Die Aussagekraft eines „Bestseller“-Stickers ist in Rumänien relativ. Bei durchschnittlich verkauften Auflagen von 800 bis 1000 Exemplaren (im Non-Fiction-Bereich sind die Zahlen etwas höher) kann man sich bereits ab der dreifachen Menge über einen veritablen Kassen-Hit freuen. Natürlich gibt es internationale Star-Autoren und einheimische Schriftsteller-„Marken“, die deutlich darüber liegen. Mircea Cărtărescus 2016 veröffentlichter Roman „Solenoid“, der im Herbst 2019 auf Deutsch erscheint und bislang in 10 Länder lizensiert wurde, ging bis heute mehr als 20.000 Mal über den Tresen.
Cătălin Mihuleac, dem mit „Oxenberg & Bernstein“ (Zsolnay) in seiner Heimat ein – umstrittener – Bestseller gelungen ist, hält die Auflagenhöheallerdings für eines der bestgehütetsten Geheimnisse des Landes: „Eher bekommen sie die Telefonnummer der Geliebten des Verlegers als Auskünfte über die Buchverkäufe.“ Mumpitz, meint Mihai Mitrica, Chef des Verlegerverbands. Natürlich gebe es Normverträge, auch in Rumänien. Und wie sieht es mit den Honoraren für Autoren aus? Mihuleac zuckt mit den Schultern: „Den Löwenanteil bekommt man anfangs, das ist in etwa so viel wie das Loch in einer Brezel.“
Im Fall von Mihuleacs Bestseller, 2014 bei Polirom erschienen und inzwischen in mehreren Auflagen vorliegend, muss es schon ein gewichtiges Backwerk gewesen sein. Schlecht dran sind häufig die Übersetzerinnen und Übersetzer. „Mit drei Euro für eine Normseite von 2000 Zeichen“, so meint die Autorin und Übersetzerin Lavinia Braniște, „liegen wir ungefähr auf dem Level von Mazedonien“. Braniștes Roman „Null Komma Irgendwas“, 2016 in Rumänien ausgezeichnet, erscheint zur Buchmesse bei Mikrotext.
In Rumänien werden rund 20 Millionen Bücher pro Jahr verkauft, theoretisch eines pro Einwohner. Doch die Zahl der aktiven Leser ist weitaus geringer. Bei einem Durchschnittslohn von etwa 500 Euro bleibt wenig Geld für Lektüre übrig – davon profitiert auch mancher Straßenkiosk mit billigen Gebrauchtbüchern. Von den offiziell gelisteten mehr als 6000 Verlagen sind praktisch weniger als 100 mit eigenem Portfolio und konsistenter Strategie auf einem Markt unterwegs, der ein Volumen von rund 60 Millionen Euro hat. Zum Vergleich: Der rumänische Blumen-Markt bringt es auf gut 200 Millionen. Klingt fast nach dem schönen, alten Vergleich, nach dem der deutsche Buchmarkt so viel umsetzt wie Aldi Süd. Und in Rumänien?
„Von den 36.000 ISBN-Nummern, die jährlich von der Nationalbibliothek aufgenommen werden, finden Sie nur 9000 im normalen Buchhandel“, ärgert sich Mihai Mitrica, Chef des Verlegerverbands. „Die anderen 27.000 sind ‚Geister-Bücher’, schlechte Kompilationen, für die nicht selten auch noch Fördermittel ausgereicht werden“. Mitrica nennt das „legale Buch-Piraterie“. Besteht Hoffnung auf Besserung? Zumindest für den ein oder anderen korrupten Politiker oder Geschäftsmann, wie uns der Chef des Verlegerverbands berichtet. Die Geschichte klingt bizarr: Erfreulicher Weise geht die Justiz in Rumänien hart gegen einheimische Oligarchen vor. Doch seit 2013 erhalten Häftlinge, die ein wissenschaftliches Werk verfassen, 30 Tage Straferlass. Seitdem steigt die Zahl der Knast-Wissenschaftler sprunghaft. Die Palette reicht von Titeln wie „Die Finanzkrise der rumänischen Presse“ des Zeitungsverlegers Sorin Rosca Stanescu bis hin zu „Freiheitsübungen“ des Ex-Ministerpräsidenten Adrian Nastase.
Es wird viel und bemerkenswert gut geschrieben in Rumänien – aber hierzulande kaum gelesen. Liegt das an der oft zitierten „Randlage“? Wenn sich der Westen hinter der Rede von „Kerneuropa“ verschanzt, klingt das in den Ohren von Andrei Pleșu, in den 90ern rumänischer Kultur- und Außenminister immer wie: „Ich Tazan – du Jane. Wobei wir natürlich Jane sind.“ Ist das moderne Rumänien der Westen des Ostens oder der Osten des Westens? „Wir könnten“, ist Pleșu überzeugt, „eine wichtige Brückenfunktion in Europa übernehmen“. Noch immer wird das Land vom brain drain ausgezehrt, vier Millionen sind seit der Wende gegangen, zu viel für ein Land mit 20 Millionen Einwohnern.
Pleșu hat mit seinem von Wolf Lepenies und dem Berliner Wissenschaftskolleg inspirierten New Europe College eine Miniatur-Schweiz mitten in Bukarest geschaffen; zumindest für die gebeutelte Wissenschaft ein Tropfen auf den heißen Stein. 1994 begann man in dem leer stehenden, Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Schweizer Gemeinschaftshaus bescheiden mit fünf rumänischen Stipendiaten, inzwischen gibt es längst auch ausländische Fellows. „Rumänien ist 2007 in die EU eingetreten“, sagt Pleșu. „Mit diesem Haus sind wir schon 1994 der europäischen Forschungs-Union beigetreten“.
Kaum zu glauben, aber wahr: Die nächste Buchmesse im März wird für Stephi Lejsek, seit 14 Jahren Projektassistentin im Messeteam, die letzte sein. 14 Mal Reinhängen mit ganzer Kraft, 14 Mal Mitfiebern, Überstunden, Herzklopfen kostenlos. Und jetzt? Lejsek, 62, hat lange überlegt und sich, statt gleitender Altersteilzeit, lieber für den „harten Schnitt“ entschieden. Es gibt ein Leben neben, eines nach der Messe. Auch wenn das lange nicht so aussah.
Leipzig im Ausnahmezustand
Stephi Lejsek ist seit 42 Jahren im Unternehmen. 1976 kam sie zur Messe, nach Abitur und ersten Schritten in ein Studium, mit dem sie nicht glücklich wurde. Für Lejsek ein Jahr des Neustarts, in der „Vervielfältigung“ der Messe, der heutigen Hausdruckerei. Zu jener Zeit werden Pressemeldungen noch mit Wachsmatrizen auf Ormig-Papier vervielfältigt. Stephi Lejsek absolviert eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann und wechselt ins Personalbüro der Messe; Dienstort ist das ehemalige, heute wieder nobel herausgeputzte Hôtel de Pologne Leipzig in der Hainstraße. Sie gehört zu jenen Mitarbeiterinnen, die Aushilfskräfte für die Messe vermitteln; in Spitzenzeiten sind das an die 4000 – von der Reinigungskraft über die Standhilfe bis zum Aufzugfahrer. Die Messewochen im Frühjahr und Herbst erlebt Lejsek damals als kompletten Ausnahmezustand. „Die Stadt vibrierte. Die Hainstraße war Kopf an Kopf voller Menschen, voller Leben.“
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…
Es geht seinen Gang, könnte man, mit Erich Loest, sagen. Und es geht gut, sehr gut sogar. Stephi Lejsek wird zwei Mal Mutter, 1986 nimmt sie, berufsbegleitend, ein Ökonomie-Studium auf. Die andere, heute schon wieder in Vergessenheit geratene Seite des DDR-Alltags. „Ich wollte im Beruf noch ein bisschen weiterkommen. Das bedeutete jede Woche einen Tag Schule, gelernt habe ich an den Wochenenden, quasi gemeinsam mit den Kindern – die Kleine war sechs, der Große neun.“ Ihren Abschluss macht Lejsek im Februar 1991 bereits nach bundesdeutschem Recht, die DDR ist Geschichte. Eine verrückte Zeit der Neuorientierung, auf allen Gebieten. „Ich war der festen Überzeugung, dass es weitergehen muss“, erinnert sich Lejsek, „dass man die älteste Messe der Welt nicht einfach so im Boden versenken kann“. Der Umbau des Unternehmens in einzelne Fachmessen hält die Belegschaft in Atem; alle müssen sich neu bewerben. Lejsek dockt als Assistentin bei der Modemesse an; im Sommer 2006 ist auch dieses Kapitel abgeschlossen.
Im Mahlstrom der Daten
Mit dem nötigen Quäntchen Glück landet Stephi Lejsek schließlich bei der Buchmesse. Sie fühlt sich vom ersten Tag an aufgehoben im Team, der Job macht ihr Spaß. Und: buchaffin ist sie sowieso. „Wegen der vielen Bücher“, lacht sie, „sind wir sogar mal im Musikviertel umgezogen“. Im Arbeitsalltag obliegt ihr der Service rum um „Leipzig liest“, Hauptaufgabe ist die Betreuung der immer umfangreicher werdenden Datenbank. „2000 Aussteller und rund 3500 Veranstaltungen wollen bewältigt werden.“ Bei den Modemessen hatte sie es mit 500 Ausstellern zu tun. Lejsek hat sich, wie so oft, eingefuchst. „Man merkt gar nicht, wie die Jahre vergehen.“ Aber wie heißt es doch: Wenn’s am Schönsten ist… Das Wort „Unruhestand“ scheint jedenfalls für eine wie Stephi Lejsek erfunden worden zu sein. Gemeinsame Reisen mit ihrem Mann, ein großer Garten, vier Enkelkinder – jede Menge selbstbestimmte Zeit. Als Besucherin bleibt sie „Leipzig liest“ erhalten, jetzt erst recht: „Ich freue mich darauf, dass ich die Buchmesse mal unbeschwert genießen darf.“
Mehrsprachig aufgewachsen machte der 1988 in Frankfurt am Main geborene Autor und Journalist Mohamed Amjahid bisher unter anderem Station bei der taz, dem Tagesspiegel, den Kulturwellen der ARD und Al Jazeera. Bis Dezember 2017 war er Reporter und Redakteur beim ZEITmagazin in Berlin. Im Januar wechselte Amjahid in das Ressort Politik der ZEIT.
Herr Amjahid, Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel „Unter Weißen. Was es heißt privilegiert zu sein“ veröffentlicht. Was heißt es denn?
Privilegien können vielfältig sein. Nehmen Sie das Thema Mobilität. Wenn Sie einen roten europäischen Pass besitzen, müssen Sie sich keine Gedanken über den Wechsel ihres Arbeitsplatzes oder eine Urlaubsreise ins Ausland machen. Ohne einen solchen roten Pass endet der Lebens-, Arbeits- und Urlaubshorizont an den Grenzen des Geburtslandes. Nicht alle mit einem roten Pass sind weiß, aber fast alle Europäer mit weißer Hautfarbe haben einen roten Pass. An die weiße Hautfarbe wurden mit der Zeit immer mehr Privilegien geknüpft. Wir beide führen hier am Bahnhof in Hamburg das Interview. Achten die Polizisten auf Sie, eine Frau mit weißer Hautfarbe, oder auf mich, ein junger Mann mit nicht-weißer Hautfarbe? Racial profiling beeinflusst selbstverständlich meinen Alltag und den aller erkennbar Nicht-Biodeutschen. Ebenfalls historisch gewachsen fallen bis heute die wichtigsten Entscheidungen in Deutschland und in Europa in männlich dominierten Gremien und Zirkeln. So gesehen ist es in weiteres Privileg ein Mann zu sein. Und diese Reihe könnte weiter fortsetzet werden. Im Übrigen ist es das größte Privileg, dass die Privilegierten ihre Privilegien gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, weil sie so selbstverständlich erscheinen.
Wie würden Sie Ihre Lebenssituation unterm Strich beschreiben?
Als Reporter der größten deutschen Wochenzeitung, als Autor und als Kurator von Europa21 bin ich ein überaus privilegierter Mensch. Allerdings habe ich meine Privilegien als Sohn marokkanischer Migranten nicht ererbt, sondern hart erarbeitet.
Welchen Einfluss hatten oder haben diese Erfahrungen auf ihren beruflichen Werdegang?
Als Kind wuchs ich in Deutschland und Marokko auf. Die krassen Unterschiede zwischen den Lebensumständen in den beiden Ländern haben mich schon als Jugendlichen politisiert. Ich wollte verstehen, warum die Ressourcen und Freiheiten so ungerecht verteilt sind. Gleichzeitig liebe ich es zu schreiben, mir Gedanken in möglichst unterhaltsamen Texten zu machen. Was liegt da näher als Artikel und Bücher zur politischen Entwicklung in Nordafrika, dem Nahen Osten und Europa zu schreiben?
Sie beschreiben im Buch Ihre Sicht auf Deutschland. Sind die Privilegien innerhalb Europas nicht sehr unterschiedlich verteilt?
Sicher! Neben gemeinsamen Privilegien, gibt es viele Unterschiede, die von den regionalen Geschichtsverläufen und Erfahrungen abhängen. Die Andersmachung von Minderheiten, Migranten oder Flüchtlingen nimmt zum Beispiel europaweit zu, hat aber in Ländern mit großer und langer Kolonialgeschichte wie etwa Frankreich eine andere, viel massivere Ausprägung als zum Beispiel in Ungarn und selbst unter jemandem wie Viktor Orbán. Ich bin deshalb ein Fan davon, alles auch in einem regionalen Kontext zu betrachten.
Sie sind in diesem Jahr der Kurator des Programmschwerpunkts Europa21 der Robert Bosch Stiftung und der Leipziger Buchmesse. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt?
Als politischer Reporter bin ich viel unterwegs und treffe Menschen, die oft ganz andere Meinungen oder Perspektiven haben als ich. Es ist ein großes Privileg, ein Programm zu gestalten, indem die Vielfalt der europäischen Stimmen in ein echtes, aber konstruktives Streitgespräch zur Sprache kommen, einen Austausch über Europa ermöglicht, der frei von politischen Zwängen ist, von nationalen Egoismen und vor allem von europäischer Überheblichkeit. Denn wir hören uns im Regelfall in Europa zu wenig zu und setzen uns noch weniger miteinander ernsthaft auseinander. Zur Leipziger Buchmesse können wir alle Europa21 gemeinsam mit unseren internationalen Gästen als Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen nutzen, konstruktiv über die verschiedenen Interpretationen der Vergangenheit und die unterschiedlichen Visionen für die Zukunft streiten.
Wie werden Sie im Unterschied zu ihren beiden Vorgängerinnen den Denk-Raum gestalten?
Die diesjährige dritte und letzte Auflage des Programms Europa21 sehe ich als Fortsetzung der Arbeit meiner beiden Vorgängerinnen Insa Wilke und Esra Kücük. Aufbauend auf der Frage nach dem Wir in Europa vom letzten Jahr, möchte ich gemeinsam mit den Teilnehmern und den Gästen der Leipziger Buchmesse diskutieren, ob wir in Europa wirklich die besten sind und unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft weltweit exportieren sollten. Ich setze in der Auswahl der Streitenden stärker auf gegensätzliche Meinungen, auf die Vielfalt der europäischen Stimmen. Auf das Künstlerduo Various & Gould und ihre plakative Auseinandersetzung mit Identität und Klischees freue ich mich besonders. Dank der Plakate Identikits können wir auch die Leipziger und ihre Gäste im Stadtraum in den Denk-Raum miteinbeziehen und hoffentlich zum Nachdenken anregen. Ich bin sehr gespannt auf die kommenden Messetage und freue mich sehr auf den Austausch.
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