat mit seinem Verleger: „Ich forderte von Unseld 40.000 Mark. Angeblich hatte Unseld zu diesem Zeitpunkt, wie seine Frau mir 19 Jahre später versicherte, 40 Grad Fieber gehabt. Ich forderte also damals, wie ich heute denke, für jeden Fiebergrad des Verlegers tausend Mark. Nach diesem Geschäft, das mich im Höchstmaß befriedigte und das zur Rettung meines Ohlsdorfer Narrenhauses notwendig war, fuhr ich nach Gießen, um einen Vortrag zu halten, und dachte die ganze Zeit, dass gute Geschäfte machen wenigstens so schön ist wie Schreiben.“ 

Bernhard, der Dandy im Hause Österreich? (c)nk

Wenn der Besuch Glück hat, führt Peter Fabjan, Bernhards Halbbruder und Ehrenpräsident der Thomas-Bernhard-Gesellschaft, über knarzende und schwindelerregend steile Stiegen durchs Haus und beantwortet geduldig auch noch die letzte Frage. Bis auf die, ob der erklärte Bernhard-Fan Michel Houellebecq bei seinem Besuch im Sommer 2019 eine rustikale Jacke des Dichters im Trachten-Stil als Devotionalie mitgenommen hat? Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab Fabjan 2021 jedenfalls zu Protokoll: „Seine Freude, an diesem Ort zu sein, hat sich unter anderem darin gezeigt, dass er eine Jacke anprobiert hat und, da sie ihm so perfekt passte, nicht mehr zurückgegeben hat, was toleriert wurde. Kein Entwenden!“

Handarbeit: Der Schreibplatz des Autors (c)nk

„Mein Hof verbirgt, was ich tue“, schrieb Bernhard im Dezember 1965 für „Die Presse“ in Wien: „Ich habe ihn zugemauert, ich habe mich eingemauert. Mit Recht. Mein Hof schützt mich. Ist er mir unerträglich, laufe ich, fahre ich weg, denn die Welt steht mir offen.“ Zu sehen ist heute in Ohlsdorf eine Art Privatkosmos der Täuschungen – als ob Bernhard ein Landadeliger gewesen wäre, ein Waidmann oder ein Maßschuh-Fetischist. Was sollen die Batterien von Spirituosen, die Rauchwaren-Reservoire für den Nichtraucher, die Gewehre für den Nichtschützen ohne Waffenschein? In der Garderobe Gummistiefel, Holzpantinen, rahmengenähte Halbschuhe, trachtengrüne Loden, jede Menge Gürtel und Hosenträger, Seidenkrawatten und raffinierte Harris-Tweeds. Am Traktor, vom Hausherrn nur alle Jubeljahre bestiegen, ist eine Plakette befestigt: Thomas Bernhard, Bauer zu Nathal.

Gewehre für den Nichtschützen ohne Waffenschein (c)nk

Das Bernhard Haus

A-4694 Ohlsdorf, Obernathal 2, thomasbernhardhausnathal@hotmail.com

Öffnungszeiten: Im Juni, Juli, August, September Sa., So. und Feiertag von 14 – 18 Uhr; April, Mai und Oktober nach Vereinbarung. 

„Ein Haus für mich allein…“ (c)nk

Lesetipps: 

Peter Fabjan: Ein Leben an der Seite von Thomas Bernhard. Ein Rapport. Suhrkamp, Berlin 2021. 195 Seiten, 24 Euro. 

André Heller (Hrsg.): Thomas Bernhard: Hab & Gut. Das Refugium des Dichters. Brandstätter, Wien 2019. 175 Seiten, 35 Euro.  

Karl Ignatz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. Residenz, Wien und Salzburg 2014. 592 Seiten, 35 Euro.