Geht nicht? Gibt’s nicht!

Geht nicht? Gibt’s nicht!

Messe-Köpfe, Folge 2: In loser Folge stellen wir Ihnen an dieser Stelle vor, wer hinter den Kulissen in Leipzig die Fäden zieht. Heute: Anja Kösler, Koordinatorin der „Leipzig liest“-Veranstaltungen in der Stadt.

Gefragt, wie die große Festival-Wundermaschine „Leipzig liest“ mit inzwischen rund 3200 Veranstaltungen und fast ebenso vielen Mitwirkenden Jahr für Jahr fast reibungslos in Schwung kommt, muss Anja Kösler nicht lange nachdenken: „Eigentlich“, sagt sie, „geht es wie überall darum, die richtigen Leute zusammenzubringen“. Kösler stieß im Spätsommer 2012 zum Buchmesse-Team, um sich in der Nachfolge von Jutta Schaarschmidt um die Koordination aller nicht auf dem Messegelände stattfindenden „Leipzig liest“-Veranstaltungen zu kümmern. Den Buchmesse-Jahrgang 2013 durchlief sie noch an der Seite der Frau, bei der seit Anfang der Neunziger die organisatorischen Strippen des Lesefests zusammenliefen. „Das halbe Jahr mit Jutta war toll. Sie wusste genau, wie die Leute vor Ort ticken. Und sie kannte alle – vom Kneipen-Besitzer bis zur Stadtteil-Bibliothekarin. Ich habe extrem viel gelernt.“ Seit 2014 betreut Anja Kösler mit ihrer Assistentin Doreen Rothmann und in enger Abstimmung mit „Leipzig liest“-Programmleiterin Gesine Neuhof die Verlage und Festival-Partner in der Stadt bei ihren Veranstaltungen.

Die heiße Planungsphase beginnt für Anja Kösler im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse. Bis Ende November können sich die Aussteller – via Datenbank oder im direkten Kontakt mit dem Messe-Team – anmelden; Mitte Februar wird das Programm auf der Buchmesse-Website freigeschaltet. Bis alles passt, vergehen ungezählte Stunden am Feintuning. „Unsere Arbeit reicht von der Rolle des klassischen Location-Scouts über die Vermittlung zwischen lokalen Veranstaltern und Verlagen bis zum Bau ganzer Programm-Segmente“, erklärt Kösler, „und genau diese Vielseitigkeit ist spannend“. Die Atmosphäre eines Ortes möglichst punktgenau mit den Wünschen der Verlage zur Deckung zu bringen – das ist die Herausforderung, der sich das kleine Team jedes Jahr neu stellt. Auch ausgefallene Ideen treffen auf offene Ohren. Geht nicht? Gibt’s nicht!

Runde sechs Monate, die Hälfte des Jahres, hält der Buchmesse-Job Anja Kösler in Atem. Für ihr zweites Standbein hat die Freiberuflerin ein altes Faible zur Geschäftsidee gemacht: Gemeinsam mit einem Freund hat sie in Lindenau, einem jener im Umbruch befindlichen Leipziger Stadtteile, das „Möbelkombinat“ eröffnet. Ein Laden, in dem Kösler Design-Preziosen aus der DDR der 60er und 70er Jahre verkauft – und hin und wieder auch Ausstellungen befreundeter Künstler organisiert. Vor allem Möbel aus den Deutschen Werkstätten Hellerau haben es ihr angetan. Die Sideboards und Schränke, die der Chef-Gestalter Franz Ehrlich damals entwarf, erfreuen sich gerade bei Studenten und jungen Familien, die sich heute im Kietz ansiedeln, wachsender Beliebtheit. „Mitte der Sechziger war Ehrlich für einige Jahre Chefarchitekt der Leipziger Messe“, lacht Kösler. „Das passt doch.“ Wer allerdings glaubt, dass sich Anja Kösler in den Sommermonaten ganz ausschließlich dem „Möbelkombinat“ widmet, ist schief gewickelt. „Mein Leipzig liest-Radar ist nie ganz ausgeblendet.“ Eine interessante Location, die das Lesefest bereichern könnte, wartet vielleicht schon hinter der nächsten Ecke? Wer für „Leipzig liest“ brennt, macht keine halben Sachen.

Bildquelle: Nils Kahlefendt

Anja Kösler, Jahrgang 1974, studierte nach einer kaufmännischen Lehre Verlagswirtschaft an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK). Nach Positionen in Redaktion, Vertrieb und Marketing beim Klett Schulbuchverlag wechselte sie 2009 zum Klett Kinderbuchverlag. Seit 2013 koordiniert sie für die Leipziger Buchmesse die „Leipzig liest“-Veranstaltungen außerhalb des Messegeländes. Anja Kösler hat eine fast 18jährige Tochter; sie lebt in Leipzig.

„Wir brauchen das ernsthafte Gespräch“

„Wir brauchen das ernsthafte Gespräch“

Zuwanderung und Integration sind die Themen der Stunde, gerade in Leipzig: Mit „Europa21“ kuratiert die Literaturkritikerin Insa Wilke für die Robert Bosch Stiftung und die Leipziger Buchmesse 2016 einen „Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen“.

Gedruckte oder elektronische Medien, zahllose Podien quer durch die Republik: Zu den Themen Zuwanderung und Integration scheint einem manchmal schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Was hat Sie gereizt, das Programm „Europa21“ zu konzipieren?

Insa Wilke: Wir glauben, dass es bei sehr vielen Menschen ein Bedürfnis nach sachlicher, unaufgeregter Analyse gibt. In den Medien, den Politiker-Debatten und Talk-Shows überlagern sich momentan sehr viele Themen und Interessen. Unser Anliegen ist es, mit unseren Gästen und dem Publikum ein lautes Denken zu beginnen. Es kommt dabei darauf an, die Fragen präzise zu formulieren und Gäste einzuladen, denen es nicht um Positionen und Profilierung geht, sondern um ein gemeinsames Nachdenken darüber, was gerade passiert, welche Fragen sich stellen und wie mit ihnen umzugehen ist.

Sie haben Anfang 2015 mit dem Literaturhaus Stuttgart die Reihe „Flüchtlingsgespräche“ organisiert, die ziemliche Wellen geschlagen hat…

Wilke: Wir waren völlig überrascht und erfreut vom großen Zuspruch. Das meine ich mit dem Bedürfnis nach Sach-Informationen, einem gemeinsamen lauten Denken: Wir hatten zum Beispiel Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa, eingeladen, die aus erster Hand berichten konnte. Solche Veranstaltungen bieten eine Form öffentlicher Auseinandersetzung, die manche Menschen im Bundestag und in den Talk-Shows vermissen.

Was ist Ihr konzeptioneller Ansatz für Leipzig?

Wilke: Das durch Wissen fundierte, ernsthafte Gespräch. Konkret wird es drei Elemente geben: Zum einen die sechs Diskussionsrunden im „Café Europa“, die uns wichtig erscheinende Fragen aufgreifen: zum Beispiel die nach der Flüchtlingspolitik in den einzelnen europäischen Ländern oder nach Hintergründen und Zusammenhängen des Bürgerkriegs in Syrien oder die nach der Rückkehr der Religion. Der zweite Baustein ist eine Abendveranstaltung mit Wissenschaftlern und Politikern im Neuen Rathaus. Hier ist uns wichtig, dass auch das Publikum mitspricht, darum ist die Frage offener gestellt. Außerdem war uns wichtig, diejenigen einzubeziehen, um die es ja auch geht, jene, die gerade ihre Heimat verlassen mussten und nun mit den Auseinandersetzungen konfrontiert sind, die wir in Deutschland und Europa führen. Um ihnen Stimme und Gesicht zu geben, wird es im Eingangsbereich der Glashalle Hörstationen geben, in denen Asylsuchende von ihrem Leben vor dem Krieg erzählen. So bekommt man eine Vorstellung von dem ganz normalen Alltag aus dem diese Menschen gerissen wurden.

Der triste Flüchtlings-Alltag findet wenige Meter vom Messetrubel statt: Bis vor wenigen Wochen diente die Messehalle 4 als Erstaufnahme, inzwischen leben noch mehrere hundert Asylsuchende in provisorischen Unterkünften auf dem Messegelände….

Wilke: Genau das war ein Anlass für dieses Projekt und die Kooperation von Robert Bosch Stiftung und Leipziger Buchmesse. Wichtig dabei ist – und daran muss man immer wieder erinnern –, niemanden zu instrumentalisieren und vor allem nicht zu gefährden. Wir haben unter unseren Gästen einige, die selbst aus ihrer Heimat fliehen mussten oder deren Familien ins Exil gehen mussten, die aber schon eine Weile in Deutschland leben.

Die „Grenzschließer unter den Intellektuellen“, wie sie Herfried Münkler kürzlich in der „Zeit“ nannte, werden nicht mitdiskutieren – warum?

Wilke: Ein Anliegen von „Europa21“ ist, ganz klar, Haltung zu zeigen. Die andere Frage ist: Was will man mit diesen Gesprächen erreichen? Wir glauben, dass eine inszenierte Konfrontation zu nichts führt. Bei solchen sogenannten Streit-Gesprächen, wie sie oft in Talk-Shows stattfinden, gibt es am Anfang zwei Positionen, die allen klar und bekannt sind, und am Ende gibt es diese Positionen ganz genauso. Uns geht es um eine sinnvolle Erörterung einer sehr komplexen Situation – nicht um eine Profilierung von Positionen. Wir haben unser Projekt „Denk-Raum“ genannt, weil diese Debatten um die Gesellschaft, in der wir in Zukunft leben wollen, ja nach vier Messetagen nicht abgeschlossen sein werden. Wir haben die Chance, einen Prozess mitzubestimmen und mitzugestalten, der uns alle betrifft. Und diesen Prozess, der eben auch ein internationaler, zumindest europäischer sein muss, wollen wir unterstützen.

Die Literaturkritik fordert gern mehr Gegenwärtigkeit von der Literatur; aktuell sind Flucht und Vertreibung, die Erfahrungen mit Exil und Fremde die Themen der Stunde. Welchen Büchern in diesem Kontext wünschen Sie besonders viele Leser?

Wilke: Es fällt mir schwer, einzelne Titel hervorzuheben. Sie haben recht, natürlich ist es ein aktuelles Thema. Andererseits ist es eines, das die Schriftstellerinnen und Schriftsteller schon lange Jahre beschäftigt: die Auseinandersetzung mit Exil, Emigration, den Schwierigkeiten, in einer anderen Gesellschaft anzukommen und aufgenommen zu werden. Das Thema gibt es nicht erst seit Sommer 2015. Gelesen habe ich gerade Michael Köhlmeiers Roman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ (Hanser). Dann bin ich gespannt auf den philosophischen und sprachkritischen Debütroman von Senthuran Varatharajah: „Vor der Zunahme der Zeichen“ (S. Fischer). Shida Bazyar („Nachts ist es leise in Teheran“, KiWi), die in Hildesheim Literarisches Schreiben studiert hat und heute in Berlin lebt, hat eine über vier Jahrzehnte reichende Familiengeschichte geschrieben, Abbas Khider erzählt in „Die Ohrfeige“ (Hanser) von der Konfrontation mit der deutschen Bürokratie. Sie sehen: Es gibt ganz unterschiedliche Formen, von diesem Thema zu erzählen.

Insa Wilke, geboren 1978 in Bremerhaven, lebt als Publizistin und Literaturkritikerin in Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2012 war sie Programmleiterin am Literaturhaus Köln. 2014 wurde sie mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet.
www.insawilke.de

Das Interview mit Insa Wilke ist im Börsenblatt erschienen.

Foto: Frank Mädler

Loslesen!

Loslesen!

Was Leipzig liest bedeutet, habe ich leibhaftig so richtig erst erfahren, als wir mit Klett Kinderbuch zum ersten Mal einen eigenen Stand auf der Leipziger Buchmesse hatten. Vorher war Leipzig liest für mich natürlich auch schön: die vor Literatur vibrierende Stadt, Lesungen an den unmöglichsten Orten, Gespräche mit wildfremden Menschen in der Straßenbahn über Autoren, Bücher, Verlage … dieses unverwechselbare „Wir alle schwimmen in Literatur“- Gefühl, das man an den Messetagen in dieser Stadt erlebt wie nirgendwo sonst. Aber am eigenen Stand erlebte ich die Bedeutung dieser zwei Wörter noch einmal neu. Leipzig kam, setzte sich hin und las. Nicht ganz Leipzig, das ist klar. Aber komplette Leipziger Familien, mit zwei, drei oder vier Kindern. Eine hat mich besonders beeindruckt. Angeschmiegt von beiden Seiten und auf dem Schoß sitzend, ließen sich die Kinder in aller Ruhe von ihrem Papa ganze Bücher vorlesen, eins nach dem anderen. Ich hatte derweil Gespräche, Termine an anderen Orten, ich war mal auf Toilette – wenn ich zurückkam, saßen sie immer noch da. Bis alle Bücher ausgelesen waren. Im nächsten Jahr kamen sie wieder und lasen wieder alles durch. Leider sind sie jetzt zu groß geworden und kommen nicht mehr. Auch unser Programm ist größer geworden – es wäre jetzt schwierig, alle unsere Titel hintereinanderweg zu lesen. Aber dieses Leipzig-liest-Bild hat mich durch die erste Zeit begleitet: Wir sind mit Klett Kinderbuch genau in der richtigen Stadt gelandet.

Monika Osberghaus, Jahrgang 1962, arbeitete als Buchhändlerin, studierte Kinderliteratur und betreute zehn Jahre die Kinderbuchseiten der F.A.Z. Heute ist sie Verlegerin von Klett Kinderbuch. Sie lebt mit Mann und Sohn in Leipzig.

Leipzig liest – ich auch

Leipzig liest – ich auch

Dass Leipzig liest, weiß eh jeder, und ich, quod erit demonstrandum, auch. Und noch etwas weiß jeder, ich auch, ich hab es nur nicht ernst genommen: Dass nämlich, wenn der Messetag vorüber ist, der schlechteste Moment ist, um in die Straßenbahn Richtung Stadt zu steigen. Dann ist die nämlich wie zur Rushhour in Tokio. Ich tat es trotzdem und hatte das unverdiente Glück, in dem Totalgedrängel noch einen Klappsitz zu erwischen. Auf dem saß ich also, die Tüte mit Büchern und Prospekten zwischen den Knien und direkt vor mir eine sehr schöne Frau, die mit dem Herrn, der neben mir saß, sich sehr lebendig in einer Sprache unterhielt, die ich absolut nicht erkennen konnte. Eine Weile ergötzte ich mich an dem Rätselraten und dem Klang, dann zog ich einen Gedichtband aus der Tüte, den mir am Nachmittag ein befreundeter Verleger in die Hand gedrückt hatte. Ich fing an zu lesen (s. o.). Es dauerte nicht lange, da beugte sich die Schöne über meinen Scheitel und sagte: „Da lesen sie aber gerade ein sehr schönes Buch.“ Und ich: „Ehe Sie mir das erklären, verraten Sie mir bitte, in welcher Sprache ihr beide geredet habt.“ „Albanisch“, sagte sie, und jetzt wusste ich auch (das erklär ich ein andermal), woher sie das Buch kannte. Bis zum Hauptbahnhof unterhielten wir uns über das Wunder des Gedichts, wie viel Kunst und Welt und Leser-Ich da auf knappstem Raum zueinander finden. Wir merkten das eigene Glück am Anderen, und Schöneres kann es kaum geben.

Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt/Main, aufgewachsen in Eckernförde an der Ostsee, war lange Jahre Lektor und Geschäftsführer des Residenz Verlags in Salzburg. Im Jahr 2000 gründete er dort den eigenen Verlag Jung und Jung.

Ganz Leipzig lauscht, wenn Leipzig liest

Ganz Leipzig lauscht, wenn Leipzig liest

Ich wohne nicht einfach in Leipzig. Ich wohne wahlweise in der Bachstadt, der Messestadt, der Autostadt, der Wasserstadt oder der Sportstadt. Das ist manchmal ein bisschen ermüdend. Denn es kommen immer noch neue Titel und Namen hinzu. Ganz aktuell: Die am schnellsten wachsende Großstadt Deutschlands. Einen Superlativ gibt es allerdings, den kann man gar nicht oft genug erwähnen: Leipzig liest – das größte Lesefest Europas. Das größte Lesefest in Verbindung mit der Buchmesse der Herzen – das ergibt bei mir zusammen ungefähr so viel Vorfreude wie Geburtstag und Weihnachten zusammen bei meinen Kindern. Aber auch die Tage vor und nach Leipzig liest bleiben literarisch geprägt: Über das ganze Jahr wirken viele junge Literaturmacher und eine Vielzahl kleiner und mittlerer Verlage in Leipzig. Nicht umsonst bekam Leipzig in den Medien den Beinamen: „Ungekrönte Königin der jungen deutschsprachigen Literatur.“ Leipzig wird erfolgreiche Literaturstadt bleiben, weil der Standort viel früher als alle anderen auf das wichtigste Thema der Branche gesetzt hat: Literaturvermittlung. Ganz Leipzig lauscht eben, wenn Leipzig liest.

Claudius Nießen, geboren 1980 in Aachen, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, dessen Geschäftsführer er seit 2008 ist. Unter dem Label Clara Park entwickelt er Literaturveranstaltungen und berät öffentliche Einrichtungen, Stiftungen und Unternehmen in Fragen der Kunst- und Kulturförderung. Die von ihm betreute Lange Leipziger Lesenacht ist einer der Magneten von Leipzig liest.