Ein bisschen augenzwinkernd beschreibt sich Fabian Dreist als „Potterhead, Buchnerd, Comicgeek und Serienjunkie“. Seit 2013 ist der 27jährige Kölner, der im Einzelhandel arbeitet, mit dem eigenen Blog Herr Booknerd am Start. Eine befreundete Illustratorin sorgte für die gelungene Gestaltung. „Ich lese ohne Scheuklappen. Warum sich selber Grenzen setzen und Bücher von vornherein ausschließen? Wenn mich etwas anspricht, schnapp’ ich mir das!“ Ganz schön dreist? Ach was! Herr Booknerd schreibt einfach über alles, was ihn interessiert – von Belletristik über Graphic Novels und Manga bis zu Cartoon- und Anime-Serien, gelegentlich auch über Filme. Der Ton ist sympathisch hemdsärmelig und selbstironisch; als Leser fühlt man sich dennoch ernst genommen, wie ein guter Kumpel. Aktuell liest er „Saint Young Men“, eine Comic-Serie von Hikaru Nakamura, einem seiner Lieblings-Autoren. Schon die Story ist abgefahren – Buddha und Jesus nehmen eine Auszeit auf der Erde und bewohnen eine Zweier-WG in Tokyo. In Sachen Fantasy mag Dreist eher Bücher, die etwas böser, schwärzer, „erwachsener“ daherkommen – eben „mehr Story, weniger Lovestory“. Unerreicht etwa George R.R. Martins Saga „Das Lied von Eis und Feuer“, Vorlage für den HBO-Dauerbrenner „Games of Thrones“. Die Hahnenkämpfe zwischen „Literatur“- und „Buchbloggern“ findet Herr Booknerd eher überflüssig: „Wer braucht diese Diskussion? Statt nach Unterschieden zu graben, sollte man eher das Verbindende suchen – und das wäre ja wohl die Liebe zu Büchern.“
Phantastische Geschichten sind im März wie gewohnt im Fantasy-Bereich der Buchmesse in Halle 2 zu erleben: Neben zahlreichen Ausstellern, Fantasy-Leseinsel und Phantastik-Lounge können Leser ihre aktuellen Lieblingstitel in einer eigens eingerichteten Fantasy-Buchhandlung kaufen.
buchmesse:blogger: Die Szene der Literatur- und Buchblogger wird jedes Jahr zunehmend größer, vielfältiger, aber vor allem professioneller. In der Bloggerlounge der Leipziger Buchmesse in Halle 5 können akkreditierte Bloggerinnen und Blogger Interviews führen, die Community treffen und in Ruhe schreiben oder posten.
Forscher haben die deutsche Jugend lange mit wenig schmeichelhaften Attributen belegt – sie sei desinteressiert, unideologisch, pragmatisch. Nun scheint die Null-Bock-Phase überwunden – hat sie das überrascht?
Klaus Hurrelmann: Nein. Wir wissen, dass es Zyklen hohen und niedrigen Interesses gibt, das gilt auch für politisches Interesse. Wir hatten hier um 1990 eine Hochkonjunktur bei der jungen Generation. Es war durchaus bitter zu sehen, wie das politische Interesse danach absackte, mit einem Tiefpunkt Mitte der Nullerjahre. Junge Leute sind äußerst sensibel, was ihre Zukunftsperspektiven angeht. Wenn sich die wirtschaftlichen Konstellationen verbessern, kommt immer in der jungen Generation mehr Hoffnung, mehr Perspektivität auf.
An der Verdrossenheit mit der Art, wie Politik gemacht wird, hat sich nichts geändert?
Hurrelmann: Die Studien zeigen, dass bei den jüngeren der Befragten – das sind die 12- bis 16-jährigen – das politische Interesse zwar ansteigt. Es fehlt jedoch die Bereitschaft, in die traditionellen politischen Konturen der Meinungsbildung und Machtausübung einzutreten: Man möchte nicht Mitglied einer Partei werden, fremdelt auch mit den bestehenden parlamentarischen Strukturen. Wir haben es mit einer Generation zu tun, der diese etablierten Systeme demokratischer Entscheidungsfindung und Machtausübung verkrustet und veraltet vorkommen.
Dennoch bejaht der Nachwuchs in seiner großen Mehrheit unsere Demokratie…
Hurrelmann: Zum Glück! Die Einschätzung der Demokratie als solcher ist sogar noch mal positiver geworden. Insofern haben wir es mit einer gespaltenen Sicht der jungen Leute zu tun: Demokratie ja, politische Beteiligung sogar mit wachsender Tendenz – aber eine Suche danach, welche Form diese einnehmen kann.
Wie engagieren sich junge Menschen heute, wenn sie sich denn engagieren?
Hurrelmann: Auf den Straßen sehen wir sie kaum, das ist auffällig. Sie haben durchaus Interesse an spontanen Meinungsäußerungen. Das können auch mal Demos sein. Es geht aber meist um Dinge, die im eigenen Umfeld liegen, wie etwa Proteste gegen die Studiengebühren.
Man möchte nicht „Teil einer Jugendbewegung“ sein, wie die Hamburger Popband Tocotronic einst sang?
Hurrelmann: Wenn man sich einmischt, spielt sich das mehr auf den Kommunikationskanälen ab, die die jungen Leute heute lieben: Das sind Netzwerke, digitale Kanäle wie Facebook. Da werden auch Meinungen ausgetauscht. Aber auf einem Niveau, das nicht typisch für eine repräsentative Demokratie ist. Sondern mit „Likes“ und spontanen Zustimmungen. Die jungen Leute sind auch dabei, wenn es darum geht, etwas in ihrem Umfeld zu organisieren. Der Schwerpunkt liegt da auf sozialem Engagement. Sie selbst empfinden das aber nicht als „politisch“; es dient dazu, ihre eigene Situation zu beeinflussen und zu steuern. Wir haben es gewisser Maßen mit einer suchenden Generation zu tun.
Überraschend positiv auch besetzt ist Deutschland als Nation: 62 Prozent der Jugendlichen sagen „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“. Bereitet Ihnen das nicht ein mulmiges Gefühl?
Hurrelmann: Wir haben natürlich lange gezögert, solch eine Frage aufzunehmen, haben uns aber schließlich dafür entschieden. Ich gehöre der 68er-Generation an; wir hätten uns gesträubt, diese Frage positiv zu beantworten – wir haderten mit unserem Land! Wir wollten autoritäre Strukturen sprengen und hatten das Gefühl, dass das keine lebenswerte Basis ist. Das ist für die jungen Leute heute nicht der Fall! Sie haben eine sehr positive Einschätzung ihrem Land, auch ihren Eltern gegenüber. Sie sehen keinen Grund, den politischen Machthaber anzugreifen, ihre Eltern anzugreifen. Das erklärt ihre Grundhaltung: Die Äußerung „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ hat keinen nationalistischen Unterton – es ist eine sachliche, pragmatische Aussage. Wir haben es mit pragmatischen jungen Leuten zu tun. Sie sind trainiert, zu sehen, was Sache ist, weil sie in schwierigen Zeiten groß geworden sind. Und so sind sie auch Realisten genug, zu sehen, was wir, im europäischen oder weltweiten Kontext, an Deutschland haben. Wir sind ein liberales Land, das zurzeit auch wirtschaftlich erfolgreich ist. Das ist bei den jungen Leuten angekommen – und wird von ihnen auch gewürdigt.
Wird man den Jungen gerecht, wenn man sie kollektiv in eine Generation reinpackt?
Hurrelmann: Natürlich nicht. Dennoch ist eine Typisierung von Mentalitätszügen, wie sie in dieser Generations-Metapher symbolisch zum Ausdruck gebracht wird, vertretbar: Weil es auffällig ist – und das konnte man in den Shell-Jugendstudien der letzten 15 Jahre auch sehen – dass durch die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse und die Perspektivität, die junge Leute daraus für sich ablesen, eine sehr einheitliche Einstellung bei ihnen zustande kam: Pragmatisch, nüchtern; keine zu hohen Erwartungen – weil die Lage, in der sie groß geworden sind, eher schlecht war. Sie hat sich vor kurzem geändert, und das registrieren die jungen Leute auch. Aber noch sind sie überhaupt nicht übermütig, sondern sehen zu, wo sie bleiben. Dieses suchende, sondierende, aus der Krise heraus sehr selbstbezogene „auf Sicht fahren“ – bloß nicht glauben, dass man mehr als fünf Jahre Lebensplanung übersehen kann! – das sind ja durchaus angemessene Verhaltensweisen, wenn man die reale Situation betrachtet.
Gilt das auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise? Setzt sich das Merkelsche „Wir schaffen das!“ bei den Jugendlichen durch?
Hurrelmann: Meiner Ansicht nach: ja! Die letzte Befragung der Shell-Jugendstudie wurde durchgeführt, als die Flüchtlingswelle noch nicht ihren absoluten Höhepunkt erreicht hatte. Deswegen müsste man auf neuere Daten schauen. Doch auch diese bestätigen: Von der jungen Generation kommt eine Ablehnung der Zuwanderung nicht. Sie bleibt im Vergleich der Generationen sehr positiv eingestellt. Die Jungen wachsen schon in einer multikulturellen Gesellschaft auf; ein Drittel ihrer Altersgenossen gehören Familien aus anderen Kulturen an. Ich glaube, dass die Jugendlichen ihren unideologischen, pragmatischen, sachlichen, toleranten, weltoffenen Stil mehrheitlich weiterfahren. Man könnte hier von einer Generation R – wie relaxed – sprechen. Es kommt hinzu, dass es eine gut gebildete Generation ist: Von Jahr zu Jahr machen mehr junge Leute Abitur – wir liegen schon fast bei 55 Prozent. So etwas bleibt nicht ohne Spuren!
An welchen Punkten könnte das von Ihnen diagnostizierte politische Interesse denn in politisches Handeln umschlagen?
Hurrelmann: Die junge Generation hat wieder das Thema in den Vordergrund ihrer politischen Sehnsüchte gestellt, was sie schon immer hatte – was nur eine Zeit lang durch Wirtschaftsfragen und die wirtschaftliche wie berufliche Unsicherheit überlagert war: Das sind Umweltthemen, alles, was mit der Sicherung der natürlichen Grundlagen zu tun hat. Das beschäftigt die heute 12-bis 25-jährigen stark. Ein zweiter Kristallisationspunkt könnte die Nutzung des Internet und der digitalen Kommunikationsforen werden: Hier könnte sich eine Auseinandersetzung entzünden, die mit Ausbeutung, mit Datenmissbrauch und ähnlichem mehr zu tun hat.
Wie kann man das politische Engagement Jugendlicher fördern?
Hurrelmann: Meiner Ansicht nach gehören junge Leute in die Parteien! Es ist höchst problematisch, dass heute im Parlament der Altersdurchschnitt bei knapp 50 liegt, noch über dem der Gesamtbevölkerung. Sollte es nicht möglich sein, dass man die Parteien zu einer Selbstverpflichtung nach dem Muster einer Frauenquote bringt, zu einer Jugend-Quote? Damit könnten sich junge Leute angesprochen fühlen. Und die Parteien würden sich selbst unter Zugzwang setzen: Sie müssten die Themen der jungen Leute aufgreifen, mit ihrer Eigenart agieren – und akzeptieren, dass die vieles in Frage stellen von den heute bestehenden Entscheidungsprozessen. Ich glaube, solche Mechanismen sind am effizientesten. Am Schluss müssen die jungen Leute selbst in den Parlamenten sitzen – und dann Themen vorwärtsbringen, die für sie relevant sind! In diese Richtung müssen wir denken. Das setzt viele Diskussionen voraus: Die Absenkung des Mindestwahlalters etwa ist ein Thema, was ich seit Jahren verfolge. Es ist bisschen schwer, in der Bevölkerung Zustimmung dafür zu finden, dass man eigentlich ab 12 wählen kann…
Halten Sie das für umsetzbar?
Hurrelmann: Ich weiß, das ist eine Provokation. Aber es dämmert vielen, dass die junge Generation stärker in die bestehenden Mechanismen einbezogen werden muss. Es geht nicht um Symbol-Politik, sondern um direkten Einfluss, anders kommen wir nicht weiter! Wir haben in Deutschland ein wirklich stabiles demokratisches System. Jetzt darf uns nicht passieren, dass die junge Generation nicht in dieses System hineinwill und nicht hineinkommt – das wäre fatal!
Klaus Hurrelmann, Jahrgang 1944, gehört zu den bekanntesten Kindheits- und Jugendforschern in Deutschland. Ab 1979 lehrte er als Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaft an der Universität Bielefeld, seit 2009 ist er Professor of Public Health and Educationan der Hertie School of Governance in Berlin. Hurrelmann ist Mitautor der Shell Jugendstudie, die seit 1953 regelmäßig die Welt der 12- bis 25-jährigen Deutschen erforscht.
Es braucht nicht immer Faust und Gretchen, um Strukturen hinter der Erzählung aufzudecken, auch mit Computerspielen sind Erzählstrukturen idel zu lernen.
Der Journalist Gundolf S. Freyermuth hat Games als das nach Büchern und dem Film „drittgrößte Erzählmedium der Neuzeit“ bezeichnet, andere sehen in Computerspielen schlicht die „Romane des 21. Jahrhunderts“. Wenn aber von Games im Schulzusammenhang die Rede ist, werden Gewalt und die Minderwertigkeit des Mediums thematisiert, schnell ruft man nach der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Woher dieses schlechte Image?
Immer, wenn Medien neu auftauchen, ist die Zahl der Menschen, die darüber Bescheid wissen, begrenzt. Das, was unbekannt ist, macht zunächst erst einmal Angst. Was man heute über Computerspiele liest, hat man vor 80 Jahren über Comics gelesen und vor 100 Jahren vielleicht über den Film. Schon Platon soll ja gegen die Schrift gewettert haben … Niemand würde sagen: Ich hab‘ Goethes „Werther“ zwar nicht gelesen – aber ich könnte mir vorstellen, dass der den Selbstmord glorifiziert. Bei Computerspielen trauen sich solche Stellungnahmen doch deutlich mehr Leute. Natürlich sehen einige Computerspiele auf den ersten Blick sehr martialisch aus. Das sagt aber noch nichts über die Empfindungen der Spieler während des Spiels aus. Die Spieler von Ego-Shootern sehen ihr Spiel als virtuelles Räuber- und Gendarm-Spiel, bei dem es nicht um konkretes Leid, Tod und Sterben, sondern eher um Taktik geht.
Vielleicht liegt es auch daran, dass sich niemand so gern auf ein Spielfeld begibt, wo das jahrzehntelang eingeübte Wissen nichts gilt. Noch immer ist Lesen als kulturelles Interface absolut prägend.
Lesen ist der Schlüssel in die Mediengesellschaft, ganz klar. Interessanterweise hilft aber das alte Wissen auch bei Computerspielen. Diese Erkenntnis überrascht viele. Bei einem Großteil der Spiele werden ja Geschichten erzählt. Das genau ist mein Forschungsfeld: Ich möchte wissen, wie man literarische Kompetenzen mit Computerspielen fördern kann. Mittlerweile hat sich in der Forschung herausgestellt, dass Computerspiele die gleichen Potenziale besitzen wie Literatur, um literarische Kompetenzen anzuregen.
Sie haben eine umfangreiche empirische Studie zum literarischen Lernen mit Computerspielen durchgeführt. Zu welchen Ergebnissen sind sie dort gelangt?
Ich komme aus der Lesesozialisationsforschung. Ausgehend von den Pisa-Ergebnissen, die gezeigt haben, dass Jungen deutlich schlechter lesen als Mädchen, hat mich interessiert, wie man Jungen fördern könnte. Meine vielleicht naive Annahme war, dass das mit einem Medium funktionieren könnte, das Jungen sehr vertraut ist. Für die Studie habe ich das Strategiespiel „Warcraft III“ ausgewählt – nicht zu verwechseln mit dem Online-Spiel „World of Warcraft“. Dazu habe ich ein Buch gefunden, das hinsichtlich des Aufbaus sehr ähnlich war: „Kariuki und sein weißer Freund“ des Kenianers Meja Mwangi. Ich habe Schülerinnen und Schüler zu Handlung, bestimmten Metaphern und Figurencharakteristiken des Buchs befragt. Anschließend habe ich sie das Computerspiel spielen lassen und die Befragung noch einmal durchgeführt. Das verblüffende Resultat: Unabhängig vom Geschlecht und von den Vorerfahrungen mit Spielen erzielten die Probanden nahezu identische Werte bei beiden Medien. Die Kompetenzpotenziale beider Medien unterschieden sich nicht. Allerdings müssen beide Medien auf ähnlichem narrativem Level stehen – es macht wenig Sinn, Tetris mit Goethe zu vergleichen. Umgekehrt ist etwa „The new Beginning“, ein Adventure-Spiel über die Klimakatastrophe, weit komplexer als jeder Heftroman.
Literarische Kompetenz lässt sich nicht nur mit Faust und Gretchen, sondern auch mit Lara Croft fördern?
Der Computerspielforscher in mir würde jetzt sagen: Es gibt zirka 15 verschiedene Lara-Croft- Versionen, von denen sich vielleicht drei für den Unterricht eignen. Aber grundsätzlich haben Sie recht: Wobei ich um Gottes willen nicht fordere, dass man Literatur aus dem Deutschunterricht verbannt! Allerdings sollten Games den Anteil am Unterricht bekommen, den sie gesellschaftlich längst haben. Ein Unterricht, der aufs Leben vorbereitet, darf sich solchen Medienformen nicht verschließen.
Birgt der pädagogische Einsatz von Spielen eventuell die Gefahr, dass man sie nicht als eigenständiges Medium ernst nimmt? Man kann Spiele analysieren – letztlich muss man sie spielen.
Diese Gefahr sehe ich nicht. In dem Moment, wo man sich seriös mit dem Thema beschäftigt, klappt es nicht mehr, das als „pädagogische Krücke“ zu benutzen. Wenn Lehrerinnen und Lehrer die hohen Standards, die sie bei der Literaturvermittlung haben, auf Computerspiele übertragen, mache ich mir da wenig Sorgen.
Wie sieht denn die Realität in Schulen, Lehrplänen und der Lehrer-Weiterbildung aus? Wo stehen wir heute?
Noch ziemlich am Anfang. Lehrer sind heute sehr stark eingebunden; ich kenne keinen, der weniger als 40 Stunden in der Woche arbeitet. Das ist ein Umfeld, in dem Innovation nicht ganz so schnell wachsen kann. Ich erlebe sehr viele interessierte Lehrer, die sich auf das neue Medium einlassen und gute Erfahrungen damit machen. Allerdings ist das sehr arbeitsintensiv, zumal es bislang sehr wenig Handreichungen gibt. Der Forschungsstand gibt es her, dass man das, auch gut begründet, machen könnte. Was fehlt, sind die Materialien: Für den „Faust“ gibt es dutzende Lehrer-Handreichungen – zu Computerspielen fast nichts. Das ist noch eine der Baustellen, an denen gearbeitet werden muss – da müssen auch die Schulbuchverlage ran. Es gibt erste Bewegungen: Klett beispielsweise hat in seine neue Deutschbuch-Reihe eine Einheit zu Computerspielen als Geschichten erzählende Medien aufgenommen – ein erster Schritt.
Es gibt offensichtlich noch viel zu tun – was würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass die Kolleginnen und Kollegen, die das Thema interessant finden, den Mut haben, es einfach auszuprobieren. Es muss ja nicht gleich eine ganze Unterrichtseinheit sein! Es ist schön, dass jetzt eine Lehrergeneration nachwächst, die häufig eigene Gaming-Erfahrungen hat. Allerdings kenne ich auch genug Kollegen, die es mit Mitte 50 noch mal wissen wollen. Die fuchsen sich rein – und werden von ihren Schülern ernst genommen. Idealerweise kann das zu einem lustvollen, gemeinsamen Lernprozess führen: In Sachen Erzähltext-Analyse wird man einem gestandenen Deutschlehrer nichts vormachen können. Wie man Spiele steuert, wissen die Schüler im Zweifelsfall besser.
Spielen Sie selbst?
Natürlich. Leider viel weniger lustvoll als in meiner Jugend. Inzwischen ist das eher Arbeit: Ich spiele in der Regel mit griffbereitem Zettel, Stift oder Notebook.
Bei welchem Computerspiel haben Sie zuletzt Zettel, Stift und Forschungsauftrag einfach vergessen?
Das war „The Witcher III“ – eine Computerspiel- Reihe, die auf einer Buchserie des polnischen Fantasy-Autors Andrzej Sapkowski über den Hexer und Monsterjäger Geralt von Riva beruht. Ein extrem tolles Spiel mit einer fesselnden Geschichte. Für den Unterricht ist es leider ungeeignet: Die Spielzeit beträgt knapp 150 Stunden.
Dr. Jan M. Boelmann ist Juniorprofessor an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, an der er mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur- und Mediendidaktik forscht und lehrt. Nach seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Gerhard Rupp an der Ruhr-Universität Bochum erwarb er das zweite Staatsexamen als Referendar an der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen und am Seminarstandort Münster. Zuletzt sind von ihm das Buch „Literarisches Verstehen mit narrativen Computerspielen“ (KoPaed 2015) sowie der gemeinsam mit Andreas Seidler herausgegebene Band „Computerspiele im Deutschunterricht“ (Peter Lang 2013) erschienen.
Vor 1989 galt Leipzig als heimliche Hauptstadt der DDR, mindestens zu den Messen war sie ein Ort der Wiedervereinigung auf Zeit. Als nur wenige Monate nach dem Mauerfall die Leipziger Buchmesse 1990 – damals noch als Teil der Frühjahrsmesse – eröffnet wurde und sich Buchhändler und Verleger aus Ost und West erstmals wieder ungehindert begegnen konnten, hatte sich die deutsch-deutsche Bücherlandschaft radikal verwandelt. Die Verlags-Konkurrenz aus den Altbundesländern drängte auf den Ostmarkt, der planwirtschaftlich organisierte ostdeutsche Buchhandel wurde gleichsam im Zeitraffer in die Marktwirtschaft gestoßen.
Geburtsstunde des Lesemarathons
Nicht wenige prognostizierten in dieser Situation das Aus für die zweite, kleinere deutsche Buchmesse. Deren erster eigenständiger Auftritt nach der Wende, zu dem im April 1991 nur rund 25.000 Besucher kamen, schien den Skeptikern Recht zu geben. In diese Situation fällt die Geburtsstunde von Leipzig liest. Als Geburtshelfer des Lesemarathons an der Pleiße fungierte der Bertelsmann Club, der die Premiere, unterstützt von Messe und Stadt, im Mai 1992 an den Start brachte: 80 Autoren lasen und diskutierten an knapp 160 Orten – von Bildermuseum und Auerbachs Keller bis zu heute schon legendenumwobenen Schauplätzen wie den kanonenofenbefeuerten Werkstatträumen der Galerie Eigen+Art oder dem 1990 gegründeten ersten Bio-Laden der Noch-DDR. Das Unternehmen schlug ein: Die Buchmesse verzeichnete ein sattes Besucherplus von 46 Prozent; allein 1000 Menschen strömten zu Günter Grass, der in Speck’s Hof aus seiner Erzählung „Unkenrufe“ las.
Autoren zum Anfassen
Was Leipzig liest betraf, waren solche nicht nötig: Das junge Lesefest gedieh prächtig. Und wurde, Schritt für Schritt, zu einer echten Gemeinschaftsaktion mit einer wachsenden Zahl von Partnern. „In den ersten Jahren ging es vor allem darum, Strukturen zu schaffen, Leipzig auch für große Autorennamen attraktiv zu machen“, erinnert sich Christiane Munsberg, Kulturmanagerin bei Bertelsmann. Seit 1992 ist sie als Aussteller auf der Messe, 2000 feierte sie hier mit dem „Blauen Sofa“ Premiere, seit 2003 organisiert sie die Leipzig liest-Aktivitäten der Gütersloher: Erfolgs-Reihen wie die Jüdischen Lebenswelten und die Deutsch-Israelischen Beziehungen, den Krimi-Club. „Eigentlich“, so Munsbergs Überzeugung, „arbeitet die Zeit für Leipzig liest. Gerade in den Zeiten der Digitalisierung wird die direkte Begegnung, das Gespräch mit den Autoren fürs Publikum immer interessanter.“ Dem trägt auch Munsberg Rechnung: Mit der „Blauen Stunde“ erweitert sich das Format des „Blauen Sofas“ 2016 um ein tägliches Gesprächs-Fenster zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen.
Symbiotische Verbindung zwischen Stadt und Messe
Der Umzug der Buchmesse vor die Tore der Stadt geriet 1998 auch zur Bewährungsprobe für Leipzig liest. Als das City-Biotop gegen die gläsernen Weiten der neuen Hallen eingetauscht werden sollte, mischten sich skeptische Stimmen in den Chor der Umzugs-Visionäre: Waren am Markt nicht Messetreiben und Alltagsleben, Buch und Stadt immer ins eins gefallen? Was würde nun kommen? Leipzig hat bewiesen, dass man neue Wege beschreiten kann, ohne Bewährtes aufzugeben. Im siebten Jahr, das gemeinhin als verflixtes gilt, wuchs Leipzig liest auf mehr als 700 Veranstaltungen, die nun zu fast gleichen Teilen auf dem Neuen Messegelände und in der Stadt über die Bühne gingen. Das Programm-Faltblatt war inzwischen zu einem veritablen 250-Seiten-Wälzer angeschwollen. Im September 2003 verabschiedete die Messe GmbH mit ihren bisherigen Kooperationspartnern Stadt Leipzig, Börsenverein, MDR und dem neu hinzugekommenen Kuratorium Haus des Buches eine grundsätzliche Verpflichtung, welche die Zukunft von Leipzig liest langfristig sicherte: Fortan sollte die Leipziger Messe die Organisation des Lesefests übernehmen, die konkreten Investitionen jedes Jahr neu abgesteckt werden. Der Weg für die Weiterentwicklung einer lebendigen, leserorientierten Buchmesse mit Leipzig liest als Zugpferd war frei. „Auch wenn Leipzig seine Position als große deutsche Verlagsstadt eingebüßt hat, ist es doch eine Stadt der Literatur geblieben“, bekräftigt Leipzigs Kulturbürgermeister Michael Faber. „Die Buchmesse mit Leipzig liest ist eines unserer wichtigsten kulturellen Ereignisse. Deshalb unterstützt die Stadt Leipzig das Lesefest von Anfang an, inzwischen mit einem jährlichen festen Zuschuss.“
Logistischer Kraftakt
Anders als klassische Literaturfestivals ist Leipzig liest als Marketing-Verstärker für den Messeauftritt der Verlage gebaut. Jedem Aussteller steht die Teilnahme am Programm offen. Organisatoren, Veranstaltungspartnern wie hunderten literaturbegeisterten Helfern in der Stadt verlangt das Großereignis planerisch und logistisch einiges ab. Für die zehnköpfige Kern-Mannschaft um Oliver Zille gilt: Nach der Messe ist vor der Messe. Noch im Frühjahr werden, aufgrund akribischer Aussteller-Befragungen, die Weichen für den kommenden Jahrgang gestellt. Branchen-Events wie die Buchtage bieten Gelegenheit, sich schon übers Jahr mit wichtigen Verlags-Partnern zu anstehenden Themen kurzzuschließen. Die heiße Planungsphase beginnt spätestens mit der Frankfurter Buchmesse. Bis Ende November können sich die Aussteller – via Datenbank oder im direkten Kontakt mit dem Messe-Team – anmelden; Mitte Februar wird das Programm auf der Buchmesse-Website freigeschaltet. Bis alles passt, vergehen hunderte von Stunden am Feintuning. „Unsere Arbeit reicht von der Rolle des klassischen Location-Scouts über die Vermittlung zwischen lokalen Veranstaltern und Verlagen bis zum Bau ganzer Programm-Segmente“, erklärt Anja Kösler, die für die Koordination aller Veranstaltungen außerhalb des Messegeländes verantwortlich ist. Die Atmosphäre eines Ortes möglichst punktgenau mit den Wünschen der Verlage zur Deckung zu bringen – das ist die Herausforderung, der sich die Macher jedes Jahr neu stellen. Dafür, dass an den vier Messetagen jedes Mikro auch in akustischen Problemzonen gut klingt, sorgen erfahrene Dienstleister wie die Leipziger Firma Frontsound.
Raum für Experimente
Lyrik im Gohliser Schlösschen? T. C. Boyle in einer umgewidmeten Industriehalle? Oder Clemens Meyer, der in einer Schleußiger Tierarztpraxis „Gedichte von Hunden“ zum Vortrag bringt, bis kein Auge mehr trocken bleibt? Leipzig liest überrascht, immer wieder. Von Schweiß und Herzblut, die vergossen werden, bis alle Rädchen perfekt ineinandergreifen, ahnt der begeisterte Besucher nichts. Das Schöne: Gewachsene Partnerschaften geben auch Raum für Experimente. So öffnet etwa seit 2008 das Rathaus seine Türen für die LitPop-Party des MDR-Jugendsenders Sputnik – die heiligen Hallen der Stadt als Ort der Begegnung zwischen junger Literatur und Pop. 2016 geht das Spektakel in die neunte Runde, an die 3000 Besucher werden allein hier erwartet. Für Uwe Oertel, Sputnik-Marketingchef und Erfinder des LitPop-Labels, ist der Abend mit Lesungen, Slams, DJs und Konzerten ein ideales Einfallstor zur jungen Zielgruppe. „Als öffentlich-rechtlicher Sender funken wir hier mit der Messe auf einer Wellenlänge.“
Die Stadt rocken – mit Literatur
Mit rund 3200 Veranstaltungen und über 3000 Mitwirkenden blickt Europas größtes Lesefest heute auf eine Erfolgsgeschichte ohne gleichen zurück. Viele Ideen und Initiativen der Literaturvermittlung haben von Leipzig aus ihren Weg in den gesamten deutschsprachigen Raum genommen. Dem Original hat die Konkurrenz nicht geschadet – im Gegenteil. Von Leipzig lernen heißt – Siegen lernen? Auch hier bewegt man sich, wie überall, auf dem schmalen Grat zwischen Kostendruck und Innovationszwang. Eingeführte Reihen müssen qualitativ ausgebaut, neue entwickelt werden. Die Messe und ihr Lesefest wollen den Markt nicht nur abbilden, sondern vorausschauend in neue Themenfelder investieren. „Wir bringen mit Literatur eine Halbmillionenstadt zum Rocken“, sagt Buchmesse-Direktor Oliver Zille. „Dass ist unser großes Pfund. Das Festival als Element der sich wandelnden Messe lebendig zu halten, jedes Jahr aufs Neue originell und einzigartig, ist personell und organisatorisch wohl unsere größte Herausforderung.“ Dass in Leipzig am Ende Autoren und Inhalte im Mittelpunkt stehen werden, dürfte bei der Neugier, Leidenschaft und Leselust seiner Bürger so sicher sein wie das Amen in der Nikolaikirche.
Leipzig liest feiert Geburtstag: Mit einem außergewöhnlichen Literaturabend in der Kongresshalle am Zoo bedankt sich die Buchmesse bei den Leipzigern für ihre Treue. Dabei sind Clemens Meyer im Gespräch mit dem Buchpreisträger in der Kategorie Belletristik 2016, Christoph Hein mit seinem neuen Roman – und ein furioser Poetry Slam (17. März 2016, ab xx Uhr).
Christina Knecht, Jahrgang leitet seit 16 die Presseabteilung vom Carl Hanser Verlag und Paul Zsolnay Verlag und reist seit 22 Jahren nach Leipzig.
Was verbinden Sie mit der Leipziger Buchmesse?
Wie Weihnachten und Ostern gehört die Leipziger Buchmesse zu meinem festen Jahreslauf. Und wie Weihnachten und Ostern ist die Messe in Leipzig für mich ein großes Familientreffen – nur dass Geschwister, Tanten und Onkel in Leipzig meine Autoren, die Journalisten und Leser sind.
Was war Ihr schönster Leipzig liest-Moment?
Über die Jahre habe ich viele unvergessliche Leipzig liest-Momente erlebt: Mit Per Olov Enquist im Alten Rathaus, T.C. Boyle in der Baumwollspinnerei und im Werk II oder Margriet de Moor im Bildermuseum, mit Herta Müller, Günter Kunert und Colson Whitehead… Besonders eindrucksvoll ist mir eine Lesung mit Henning Mankell im damals neu renovierten Bahnhof in Erinnerung: Die Atmosphäre war magisch und Mankell vollkommen überwältigt.
Neueste Kommentare