Politikergrußworte zu festlichen Anlässen sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Manchmal, in seltenen Momenten, gelingt es, uns in dieser Disziplin zu überraschen. Vor zwei Jahren schaffte es der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen, heuer verzauberte uns zu vorgerückter Stunde Lubna Jaffery, Ministerin für Kultur und Gleichstellung des Königreichs Norwegen – mit einer ausgesprochen poetischen Rede und einer ungewöhnlichen Herleitung des Gastland-Mottos „Traum im Frühling“. Jaffery ist in Bergen aufgewachsen, der regenreichsten Stadt Europas, als Tochter pakistanischer Einwanderer – und mit dem Gefühl, dass sich die Welt öffnet, Mauern eingerissen werden. Mit ihrer Schulklasse besuchte sie das Berliner Stasi-Museum, und wurde magisch angezogen von einem Foto, aufgenommen 1987 in Berlin-Pankow: „Es zeigt einen Mann mit einer Tätowierung, auf der steht ‚Nur wenn ich träume bin ich frei’. Vielleicht war es für ihn die einzige Möglichkeit, seinen Traum im Frühling auszudrücken. Wir werden es wohl nie erfahren.“
Poetisch: Lubna Jaffery, Ministerin für Kultur und Gleichstellung des Königreichs Norwegen (c) LBM / Jens Schneider
„Wow, so etwas habe ich noch nie gelesen“, dachte sich Sieglinde Geisel, als sie vor einem Jahr auf einem belarussischen Exilliteratur-Festival das erste Mal in „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič geblättert hatte. Nun hielt die Kritikerin die Laudatio auf Bacharevičs Opus Magnum, in deren Verlauf auch der kongeniale, kürzlich mit dem Celan-Preis geehrte Übersetzer Thomas Weiler donnernden Szenenapplaus erhielt. Geisel warf in ihrer klug abwägenden Laudatio auch ein Schlaglicht auf unseren Betrieb: „Literatur ist immer gefährdet, umso mehr, wenn sie vom Rand Europas stammt. ‚Europas Hunde’ ist im kleinen, unerschrockenen Verlag Voland & Quist erschienen, es ist bereits das vierte Buch in deutscher Übersetzung, und keins der anderen wurde in einem führenden Medium rezensiert.“ Zwar habe Thomas Weiler für seine Übersetzung den Paul-Celan-Preis erhalten, doch der Roman selbst tauchte letztes Jahr auf keiner Long- oder Shortlist auf. „Dass die Jury nun ‚Europas Hunde’ mit diesem Preis ins Licht hebt, ist ein kleines Wunder. Und ein großes Glück.“
Bacharevičs Dankrede, von standing ovations begleitet, war vielleicht die eindrücklichste, seit an dieser Stelle, es war 2006, Juri Andruchowytsch gesprochen hat; unvergessen dessen Bitte an die europäischen Funktionsträger: „keine Botschaften zu senden, die die Hoffnung töten.“
Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit.
Alhierd Bacharevič
Wahre Literatur, so Bacharevičs im März 2025, spricht nicht über Lukaschenka oder Putin. Wahre Literatur spricht über Sprache ‒ und über Zeit: „Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit. Zukunft bedeutet unweigerlich den Tod des Despoten. Wahre Literatur versucht die Realität in drei Dimensionen zugleich zu sehen. Sie spricht gleichzeitig mit denjenigen, die waren, mit denjenigen, die da sind, und mit denjenigen, die noch kommen. Mit Menschen der Vergangenheit, Menschen der Gegenwart, Menschen der Zukunft. Deshalb muss der Schriftsteller historisch denken können. Er muss die ersten Warnsignale erkennen, die Gefahr sehen, lange bevor die Katastrophe eintritt.“ „Europas Hunde“ ist der Versuch, solche Signale zu erkennen und in den kommenden Tag hineinzuschauen.
Das Leipziger Gewandhaus bietet den feierlichen Rahmen für Eröffnung und Preisverleihung (c) LBM / Jens Schneider
Und noch einmal richtete sich an diesem Abend der Scheinwerfer auf den Betrieb, auf unseren Umgang mit Kultur, die oft nur noch in homöopathischen Dosen ausgereicht wird. Bacharevič sieht die große europäische Romankunst bedroht: „Komplexität und Polyphonie, Tiefe und Experiment, Sprache und Geheimnis, die innere Zeit des Romans und seine psychologische Kraft ‒ der moderne Mensch hat immer weniger Lust darauf. Er verlernt langsam zu lesen. Er verliert die Kunst des Romans als eine Kunst der Erkenntnis, er verliert die Kunst des Lesens.“
In Bestform: Das Gewandhausorchester unter Omer Meir Wellber (c) LBM / Jens Schneider
Am Ende dieses erstaunlichen Abends hören wir, großartig interpretiert vom Gewandhausorchester unter Omer Meir Wellber, „Morgenstimmung“, komponiert von Edvard Grieg für Henrik Ibsens berühmtes Stück „Peer Gynt“. Grieg, der hier in Leipzig studierte, hat die Magie der Morgendämmerung eingefangen, wie uns Lubna Jaffery vom Ministerium für Poesie nahebringt. „Wenn man genau hinhört, kann man fast die Vögel bei Tagesanbruch singen hören“, sagt sie, „ein untrügliches Zeichen für Frühling und Hoffnung“. Buchmessedirektorin Astrid Böhmisch hat das letzte Wort. Das „wilde, schöne Durcheinander der Literatur“ – es kann beginnen.
Kann man Politik tanzen? Jenseits eines Eurythmie-Kurses an der Waldorfschule geht das wohl am besten auf dem JugendCampus UVERSE, der Kreativwerkstatt der Leipziger Buchmesse in Halle 2. Ein Tanzkurs ist die Sache allerdings nicht: Die Leute von der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie an der TU Dresden, die hier, betont lässig, JoDDiD genannt wird, kommen mit Kartenspielen und Abstimmungstools um die Ecke, in spielerischen, niedrigschwelligen Formaten kann man sich darüber austauschen, welche Rolle Politik im eigenen Alltag spielt, oder was, bitte, man letzte Woche für die Demokratie getan hat. Lydia Bayer von der Leipziger Eventagentur Hahnlive ist Projektleiterin von UVERSE – bereits im dritten Jahr organisiert sie mit einem dreiköpfigen Team die Kreativwerkstatt, in deren Rahmen an vier Messetagen rund 90 Workshops und Aktiv-Formate für rund 2000 Kinder und Jugendliche über die Bühne gehen. „2023, im ersten Jahr nach der Pandemie, war das ein Testballon, dann ist der JugendCampus immer größer geworden.“ Unterstützt unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung sucht man sich immer wieder neue Akteure, die sich beteiligen – in diesem Jahr etwa The Rapid Publisher, eine partizipative Veranstaltung an der Schnittstelle von Performance, Installation, DIY-Publishing, Copy-Art und Kunstbuch. Oder die Hacker School, bei der die Kids unter Anleitung kleine Computerspiele programmieren können. Dadurch, dass Hahnlive kontinuierlich auch für die Kulturstiftung des Bundes arbeitet, verfügt man über ein exzellentes Netzwerk. „Häufig rennen wir offene Türen ein.“
Bei UVERSE geht es ums Mitmachen: Bei der Hacker School waren die 20 Plätze immer ausgebucht (c) nk
Gelungene Messepremiere: Für die Beisheim-Stiftung, die den UVERSE in diesem Jahr mit spannenden Projekten unterstützt, ist Leipzig der erste Auftritt bei einer Messe überhaupt. Geschäftsführer Max Wagner, der die strategische Ausrichtung der Stiftung und deren operatives Tagesgeschäft gemeinsam mit Ulf Matysiak verantwortet, zeigt sich am Messesamstagmorgen begeistert – eine halbe Stunde nach Öffnung herrscht in Halle 2 bereits reges Treiben. „Die Tatsache, dass es sich hier um eine Publikumsmesse handelt, spielt uns in die Karten“, sagt Wagner. „Wir sind vom jungen Publikum genauso begeistert wie von der Tatsache, dass wir hier auch viele Lehrer und Pädagogen erreichen. Während wir sonst eher mit unseren Förderpartnern zu tun haben, also klassisches B2B-Geschäft betreiben, bekommen wir hier Feedback von den Leuten, die wirklich draußen sind.“ Auch dass man am UVERSE andocken konnte, findet Wagner ideal: „Während bei normaler Messe-Architektur oft Stand auf stand folgt, ist hier ein großzügiges Forum, eine Agora entstanden, die sehr gut angenommen wird.“ Die Beisheim Stiftung, gegründet von Metro-Eigentümer Otto Beisheim (1924-2013), setzt sich dafür ein, dass jeder Mensch seine Potenziale entfalten und eine aktive Rolle in der Gemeinschaft wahrnehmen kann. Um dies zu erreichen, fördert und entwickelt sie Projekte in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Kultur und Sport. „Gerade im Gesundheitsbereich liegt unser Fokus im Bereich der mentalen Gesundheit“, erklärt Max Wagner. „Wir sind eine der Stiftungen, die sich als erstes damit beschäftigt haben.“ Von Anfang an ausgebucht waren in Halle 2 alle Sessions der „Mentalen Tankstelle“ – dort erhielten Kinder und Jugendliche in Workshops mit erfahrenen Coaches Impulse rund um mentale Stärke, ein Auftanken und Ruhepol mitten im Messe-Trubel.
Tabuthema Depression: Rosi, der sprichwörtliche Elefant im Raum, lässt sich nicht verdrängen (c) nk
Der Elefant im Raum:Ich bin alles, ebenfalls ein Projekt der Beisheim Stiftung, ist ein Infoportal zu Depression und psychischer Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. „Ein noch allzu häufig stigmatisiertes Thema“, sagt eine Standmitarbeiterin. „Deshalb haben wir hier Rosi dabei.“ Rosi ist der materialisierte, sprichwörtliche „Elefant im Raum“, der für Verdrängtes, Beschwiegenes steht: Für Probleme, Krankheiten oder Sorgen. Alles Dinge, die nicht verschwinden, wenn man nicht über sie spricht. Im Gegenteil. Das Portal, das auch eigens eingerichtete Websites mit evidenzbasierten, wissenschaftlich evaluierten Infos für Eltern oder pädagogische Fachkräfte umfasst, entstand seit 2017 in enger Kooperation mit dem LMU-Klinikum. „In die Entwicklung des Portals waren auch Kinder und Jugendliche selbst einbezogen. Das war uns sehr wichtig.“ Und wie haben die Menschen, kleine und große, auf diesen Stachel im Messetrubel reagiert? „Wir hatten mehr Zulauf, als wir erwartet haben. Und manche haben sich tatsächlich geöffnet, über ihre Erfahrungen mit Depression gesprochen.“
Setzen sich für Ernährungsbildung ein: Katharina Wöhrl und Ellie Zips-Pape von der BayWa Stiftung (c) nk
Basti & Bella in den Höhlen von Carbos: Vis à vis von UVERSE findet sich auch der Stand der BayWa Stiftung, die sich in Kooperation mit der Beisheim Stiftung, dem Thema Ernährungsbildung verschrieben hat. Das Team um Geschäftsführerin Ellie Zips-Pape stellte in Leipzig das 2024 neu überarbeitete Lehr- und Aktionsbuch Der Ernährungskompass vor – Grundschulkinder lernen hier spielerisch jede Menge über Kohlenhydrate, Eiweiße, Fette, Vitamine und Ballaststoffe. Und können ihr Wissen nutzen, um mit Basti, Bella und den Ernährungshelden spannende Abenteuer in Translantis und Proteinien, in den Nebelwäldern von Vita oder den Höhlen von Carbos zu bestehen. Zur Welt des Ernährungskompasses gehört eine Online-Plattform mit Unterrichtsmaterialien zum Download, eine Hör-Version und ein Spiel sichern das erlangte Wissen interaktiv ab. Am Messesonntag nahmen viele Kinder im UVERSE an einem BayWa-Workshop unter dem Titel „Pommesbande, Schurkenkekse, Burgerwichte – Ernährungsbildung ohne erhobenen Zeigefinger“ teil. Der Ernährungskompass der BayWa Stiftung ist in seiner Ursprungsversion seit 2018 an über 4.000 Schulen in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen im Einsatz. „Rund eine halbe Million Kinder konnten so von unserem ganzheitlichen Ernährungsbildungsprogramm zur Gesundheitsprävention profitieren“, erklärt Ellie Zips-Pape. „Dank sehr guter Kontakte der Beisheim Stiftung zum hiesigen Kultusministerium konnten wir in Sachsen im letzten halben Jahr jede zweite Grundschule erreichen. Insofern war auch das Feedback, das wir hier auf der Buchmesse bekommen haben, großartig. Wir haben jede Menge Rückenwind für unsere Arbeit bekommen.“
Interesse für MINT-Themen wecken: Andreas Petermann, Projektmanager Bildung bei der Wissensfabrik (c) nk
Das Hey-ich-kann-das-Gefühl rauskitzeln: DieWissensfabrik – Unternehmen für Deutschland e. V.ist ein bundesweit agierendes Netzwerk von rund 130 Mitglieds-Unternehmen, das sich für Startup-Förderung und MINT-Bildung engagiert. Gegründete wurde der gemeinnützige Verein vor 20 Jahren von Konzernen wie BASF oder Bosch. „Nach dem PISA-Schock dachten die Unternehmen, dass man dringend etwas tun sollte“, erklärt Andreas Petermann, Projektmanager Bildung am MINT-Hub Sachsen in Dresden. „Die Wirtschaft kann das Bildungssystem zwar nicht im Alleingang umkrempeln, darf aber auch nichts unversucht lassen.“ Und so versucht die Wissensfabrik, früh Interesse für technische Themen in Kinderköpfe zu pflanzen. „Was in der Kita geweckt wurde, lässt sich auch später wieder rauskitzeln. Petermann nennt es das „Hey-ich-kann-das-Gefühl“. Auf die Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik, die Fähigkeit, Lösungen zu finden, Sachen selbst in die Hand zu nehmen zielen alle Mitmach-Projekte, die die Wissensfabrik für Kitas und Schulen entwickelt hat – egal, ob es sich, wie bei City4Future, um Klima und Nachhaltigkeit dreht, oder, wie bei IT2School, um Digitalisierung und KI. Die Beisheim Stiftung unterstützt Länder-Kooperationen in einzelnen Bundesländern, letztes Jahr ging es in Sachsen los. Und auch Andreas Petermann ist zum ersten Mal auf der Leipziger Buchmesse: „Das ist eine Premiere für uns“, sagt er, „und in der Tat eine sehr spannende. Donnerstag und Freitag waren viele Schulklassen hier, wenn du die nach ihrem Informatik-Unterricht fragst, bis du sofort im Gespräch. Es kommen aber auch sehr viele Lehrkräfte, nicht nur aus Sachsen. Und natürlich kommt es auch zu Gesprächen mit Unternehmen – die wollen wir begeistern, mitzumachen. Wir könnten ja noch deutlich mehr Schulen bedienen, wenn das Netzwerk größer wäre.“ Im UVERSE haben Petermann und sein Team Workshops angeboten, unter anderem mit einer Referentin vom Mitglieds-Unternehmen SAP zu KI und maschinellem Lernen. „Wir sind happy über die Premiere!“
Lizenz zum Programmieren: Marvin Petsch und Matthias Feldmann von der Hamburger Hacker School (c) nk
Der Literaturbetrieb in Norwegen, dem Gastland der Leipziger Buchmesse, ist ziemlich einzigartig. So gehören zu seinen Grundlagen neben der Buchpreisbindung, die auch bei uns gilt, ein System für den Ankauf neuer Bücher durch den Staat und die Mehrwertsteuerbefreiung auf gedruckte und elektronische Bücher. Darüber hinaus trifft man auf Probleme, die uns ziemlich bekannt vorkommen: Die Herausforderungen durch Digitalisierung und KI oder der Schwund der Leserinnen und Leser. Angetreten, um diese Probleme zu lösen, ist in Norwegen eine neue Generation starker Frauen, die man immer häufiger in Führungsetagen der Branche – in Verlagen, wie auch in Buchhandlungen – trifft.
Norli Strandgaten, erstes Haus am Platz in Bergen (c) nk
Sylvia Gjervik, die Frau mit der lässigen Punk-Frisur, ist Filialleiterin von Norli Strandgaten in Bergen. Mit drei Etagen und rund 25 Mitarbeiterinnen ist die Buchhandlung in Norwegens zweitgrößter Stadt das erste Haus am Platz. Norli ist mit annähernd 200 Läden die zweite große Kette des Landes; der Laden in Bergen war früher inhabergeführt und wurde in den frühen Nullerjahren aufgekauft.
Wenn die Jungen von Fantasy genervt sind, greifen sie vielleicht zu norwegischer Gegenwartsliteratur? (c) nk
„Laut Statistik soll sich das Lesen in Norwegen auf dem Rückzug befinden“, erklärt Gjervik. „Gleichzeitig brauchen wir uns über mangelnde Kundschaft nicht zu beklagen, ökonomisch war das letzte Jahr sehr erfolgreich. Die Statistik sagt auch, dass junge Leute nicht mehr lesen – aber sie tun es! Leider beginnen die meisten auf Englisch, und das sehr früh. Eine unserer Aufgaben müsste also sein, sie zu norwegischer Literatur zu führen, wenn sie älter werden – und von ‚Romantasy“ oder ‚Fantasy’ genervt sind“.
Im Basement hält Norli eine Young Adult-Auswahl vor – „die größte der Stadt“, wie Gjervik lächelnd sagt. Allerdings freut sich die Buchhändlerin inzwischen über einen zarten Gegen-Trend: Junge Leute greifen, TikTok hin oder her, wieder zu den Klassikern – und lesen Kafka, Jane Austen und Thomas Mann.
Ortswechsel. Bergen, die regenreichste Stadt Europas, empfängt uns bei strahlender Sonne und postkartenblauem Himmel. Schon beim Empfang in der mittelalterlichen Håkonshalle, einem Teil der Burg, zeigt sich, dass das LitFest Bergen auch in seiner siebten Ausgabe weder Wohlfühl-Festival noch Promi-Auftrieb sein will. Divers und international will man sein, mit Autorinnen und Autoren aus 23 Ländern, einer palästinensischen Party mit Live-Zuschaltung aus Gaza oder Panels zu queeren Archiven und dissidentischer Literatur. Als Motto hat Festival-Direktorin Teresa Grøtan „Wahrheit“ gewählt – naiv in Zeiten, wo ganz offensichtliches Lügen so etwas wie der neue Sport auf internationaler Bühne geworden ist? „Wir suchen die Wahrheit eher in der Poesie als im Dauerbeschuss der Propaganda.“
Kathrine Nedrejord (Mitte) bei einer Diskussionsrunde im Literaturhaus Bergen (c) nk
Das Herz des Festivals schlägt im Literaturhaus, nur einen Steinwurf entfernt vom Fischmarkt und den engen Gassen des Altstadtviertels Bryggen. Am Nationalfeiertag der Samen spricht Grøtan im vollbesetzten Saal mit den Autorinnen Marjam Idriss und Kathrine Nedrejord über „Geister in der norwegischen Kolonialgeschichte“. Die norwegisch-samische Kathrine Nedrejord, Jahrgang 1987, wurde mir schon von Ingeborg Volan ans Herz gelegt – als ein Beispiel für jene neuen, spannenden norwegischen Stimmen, die es in Leipzig zu entdecken gilt. Mit ihrem vielbeachteten Roman Sameproblemet („Das Sami-Problem“) ist der mittlerweile in Paris lebenden Nedrejord eine kraftvolle Erzählung über Kultur, Sprache und Identität der Sami gelungen – und eine ebenso wütende wie klare Abrechnung mit Unterdrückung, Diskriminierung und Bigotterie gegenüber einem der größten indigenen Völker Europas. „Manche Passagen haben Kritiker als ‚essayistisch’ bezeichnet“, sagt Kathrine Nedrejord. „Ich würde sie eher politische Wutrede nennen. Die Erzählerin ist mitunter ziemlich angefasst von den Ungerechtigkeiten, die ihr und den Generationen vor ihr durch den norwegischen Staat wiederfahren sind.“ Einige Passagen des Buches sind denn auch in Großbuchstaben gedruckt. „In Norwegen“, lacht Nedrejord, „soll man eigentlich nicht wütend sein. Aber, OK… ich lebe in Frankreich!“
Empfang des LitFest Bergen in der mittelalterlichen Håkonshalle (c) nk
Was, wann, wo?
Vorhang auf! Neue Theaterstücke aus Norwegen. Mit Kathrine Nedrejord, Fredrik Brattberg und Eivind Haugland. Mittwoch, 26. März, 19 Uhr, Grieg-Begegnungsstätte Leipzig
Hinter der alten Fassade am Osloer Sehesteds Gate, wo Gyldendal Norsk seinen Sitz hat, öffnet sich ein imposanter Saal-Neubau, in dessen Zentrum, wie Jonas im Bauch des Wals, ein zweistöckiges Haus steht – die Replik des dänischen Gyldendal-Verlagsgebäudes. Die Geschichte von Gyldendal Norsk beginnt 1925, als das dänische Unternehmen seine norwegischsprachige Abteilung an Investoren aus Norwegen verkauft. Der „Rückkauf“ (Hjemkjøpet) der „Großen Vier“ – Henrik Ibsen, Bjørnstjerne Bjørnson, Alexander Lange Kielland und Jonas Lie – aber auch von Zeitgenossen wie Knut Hamsun, von Harald Grieg nach Oslo gekabelt, galt als Coup.
Gyldendal Norsk ist heute der größte Player in der norwegischen Buch-Industrie. Zum Konzern gehören nicht nur zahlreiche Imprints und Geschäftsbereiche, etwa für Bildung und wissenschaftliche Literatur, sondern auch die mit rund 150 Filialen größte Buchhandelskette des Landes ARK, Onlineshop und App inklusive. Seit letzten Juni wird Gyldendal Litteratur von Ingeborg Volan geführt – die Managerin, die zuvor CEO des Norwegischen Buchklubs und in Führungspositionen von Print- und elektronischen Medien war, vereint Liebe zur Literatur mit profunder Kenntnis aktueller Technologieentwicklungen. Warum hat sie sich, in Zeiten wie diesen, auf einen Buchverlag eingelassen? „Ich bin eine passionierte Leserin! Und muss dennoch sehen, dass diese gute, alte Kulturtechnik in unserer Gesellschaft ein Stückweit auf dem Rückzug ist. Ich möchte dazu beitragen, dass Autoren und Literatur bei uns eine Zukunft haben.“
Ich bin eine passionierte Leserin. Und kenne aus meinen Führungspositionen in den Medien die aktuellen Technologieentwicklungen.
Ingeborg Volan, Verlegerin Gyldendal Litteratur
Während Verlegerinnen mit journalistischer Vergangenheit wie Felicitas von Lovenberg bei Piper hierzulande eher eine Seltenheit sind, scheint es in Norwegen gerade eine Art brain drain starker Medien-Macherinnen in Verlage zu geben. „Herausforderungen wie Digitalisierung oder Künstliche Intelligenz haben die Medien schon länger getrieben als die oft etwas traditioneller aufgestellte Buch-Industrie“, mutmaßt Voland. „Wir haben unsere Lektionen gelernt.“ Eine ähnliche Entwicklung wie beim Gyldendal-Konzern ist bei Norwegens größtem Verlag Cappelen Damm, einer hundertprozentigen Tochter des dänischen Egmont-Konzerns, zu beobachten: Dort hat Sarah Willand, die zuvor für TV 2, den größten kommerziellen Fernsehsender des Landes, tätig war, nach 44 Jahren Tom Harald Jenssen als CEO abgelöst. Eine Zeitenwende.
Es ist wohl kaum ein größerer Gegensatz denkbar zwischen dem altehrwürdigen Interieur der Nasjonalbiblioteket, der norwegischen Nationalbibliothek, am Solli plass in Oslo und dem mit allen Multimedia-Wassern gewaschenem Auftritt der jüngeren Autorinnen und Autoren, auf die wir hier treffen. Simon Stranger etwa gab schon beim morgendlichen Saunieren am Fjord, vis á vis von Oper und Munch-Museum, eine Probe seines Temperaments – jetzt performt er mit Videoeinspielern, Animationen und dramatischer Musik zu seinem neuesten Buch „Museum der Mörder und Lebensretter“. Stranger, der Autor werden wollte, seit er als Kind Michael Endes „Unendliche Geschichte“ verschlang, hat sieben Romane für Erwachsene, drei Jugend- und elf Kinderbücher publiziert. Der Durchbruch kam mit dem Roman „Vergesst unsere Namen nicht“ (2018), der bis heute in 20 Ländern erschienen ist.
Ich habe die Existenz meiner Frau und meiner Kinder nicht etwa vier Helden zu verdanken – sondern einem Mörder!
Simon Stranger, Autor
Strangers neues Buch, nominiert für den norwegischen Buchhandelspreis 2023, ist buchstäblich wie ein Museum aufgebaut, die Kapitel als Museumssäle, viele schwarz-weiße Fotos als Exponate: Familienfotos, das Faksimile einer Liste beschlagnahmter Gegenstände. Oder das Foto eines einfachen Stempels – der Buchstabe „J“ für „Jude“, aus Blei gegossen, aus dem Bestand des Jüdischen Museums in Trondheim: „So einfach und zuverlässig kann eine Tötungswaffe aussehen. Ein Buchstabe und ein Stempelkissen.“ Erzählt wird die Geschichte von norwegischen Widerständlern im Jahr 1942, die das jüdische Paar, das sie zu retten versprechen, umbringen – und über die ökonomischen Aspekte des Holocausts in Norwegen. Der Riss geht auch durch Simon Strangers Familie: „Ich habe die Existenz meiner Frau und meiner Kinder nicht etwa vier Helden zu verdanken, wie wir bisher glaubten – sondern einem Mörder.“
Mit allen Multimedia-Wassern gewaschen: Simon Stranger, Autor (c) nk
Was, wann, wo?
Simon Stranger: Museum der Mörder und Lebensretter. Roman. Aus dem Norwegischen von Thorsten Alms. Eichborn, 352 Seiten, 22 Euro (ET: 29. März)
Simon Stranger: Museum der Mörder und Lebensretter: Samstag, 29. März, 13.30 Uhr, Messestand Gastland Norwegen, Halle 4, D 300/C 301
Norwegische Nacht: Simon Stranger mit Aslak Nore und Ingeborg Arvola: Samstag, 29. März, 21.30 Uhr, Schaubühne Lindenfels
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