Ahoj! Der Schlagersänger Karel Gott ruft es seinen Fans zu, der fast ebenso berühmte kleine Maulwurf von Zdeněk Miler führt es im Munde und, na klar, von Spejbl und Hurvínek kennen wir’s auch. Das Wörtchen ist nicht so lax wie „Hi!“, weniger förmlich als „Guten Tag“, eigentlich entspricht es ziemlich genau dem deutschen „Hallo“. Erklärungen, warum das maritime Signalwort gerade im Binnenland Tschechien zum allgegenwärtigen Gruß werden konnte, gibt es, Achtung Kalauer, wie Sand am Meer: Manche sagen, tschechoslowakische Seeleute hätten ihn in den 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts aus Hamburg mitgebracht. Nach einer anderen Theorie geht die Verbreitung auf tschechische Jugendliche und Studenten zurück, die in den 1920er Jahren in einer Art Wasser-Wandervogelbewegung das Kanufahren auf südmährischen und böhmischen Flüssen popularisierten. Am Ende ist der Gruß, wie die auf Shakespeares „Wintermärchen“ zurückgehende Formel von „Böhmen am Meer“, wohl die trotzig behauptete, melancholisch grundierte Projektionsfläche eines utopischen Idealzustandes, wie er in Ingeborg Bachmanns Gedicht oder in Texten von Franz Fühmann und Hans Magnus Enzensberger bis Volker Braun auch durch die deutschsprachige Literatur geistert. „Das Meer ist unser dauerhafter Sehnsuchtsort“, sagt Ilja Šmíd, Kulturminister der Tschechischen Republik. „Und es ist ein Ort, zu dem wir Tschechen immer wieder gerne aufbrechen, natürlich mit Büchern in der Hand – so dass es in Tschechien stattdessen ein ‚Meer an Büchern‘ gibt.“
Fast folgerichtig also, dass der tschechische Gastlandauftritt bei der Leipziger Buchmesse 2019 unter dem Motto „Ahoj Leipzig!“ steht. Die vier Tage im kommenden März sind der Höhepunkt eines ganzen Kulturjahrs, das vom tschechischen Kulturministerium (Prag) und der Mährischen Landesbibliothek (Brno) mit zahlreichen Kooperationspartnern vom Herbst 2018 bis zum Herbst 2019 organisiert. Natürlich steht die breite Präsentation neuer tschechischer Bücher und ihrer deutschen Übersetzungen im Mittelpunkt. Mehr als 50 Autorinnen und Autoren werden im kommenden Jahr nach Leipzig reisen – neben hierzulande bereits etablierten Schriftstellern wie dem jüngst mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichneten Jaroslav Rudiš, werden auch spannende Comiczeichner wie Jaromír Švejdík (Jaromír 99) oder hochinteressante Stimmen der jüngeren tschechischen Literatur wie die 1970 in Prag geborene Bianca Bellová in Leipzig erwartet. „Viele dieser Autoren werden im nächsten Jahr Neuerscheinungen in deutscher Sprache präsentieren können“, erklärt Martin Krafl, Projektkoordinator des Gastlandauftritts. „Ihre Werke geben einen profunden Einblick in die aktuelle tschechische Gesellschaft und repräsentieren alle Bereiche der literarischen Szene.“ Zu erleben sind sie am Tschechischen Stand in Halle 4, an einer Kinder- und Jugendliteratur-Ausstellung in Halle 2, in der Tschechien Lounge der Glashalle und an zahlreichen „Leipzig liest“-Orten. Bereits am Dienstag vor der Messe wird im Leipziger Literaturhaus Pavel Kohout erwartet. Der 1928 geborene Autor gilt als einer der Wortführer des „Prager Frühlings“ und ist Mitverfasser der „Charta 77“. Anlässlich von Kohouts Besuchs plant das Literaturhaus eine Ausstellung zu Leben und Werk. Weil die Programm-Macher nicht allein auf die Kraft der Literatur setzen, sondern darüber hinaus an die Synergie-Effekte anderer Kunst-Sparten glauben, wird es im Rahmen des Kulturjahrs auch Konzerte, Foto- und Designausstellungen, Filmprogramme und ein Opern-Gastspiel geben.
Die Leipziger Stadtbibliothek etwa wartet mit Porträts zeitgenössischer tschechischer Literaten auf, die der Ausnahmefotograf Karel Cudlín über Jahre hinweg geschossen hat. Cudlín, 1960 im Prager Arbeiterstadtteil Žižkov geboren, zählt zu den Großen der tschechischen Fotografie. Bekannt geworden ist er mit Reportagen über die Zeit der Samtenen Revolution und mit seinen eindrucksvollen Reportagen über die Ukraine und Israel. In den 1990er Jahren begleitete er für einige Zeit den Präsidenten Václav Havel als offizieller Fotograf. Deutschen Leserinnen und Lesern sind Cudlíns Schwarz-Weiss-Fotografien aus Tschechien, Polen der der Kaukasusregion aus dem Band „Unterwegs in den Osten“ (Starfruit 2011) bekannt; die Aufnahmen sprechen von der Herrschaft des Kommunismus, von archaischen Landschaften, von Armut und Not – aber auch von gesellschaftlichen Veränderungen und Reservaten der Menschlichkeit. In der Tschechien Lounge wird die Plastik „Quo vadis“ des Prager Künstlers David Cerny (*1967) zu sehen sein – jener berühmte Trabi auf vier massiven „Elefantenbeinen“, der an die Hunderte von DDR-Zweitaktern erinnert, die Ausreisewillige im Spätsommer 1989 in der Umgebung der bundesdeutschen Botschaft in Prag zurückließen. Das Original von Cernys Kunstwerk steht übrigens in Leipzig – in der Sammlung des Zeitgeschichtlichen Forums.
Sie teilen gern, und sie tun es mit unnachahmlicher Herzlichkeit: Nicht erst seit dem Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2016 ist Literatur aus Flandern und den Niederlanden in Deutschland höchst populär. Die Publikums-Messe in der Buchstadt Leipzig hat für Holländer und Flamen traditionell einen ganz besonderen Stellenwert, wenn es um die Durchsetzung neuer, spannender Autoren und Illustratoren auf dem deutschsprachigen Markt geht. Im März 2018 wurden die guten Beziehungen auf ein neues Qualitätslevel gehoben: Erstmals reisten Niederländer und Flamen mit einem eigenen Stand nach Leipzig.
Das Beste beider Welten
In Halle 4 war die gute, alte Analog-Welt und das innovative digitale Experiment vereint: Das Atelier Parade – drei niederländische und eine flämische Illustratorin – entwarf messetäglich kunstvolle Umschlag-Alternativen für deutsche, niederländische und flämische Klassiker. Die vor Ort produzierten Originale wurden in einem Risographen vervielfältigt und kostenlos ans Messepublikum verteilt – die Blätter wurden den Künstlern förmlich aus der Hand gerissen.
Wortschatzkiste
Darüber hinaus gab es im März eine Menge Neues aus den Grenzbereichen der Literatur zu entdecken: Mit der interaktiven Wortschatzkiste lassen sich Gedichte niederländischer und flämischer Autoren erpuzzeln. Bei der Lösung hilft dem Leser das Design: Alles hat seine je eigene Farbe und Form – egal, ob Verben und Substantive, lange oder kurze Wörter. Zusammen bilden sie Muster, die Einblicke in die Struktur des Gedichts und den Stil des Autors gewähren. „Puzzling Poetry“ [www.studiolouter.nl] ist ein mobiles Game für Smartphone oder Tablet und kann in niederländischer, englischer und deutscher Sprache gespielt werden. Gleichzeitig gehört es zu den ersten in Europa produzierten Literaturspielen für junge Erwachsene.
Betreutes Dichten
Mit ihrer interaktiven App „Poesiemaschine“ erkunden der Schriftsteller Mark Boog und der Designer John van der Wens die Grenze zwischen Poesie und automatisch generiertem Text. Dabei zeigt sich, das Algorithmen unter der Anleitung eines Dichters sehr wohl dazu in der Lage sind, die schönsten Verse zu produzieren. Die Idee ist einfach: Auf Knopfdruck entsteht ein persönliches Gedicht zu einem individuell gewählten Foto – beides kann über Soziale Medien geteilt werden.
Fiktive Wirklichkeit
Die Virtual-Reality-Installation „Tischgeheimnis“ entführt die Zuschauer in die Welt der neunjährigen Lena und ihres Vaters. Während Lena ein Eulengewölle seziert, wird ihr Vater von seinen Erinnerungen aufgesogen. Sie bleiben stumm, befinden sich jedoch auch in einer Art ‚Gespräch’ miteinander: Ohne es zu wissen, denken beide auf ihre je unverwechselbare Weise über dasselbe nach. Als Zuschauer steckt man im Kopf des Vaters oder in dem Lenas – und wird mit den beiden unterschiedlichen Perspektiven auf Phänomene wie Erinnerung, Leben und Tod vertraut gemacht. „Tischgeheimnis“ ist ein Konzept von Sara Kolster, die es in enger Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Jaap Robben und Studio Zesbaans entwickelt hat.
Zwischen Gaming und Literatur
Die literarische Dating-App „Herzensjäger“ katapultiert den User ohne viel Federlesen in den Briefwechsel mit Violet – einer Figur aus den Romanen des Bestsellerautors Arnon Grunbergs. Entworfen wurde das vielleicht schönste Sprachspiel der Niederlande für Smartphone und Tablet von Arnon Grunberg, der Amsterdamer Verlagsgruppe Singel und der Society of Play. Entstanden ist ein charmantes Experiment, das Gaming und Literatur zusammenbringt. Mit der App werden neue, interaktive Formen der Literaturvermittlung ebenso erprobt wie neue textbasierte Spielformen. Das Leipziger Publikum war begeistert – sowohl vom Auftritt der 12 niederländischen und flämischen Autoren, die sich am Messestand wie auf diversen städtischen Bühnen von „Leipzig liest“ präsentierten, wie auch von den innovativen Projekten der Gäste, die zeigten, was alles passieren kann, wenn sich die Literatur mit der digitalen Revolution verbindet. Tot ziens in Leipzig, Nederland en Vlaanderen!
Aus zahlreichen und unterschiedlichen Gründen wird mir die Leipziger Buchmesse lange in Erinnerung bleiben. Grundsätzlich werde ich sie immer mit meinem Roman verbinden. Interior zero wurde dieses Jahr von Manuela Klenke ins Deutsche übersetzt und vom mikrotext Verlag aus Berlin veröffentlicht. Eine Reihe von Premieren für viele der Beteiligten: Für mich war es der erste Roman, für Manuela das erste übersetzte Buch und für den Verlag das erste Hardcover. Zum ersten Mal kam ich in Kontakt mit den deutschen Medien. Der Auftakt lag bereits vor der eigentlichen Messe: Seit November 2017 reisten deutsche Journalisten unterschiedlicher Zeitungen, Radio- und TV-Sender nach Rumänien, um die Schriftsteller zu treffen, die nach Leipzig kommen würden.
Bei dieser Gelegenheit konnte ich die Mechanismen der Präsenz beobachten: Wie ein Image kreiert wird, welch große Rolle die Synchronisierung spielt und der Umstand, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Die Veröffentlichung meines Romans ein Jahr früher oder später hätte den besonderen Anlass der Leipziger Buchmesse mit dem Schwerpunkt Rumänien verpasst – und dadurch auch die Förderung vom Rumänischen Kulturinstitut, was letztlich ausschlaggebend für die Veröffentlichung war.
Die Leipziger Buchmesse war die erste internationale Messe, zu der ich eingeladen wurde. Mit steigender Ungeduld wartete ich darauf, je öfter ich die deutschen Journalisten in Bukarest traf. In Rumänien werden auf den Buchmessen Bücher verkauft. Der Hauptgrund, warum die Leser dann eine solche Messe besuchen, ist, dass sie Bücher zum Sonderpreis direkt vom Verlagsstand kaufen. Neuerscheinungen werden zwar auch vorgestellt, aber immer sehr knapp und in einem eher unangenehmen Rahmen, da beim Verlagsstand der Platz nicht ausreicht und die Zuschauer stehen müssen, teilweise in dem Gang zwischen den Ständen, in einer lauten Geräuschkulisse und eventuell noch von anderen Passanten geschubst.
Das waren die Bilder, die ich von Veranstaltungen auf einer Buchmesse vor Augen hatte. Kleine Bemerkung am Rande: Meine Schriftsteller-Freunde und ich nennen ironischerweise die Bukarester Messen (die zweimal jährlich, im Mai und im November, beim Romexpo-Ausstellungszentrum stattfinden) „Das Fest des Buches”. Selbstverständlich haben unsere Messen auch ihren eigenen Charme; es ist wunderbar, Menschen zu sehen, die Trolleys voller Bücher hinter sich herziehen, es ist wunderbar, Kartons mit Büchern für 1 LEU (entspricht 20 Cent) durchzustöbern und dort kleine Schmuckstücke zu finden, Bücher, die in den Läden nicht mehr käuflich sind.
Seitdem ich das erste Mal das Messegelände in Leipzig betreten habe, hat „Das Fest des Buches” eine andere Bedeutung für mich. Kurz vor zehn war ich schon da, wurde von einem Beauftragten des rumänischen Standes empfangen, der mich an den Sicherheitskräften vorbeibrachte und ihnen sagte, dass ich Autorin sei und ein Event habe. Als ich in die Hallen voller Bücher eintrat, während alles geordnet und vorbereitet auf den Eröffenungsgong wartete, fühlte ich mich wie ein Kleinkind, das zum ersten Mal ein Süßwarengeschäft betritt. Mein größtes Bedauern war, dass ich nicht ausreichend Deutsch kann – ein bisschen verstehe ich, so viel man braucht, um auf der Straße nicht zu verhungern, aber ich kann keine Literatur lesen, höchsten kann ich die Minus Drei Bücher mit dem Wörterbuch entziffern.
Der rumänische Stand hat mir gefallen und mich gleichzeitig gerührt, auf eine Art und Weise, die schwer zu erklären ist. Er war der Stand einer Auseinandersetzung unter den anwesenden Autoren und in der rumänischen Presse. Ich selbst war zu müde um noch über den 1989-Augenblick, Ceaușescu und die Überreste der kommunistischen Mentalität im heutigen Rumänien zu sprechen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich fast 30 von meinen 35 Jahren in einer Welt, aus der Ceaușescu verschwunden war, gelebt habe, habe ich im Gespräch mit der deutschen Presse ein bisschen zu viel darüber geredet. Und trotzdem rührte mich dieser Stand, so wie die abstrakte Idee eines Gefängnisses einen rühren kann, irgendwo am Ende der Welt, neben einem unendlich schwarzen Vorhang.
Bei dieser Buchmesse habe ich zum ersten Mal auf ein Bild von mir mit dem Marker ein Autogramm gegeben. Und es war das erste Mal, dass ich mitansehen musste, wie die Übersetzung meines Buches gestohlen wurde. „Das ist ein gutes Zeichen”, sagte mir die Verlegerin fröhlich. Ich schaute in den Büchereien der Stadt nach meinem Buch. Ich trug auf der Straße die blaue Tragetasche mit dem Claim Zoom in Romania. Und ich spürte eine Art Stolz, die ich noch nie auf einer anderen Reise in ein europäisches Land verspürt habe.
(Aus dem Rumänischen übersetzt von Manuela Klenke)
Fotos: Tom Schulze/LBM, Adi Bulboacă (Lavinia Braniște)
Lavinia Branişte wurde 1983 in Brăila, im Südosten Rumäniens, geboren. Sie lebt in Bukarest, wo sie als Literaturübersetzerin arbeitet. Sie veröffentlichte zwei Sammlungen mit Kurzgeschichten Cinci minute pe zi (Fünf Minuten am Tag, 2011) und Escapada (Eskapade, 2014), einen Roman (Interior zero, 2016) und drei Kinderbücher. Einige ihrer Kurzgeschichten wurden ins Englische, Französische, Portugiesische, Kroatische und Bulgarische übersetzt. Interior zero wurde mit dem Preis „Nepotul lui Thoreau“ („Thoreau’s Neffe“) als der beste rumänische Roman im Jahr 2016 ausgezeichnet. Unter dem Titel Null Komma Irgendwas erschien die deutsche Ausgabe von Braniştes Romandebüt im Frühjahr 2018 bei mikrotext.
Es war erst meine zweite Buchmesse überhaupt und dann durfte ich gleich als Kurator des politischen Schwerpunkts #Europa21 mitbestimmen, wohin die Reise 2018 in Leipzig ging. Doch aus ganz persönlicher Sicht hat die Buchmesse mit einer für mich sehr irritierenden Szene angefangen. Ein wichtiges Thema war in diesem Jahr die Meinungsfreiheit, die in vielen Ländern dieser Welt akut bedroht oder missachtet wird. Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, ergänzte diese Debatte mit einem pointierten Statement auf der Auftaktpressekonferenz. Ich wunderte mich schwer, als auf dem Podium behauptet wurde, dass es in Deutschland Tabus gäbe, dass man nicht über alles sprechen könne. Und natürlich stellte ich dazu eine Nachfrage. Woraufhin Skipis die (stets allgegenwärtige) „Flüchtlingsfrage“ als Beispiel nannte. Man könne da nicht sagen, was man wolle, behauptete er.
Als Buchautor, Journalist und Kurator weiß ich, dass diese Ansicht die imaginierte Realität einer einzelnen Person darstellt. Sechs Monate hatte ich zusammen mit dem Team der Leipziger Buchmesse und der Robert Bosch Stiftung an einem Programm gearbeitet, das zeigt, dass man im Rahmen des Grundgesetzes in Deutschland wirklich alles sagen und leider auch behaupten kann. Nach dieser Pressekonferenz war es also an der Zeit – mit Haltung und Fakten – alles zu den Themen Armut, Gerechtigkeit, Solidarität und auch Identität auf den Tisch zu packen.
Um jede nur mögliche Denkrichtung und politische Position auf dem Podium zu repräsentieren, habe ich als Kurator Dutzende Einladungen an Autor/innen aus ganz Europa verschickt. Meistens trudelten danach von rechten und rechtskonservativen Autor/innen Absagen in meinen Posteingang. Ich vermute, dass sich vor allem diese Gruppe nicht wirklich mit anderen Argumenten auseinandersetzen möchte. Dabei hatte ich schon in der künstlerischen Begleitung von #Europa21 deutlich gemacht, dass es mir um einen fairen, konstruktiven und unterhaltsamen Austausch ging und geht. Als Kurator war ich von Anfang an überzeugt, dass das bessere Argument auf der Bühne gewinnen würde. Als Moderator und Kurator sagte ich mir während der Buchmesse immer wieder in den Leipziger Hallen: Mohamed, habe keine Angst vor der Konfrontation, denn sie kann nur gut ausgehen.
Das Highlight des Programms waren für mich ohne Frage also die Europa-Duelle im Zeitgenössischen Forum in der Innenstadt von Leipzig. Wie bei allen anderen Veranstaltungen waren alle Plätze im Publikum belegt. Im Rahmen von „Leipzig liest!“ ließ ich als Kurator entgegengesetzte Welten aufeinanderprallen. Was macht die Zukunft Europas besser? Fragte ich mit Absicht sehr offen auf dem Podium den Documenta-Chef Adam Szymczyk und die konservative Autorin Aleksandra Rybińska. Die beiden übernahmen dann quasi den Rest des Duells. Die Femen-Aktivistin Zana Ramadani stritt danach mit der stellvertretenden Chefredakteurin der taz, Katrin Gottschalk, über die feministische Ausrichtung europäischer Politik. Und in diesem Geist erlebte ich alle anderen Streitgespräche, die unzähligen Diskussionen mit dem Publikum und die Auseinandersetzungen abends bei Wein und Käse.
Dieses Programm auf die Beine zu stellen war viel Arbeit. Ohne das Team der Buchmesse und der Robert Bosch Stiftung hätte ich es inhaltlich und organisatorisch nicht geschafft, so viele verschiedene Gäste nach Leipzig einzuladen, sie zu betreuen und sie zum konstruktiven Streit zu animieren. Am letzten Tag von #Europa21 wäre das ganze Programm fast ins Wasser gefallen, eher in den Schnee. Leider habe ich den Namen der wahren Heldin der Leipziger Buchmesse 2018 nicht notiert. Es war am Messesamstag einfach zu hektisch, dabei hat sie ein sehr gut besuchtes Podium mit ihrem Einsatz gerettet. An dieser Stelle möchte ich mich bei der Leipziger Taxifahrerin bedanken, die sich spontan bereit erklärte, unsere in Bitterfeld gestrandete Referentin Danae Sioziou abzuholen und in letzter Minute nach Leipzig zu bringen. Und das obwohl Taxen in Leipzig an diesem Tag zum begehrtesten Gut geworden waren. Wegen des Bahnchaos mussten viele Menschen dieses Jahr auf einen Besuch der Leipziger Buchmesse verzichten. Das Programm von #Europa21 konnten wir aber auch dank der Solidarität dieser einen Taxifahrerin realisieren. Diese Frau ist ein Vorbild für ganz Europa.
Eröffnungsfeier. Leider kommen wir, der Aufbau hat länger gedauert, zu spät – und müssen erstmal vor der Tür warten, bis nach einer Rede applaudiert wird, erst dann dürfen wir in den Saal. Wir warten lange mit dem Saaldiener, es ist peinlich. Dennoch werden wir belohnt: Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geht an Åsne Seierstad, ihre Dankesrede, die sie auf Deutsch hält, lässt nichts zu wünschen übrig. Dem Nationalismus muss man entgegentreten, muss erkennen, dass die Hassrednerinnen und Attentäter sich in unserer Mitte radikalisieren, so wie Anders Breivik, der „Einer von uns“ war, wie Seierstads Buch klar macht.
Anschließend gibt es einen Empfang, die Stimmung ist gut, fast besser als die Jahre zuvor. Gerade auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus den Indie-Verlagen. Angesichts der Warnmeldungen, die die Branche gerade erschüttert haben, eigentlich merkwürdig. Denn in den Monaten vor der Messe wurde ein schreckliches Bild gezeichnet – pro Jahr verliere der Buchhandel rund eine Million Kundinnen und Kunden, so hieß es. Bei der Eröffnungsfeier ist von alledem nichts zu spüren, eher eine leichte Heiterkeit. Fast scheint es, dass sich die Verlegererinnen und Verleger, auch die unabhängigen, erst unter dem gewachsenen Druck aufrichten können, gelöst aus einer Schockstarre oder aus der gramgebeugten Haltung der letzten Jahre. Es ist kein Abschiedstanz auf der Titanic, der hier stattfindet, nein, diese Leute wollen weiter wirken.
Heiter, mit Haltung
Die folgenden Messetage sind dann ebenfalls überraschend heiter, es herrscht rund um die Leseinsel der jungen Verlage und um das Leseforum „Die Unabhängigen“, das die Kurt Wolff Stiftung mit der ARGE, SWIPS und der Leipziger Buchmesse betreibt, eine gelöste Fröhlichkeit. Die Kolleginnen und Kollegen lächeln so schön, in allen Hallen.
Und sie zeigen Haltung. Viele haben sich der Aktion #verlagegegenrechts angeschlossen, andere demonstrieren individuell ihre Liberalität und ihre Abneigung gegen das Dumpfdenken. Lediglich ein paar sensationslüsterne Journalistinnen und Journalisten trifft man, die fragen, wann es denn endlich zu Geschubse oder Schlägereien kommen wird. Doch die schon vorab herbeigeschriebene große Konfrontation bleibt aus. Die rechten Buchverlage sind in einer Ecke, dort schmollen eine Handvoll um das „Volk“ konkurrierender „Führer“ auf wenigen dutzend Quadratmetern. Ich sehe die rechte Ecke nur einmal, als ich das Autorenpaar Manja Präkels und Markus Liske abhole, das mir Buchkisten aus Berlin mitgebracht hat. Und es ist beinahe lustig – die Rechten starren verbittert vor sich hin, wenn sie niemanden haben, den sie indoktrinieren können.
Bücher im Praxistest
Dabei hätten sie doch eigentlich in dem von ihnen herbeifantasierten Volk suhlen können, denn die Hallen sind gut gefüllt – an den ersten beiden Tagen. Wir Indies wissen das sehr zu schätzen, in Leipzig gibt es immer gleichzeitig Fachpublikum und interessierte Leserinnen und Leser, man kann seine Bücher also auch außerhalb der engen Branchengrenzen, im wirklichen Leben, testen. Interessierte kommen diesmal verstärkt, auch von „Fachfremden“ werden „Fachfragen“ gestellt. Es zeigt sich, dass die Bemühungen um die Leseförderung, die gute Gestaltung, die Wahrnehmung von guten Stoffen (inhaltlich wie physisch), kurzum also um die Bibliodiversität Früchte getragen haben. Es wird nach Bindungen geschaut und über Papiere wird geredet, dem guten Text wird wieder zugebilligt, dass er auch gut verpackt sein sollte. Und auch fällt auf – es wird weniger über zu hohe Buchpreise geklagt, Qualität soll wieder seinen Preis kosten dürfen.
Indie Hall of Fame
Bei der Verleihung der Kurt-Wolff-Preise an die Edition Rugerup (Förderpreis) und den Elfenbein Verlag (Hauptpreis) ist dies auch bemerkbar. Der Laudator Stefan Weidle schwärmt in seiner schönen Rede von der Qualität der Texte wie der Ausstattung der Bücher und preist den Mut der Verlegerin Margitt Lehbert (Edition Rugerup) und Ingo Držečnik (Elfenbein Verlag). Elfenbein-Mitbegründer Roman Pliske, der den Verlag verließ, da der der Ertrag für zwei nicht reichte, leitet übrigens inzwischen den Mitteldeutschen Verlag (der wie immer einen der schönsten Verlagsstände auf der Messe hat), auch dieser Verlag gehört dem Freundeskreis der Kurt Wolff Stiftung an – sage folglich niemand, die Indies ernähren die ihren nicht.
Reden wir über Geld!
Auf dem bücher.macher-Podium und andernorts wird immer wieder, manchmal sogar heftig, über die Düsseldorfer Erklärung und den darin geforderten Preis für Verlage – analog zum Deutschen Buchhandlungspreis – diskutiert. Nicht alle unabhängigen Verlegerinnen und Verleger sind mit der Erklärung einverstanden, denken lieber an Wirtschaftsförderung oder zumindest an die ebenfalls in der Erklärung geforderte Senkung der Förderschwellen. So oder so aber herrscht in einem Punkt Einigkeit – dass die Kunststiftung NRW erkannt hat, dass das Verlegen ein künstlerischer Akt ist, ist zu begrüßen. Und dieser Akt sollte auch honoriert werden.
Drinnen Bücherfrühling, draußen Wintereinbruch
Nach zwei Tagen aber schlägt dann die Kaltwetterfront zu, die die Boulevardmedien als „Russenpeitsche“ zu benennen wissen, es ist wirklich elend kalt. Die Deutsche Bahn versagt gleich ganz. Unsere Autorin Anke Stelling kann nicht zurück nach Berlin, so geht sie mit uns feiern, wir freuen uns, dass sie nun einen Tag länger vor Ort bleiben muss. Danke, Russenpeitsche! Denn auch die Partys sind schön, nur ist es am Wochenende schwierig, in unsere kleine Messewohnung am Nordplatz zu kommen, Taxis sieht man nur selten, der öffentliche Verkehr ruht teilweise. Doch selbst das tut der guten Stimmung keinen Abbruch.
Als Eike Sanders, Kirsten Achtelik und Ulli Jentsch ihr Buch über die Verknüpfungen der „Lebensschutz“-Bewegung mit der extremen Rechten vorstellen, erwarten wir Störungen aus dieser Ecke, doch die bleiben wie bei fast allen #verlagegegenrechts-Veranstaltungen weitgehend aus. Stattdessen findet sich, selbst an den eisigen Tagen, immer ein interessiertes, ich möchte sagen, waches Publikum ein. Und dieses Publikum verteidigt seinen Wissendurst couragiert. Als führende Rechte bei einer Veranstaltung dazwischenrufen, bittet eine ältere Dame ebenso freundlich wie nachdrücklich um Ruhe, sie wolle hier zuhören – und die braune Elite trollt sich, geduckt wie geprügelte Hunde.
The Kids are allright
Finden lässt sich dieses große Interesse an Literatur UND Wissen auch bei den Jugendlichen, die auch, aber nicht nur die Manga-Halle bevölkern. Als die Nominierungen zum Jugendliteraturpreis bekanntgegeben werden – Manja Präkels ist eine der Nominierten – stellen auch die Jugendjurys die von ihnen erwählten Bücher vor. Es sind Texte, die sich mit unserer Gesellschaft auseinandersetzen – und es sind allesamt literarische Texte. Die Jugendlichen zeigen in kurzen Spielszenen, worum es bei ihren Favoriten geht. Ein aufgeregter Junge hat einen Texthänger, alle soufflieren ihm, niemand will lästern, niemand muss grinsen. Es ist wunderschön zu sehen. Mich als Vorstand der Kurt Wolff Stiftung freut es selbstverständlich auch, dass auch die Bücher aus den Programmen der unabhängigen Verlage deutlich vertreten sind. Aber, die Klage ist bekanntlich des Kaufmanns (und des Vorstands) Gruß: Das kann noch besser werden! Nachher frage ich Jurymitglieder, ob sie bei der Wahl geholfen haben, doch diese verneinen, nein, seit ein paar Jahren wollen die Kids wieder mehr Politik, wieder mehr hochwertige Literatur lesen, das sei einfach so. Vielleicht haben die Initiativen der vergangen Jahre ja auch bei den Jüngsten verfangen. Vielleicht waren hier die Buchhandlungen als Vermittler tätig? Hallt so langsam etwa der Indiebookday nach?
Lesen, tanzen, feiern
Das frage ich mich, während ich feiere. Zunächst die Literatur und jene, die sie erschaffen. Denn die Lesungen, die Lange Leipziger Lesenacht L3 in der Moritzbastei und die UV, die Lesung der unabhängigen Verlage – unsere Romandebütantinnen Jovana Reisinger und Bettina Wilpert stellen dort ihre ebenso feministischen wie literarischen Texte vor – das alles funktioniert sensationell gut, das Publikum geht begeistert mit. Nicht dass es je wirklich leer war, doch die Zahl der Anwesenden steigert sich offenkundig. Die Leipzigerinnen und Leipziger gieren sichtlich nicht nur nach mehr Unterhaltung, nein, sie wollen mithilfe der Literatur die Welt verstehen. Dazu braucht es allerdings gute, meinethalben sogar nachhaltige Literatur.
Unterhaltung gibt es auch viel – allemal auf den Partys, dem Independence Dinner im Chinabrenner, der Party der Jungen Verlage oder unserer Samstagsparty in der Kulturapotheke – in letzterer, einer wirklich liebevoll restaurierten Apotheke, die heute als Bar und Buchhandlung fungiert, ist es trotz des Schnees rappelvoll. Und auch hier wollen die Leute genauso gern diskutieren, wie sie feiern wollen. Nur kommt das Taxi nicht. Egal, dann eben noch ein Bier!
Für Sie an der Bar…
Es sei eine politische Messe gewesen, heißt es am Sonntag. Eine literarische war es aber auch, man verzeihe mir das Wort, es war sogar eine literarischere. Die unabhängigen Verlage müssen sich immer weniger rechtfertigen für ihr Tun, ihre Arbeit wird geschätzt, ihre Programme werden honoriert. Und das nicht nur mit Preisen und Lobesworten, nein, sie sind in den Fokus des breiten Publikums gerückt.
Ich bin, bevor wir abbauen, noch eingeteilt an der schönsten Theke auf dem Messegelände, im Loungebereich des Forums „Die Unabhängigen. Die Kolleginnen und Kollegen kommen auf einen letzten Kaffee vor der Autobahn vorbei, oder auf eine letzte Weißweinschorle, bevor es in die Bahn geht. Alle sind bestens gelaunt, obwohl weniger Messegäste da waren, die Umsätze nicht immer berauschend waren, die Beine wehtun. Sie sind nicht nur froh, dass sie nun nach Hause kommen, sie sind auch froh, dass sie hier waren. Die Stimmung ist ja immer recht gut in den letzten Messestunden, so gut aber war sie selten. Und sie überträgt sich auf alle, die nicht von Hass verdorben sind. Es ist eine politische Messe gewesen, eine literarische, ja, vor allem aber eine schöne Messe – die Unverwüstliche rufen daher nach dem Schlussgong nach einer „Zugabe“.
Und das nicht nur im Scherz.
Fotos:Franziska Frenzel, Jens-Ulrich Koch, Tom Schulze, Kurt Wolff Stiftung
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