Wenn die Welt sich verändert, verändert sich auch die Literatur: Das war das Credo, dem die Kuratorinnen des Gastlandauftritts Niederlande & Flandern auf der Leipziger Buchmesse, Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, folgten. Unter dem Motto „Alles außer flach!“ haben Nederlands Letterenfonds, Flanders Literature und ihre Partner ein fulminantes Programm mit mehr als 40 Mitwirkenden auf die Beine gestellt: Die meisten der rund 100 Veranstaltungen auf dem Messegelände, wo ein attraktiver Gastland-Stand mit Buchausstellung, Café und eng getakteten Gesprächen lockte, und an zahlreichen Locations in der Stadt, wurden von den Leipzigern und ihren Gästen regelrecht überrannt. Im Rahmenprogramm gab es unter anderem vier Ausstellungen und drei digitale Literaturinstallationen. Wie viel gab es zu sehen und zu hören!
Mit der Krise tanzen: Während bei der Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus gleich drei Ministerpräsidenten – Mark Rutte (Niederlande), Jan Jambon (Flandern, Chef des Europäischen Kulturrats) und Michael Kretschmer (Sachsen) – zu ihren Lieblings-Lektüren einvernommen wurden (Rutte glänzte mit einem formvollendeten „Zauberberg“-Privatissimum), konnte man an diesem ungewöhnlich milden Märzabend auch in die Schaubühne Lindenfels, das temporäre Headquarterdes Gastlandauftritts, radeln. Dort traf man auf Lisa Weeda und Dmitrij Kapitelman („Eine Formalie in Kiew“, Hanser), deren beider Wurzeln in der Ukraine liegen. Reden über ein Leben zwischen West und Ost, Frieden und Krieg. „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren” – das hat die große Choreografin Pina Bausch einmal gesagt. Ein Satz, den die niederländische Schriftstellerin Lisa Weeda mit ihrem neuen Buch Tanz, tanz Revolution (Kanon Verlag, übersetzt von Birgit Erdmann) aufgreift und ein kühnes Roman-Experiment präsentiert, dass sich von zwei Seiten lesen lässt, von Ost wie von West. Bereits in ihrem gefeierten Debütroman „Alexandra” hatte sich Weeda auf die Reise in den Osten Europas gemacht. Auf den Spuren ihrer Großmutter war sie in die Ukraine gereist. Besulia, das fiktive Land, das in ihrem neuen Roman von seinem Nachbarn angegriffen wurde, ist leicht mit der Ukraine zu verwechseln. Die zahlreichen Toten, die der Krieg tagtäglich produziert, und die wie von Zauberhand im Alltag der vom Krieg verschont bleibenden Menschen anderer Länder auftauchen, können im Roman, frei nach Pina Bausch, wieder lebendig getanzt werden. Weeda ist in den Niederlanden geboren, ihre Vorfahren stammen aus der Ukraine. Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman erzählt in Eine Formalie in Kiew (Hanser Berlin) die Geschichte einer ukrainischen Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der längst besser sächselt als die Beamtin, bei der er in Leipzig den deutschen Pass beantragt. Doch weil der Bürokratie keine Formalie zu klein ist, wenn es um Einwanderer geht, reist er in seine Geburtsstadt Kiew – mit der ihn, bis auf seine Kindheitserinnerungen, nichts mehr verbindet. Auffällig war in Leipzig, wie selbstverständlich und hellwach sich die neuen Stimmen aus den Niederlanden und Flandern mit derzeit aktuellen politischen Themen auseinandersetzen. Klimakrise, Kolonialismus, die Folgen der weltweiten Migrationsbewegungen und der Krieg in Europa oder Nahost bestimmten zahlreiche Lesungen, Diskussionen und Performances.
Weibliche Wut, weiblicher Blick: Die Geschichte der Menschheit war lange eine Geschichte der Männer. Doch die Zeiten ändern sich. In ihrer neuen Essay-Sammlung Vor allem Frauen (Diogenes, übersetzt von Lisa Mensing) untersucht die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen die Arbeit von elf Frauen und einem Mann, die ihr Leben und Arbeiten geprägt haben. Palmen, die Anfang der Neunziger als Schriftstellerin debütierte, gehört, nach der Generation von Hugo Claus, Willem Frederik Hermans, Harry Mulisch oder Cees Nooteboom, zu den niederländischen und flämischen Schriftstellern, die man auch im deutschsprachigen Raum kennt und schätzt. Zuletzt hatte Palmen den Roman „Du sagst es“ (2016) veröffentlicht, der die Beziehung des Dichterpaars Sylvia Plath und Ted Hughes behandelt und an ihm auf teils ironische Weise die Frage, wie sehr man für die Kunst leiden muss. Auf diese beiden Galionsfiguren ihres Lebens und Schreibens kommt Palmen auch in ihrem neuen Essayband zurück – neben Ted Hughes ist Philip Roth der einzige darin thematisierte Mann. An ihren Vorbildern hebt Palmen jeweils eine Eigenschaft besonders hervor – etwa Virginia Woolfs Autonomie, Sylvia Plaths Wahrhaftigkeit oder Joan Didions Unnahbarkeit. Die flämische Schriftstellerin, Übersetzerin und Librettistin Gaea Schoeters wiederum ist Mitglied der feministischen Gruppe Fixdit und Mitverfasserin des Manifests „Optimistische Wut”, das sich mit Sexismus in der Literatur befasst. In ihrem aktuellen Roman Trophäe (Zsolnay, übersetzt von Lisa Mensing) geht ihr Protagonist die ultimative Konfrontation mit der Natur ein und wirft ethische Fragen zum Postkolonialismus auf. An starken, streitbaren Frauen, die endlich die weiblichen Seiten der Weltgeschichte aufschlagen, herrschte im Gastlandprogramm kein Mangel.
Ohne Übersetzerinnen – keine Weltliteratur: Dass die Niederlande und Flandern eine ganze Programmlinie für die Fährleute der Literatur reservierten, war ein genialer Schachzug. Als man 2016 in Frankfurt zu Gast war, löste das eine Flut von literarischen Übersetzungen, Auftritten und Residenzen aus; rund 250 neue Titel erschienen damals in deutscher Übersetzung. Eine literarische Flutwelle, die seitdem munter weiter rollt: Seit Anfang 2023 bis zur Messe im März erschienen mehr als 100 deutsche Übersetzungen niederländischsprachiger Literatur. Die Literaturstiftungen aus den Niederlanden und Flandern setzen sich zusammen mit den deutschsprachigen Verlagen dafür ein, den nagelneuen Übersetzungen so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu verschaffen: Die Leipziger Buchmesse bot für dieses Vorhaben die perfekte Bühne. Am Übersetzerforum und am Gastlandstand wurde den Übersetzerinnen und Übersetzern der rote Teppich ausgerollt: Täglich führte ein interaktiver Mini-Workshop in die Kunst des Übersetzens ein, Übersetzerinnen gaben Einblicke in die einschüchternde Aufgabe, Klassiker (neu) zu übersetzen, verschiedene Organisationen zeigten, wie die Arbeit von Übersetzerinnen von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Immer kamen sympathische Vertreterinnen und Vertreter ihres Berufsstands zu Wort, die offen und ehrlich von den Höhen und Tiefen ihres Berufslebens berichten – und beim Publikum eine regelrechte Charme-Offensive in Sachen Liebe zur niederländischen Sprache und Literatur eröffneten.
Fährfrauen: Es war 2014, als der C.H. Beck-Lektor Ulrich Nolte an einer sogenannten Publishers-Tour des Nederlands Letterenfonds, der Literaturstiftung der Niederlande, teilnahm. An einem schönen Abend in der Amsterdamer Keizersgracht, in der Uitgeverij Balans, wurde Nolte fast verschwörerisch von Cheflektor Jan Geurt Gaarland beiseite genommen: „Du, Ulrich, schau mal: Dieses Werk hier ist in alle großen Sprachen übersetzt, aber noch nicht ins Deutsche – wollt ihr das nicht machen?“ Als „Zuckerl“ ließ Gaarland noch durchblicken, dass schon am Band gearbeitet würde. „Wir haben uns bei der Ehre gepackt gefühlt“, sagte Nolte nun im Übersetzerforum der Leipziger Buchmesse. Dort wurde, zehn Jahre, nachdem alles begann, der Else-Otten-Übersetzerpreis an Simone Schroth (*1974) und Christina Siever (*1982) vergeben. Die beiden übersetzten die 2023 bei C.H. Beck unter dem Titel „Ich will die Chronistin dieser Zeit werden“ erschienenen Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum, die vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Sie sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein Standardwerk jüdischer Erinnerungskultur – aber auch große Literatur auf fast 1000 Seiten. Nach zehn Jahren hat sich ein Kreis geschlossen. Der mit 5000 Euro dotierte Else-Otten-Übersetzerpreis wird alle drei Jahre vom Letterenfonds vergeben; ausgezeichnet wird die beste deutsche Übersetzung eines niederländischsprachigen Werks der vorangehenden drei Jahre. Es klingt verrückt, ist aber wahr: Die in Zürich lebende Christina Siever, die den Tagebuch-Part der Ausgabe übernommen hat, und die Brief-Übersetzerin Simone Schroth, die als Dozentin an der Lancaster University in Großbritannien arbeitet, haben sich am Tag vor der Preisvergabe das erste Mal persönlich gesehen – und am Abend trotzdem gleich eine gemeinsame Lesung bestritten. Die beiden Frauen, die die Initiative #namethetranslator unterstützen, freuen sich über die Wertschätzung ihrer Arbeit: „Das Beste im Leben kommt unverhofft und als Geschenk“, sagte Simone Schroth. „Eigentlich geht der Preis an Etty, wir sind die Fährfrauen. Aber je sichtbarer wir werden, desto besser ist es für das Projekt.“
Flämische Avantgarde: Zur Leipziger Buchmesse konnte das Publikum mit der Übersetzerin Anna Eble und dem Autor und Herausgeber Matthijs de Ridder das einzige Gedicht der Welt lesen, das aussieht wie ein Zirkusplakat – „Großer Zirkus“ aus Paul van Ostaijens Riesen-Wurf Besetzte Stadt(1921). Mit diesem Band verarbeitete der flämische Dichter die Zerstörung und Besetzung Antwerpens durch deutsche Truppen im Ersten Weltkrieg. „Besetzte Stadt“ ist eines der ehrgeizigsten literarischen Experimente der niederländisch-sprachigen Welt – und wurde von van Ostaijen mit einer Typographie bedacht, die die Narben der Zeit trägt. Er war davon überzeugt, dass eine Welt, die in Schutt und Asche liegt, nur mittels einer zertrümmerten Sprache beschrieben werden kann. Im Heidelberger Wunderhorn Verlag erscheint nun, pünktlich zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern, die erste Übersetzung des kompletten Gedichtbands im Original-Layout: Ein verlegerischer Coup!
Wir erfahren all das in fast akzentfreiem Deutsch vom flamboyanten Gelehrten Matthijs de Ridder. Dessen fast 1000-seitiger Biografie-Ziegelstein „Paul van Ostaijen. Der Dichter, der die Welt verändern wollte“ (2023) erhielt begeisterte Kritiken und wurde für den flämischen Literaturpreis De Boon nominiert. Kataklump, eine Adaption von Paul van Ostaijens Abenteuern mit der deutschen Avantgarde, ist eben in deutscher Übersetzung bei Wunderhorn erschienen. Am Gastland-Messestand und in der Schaubühne Lindenfels konnten deutsche Leserinnen und Leser tief in die Welt der flämischen Avantgarde eintauchen – vom täglichen Leseatelier über eine Ausstellung bis zur multimedialen Performance und einer intimen nächtlichen Radiosendung. Paul van Ostaijen hätte das gefallen!
Alles außer Hass: So war am Messe-Samstag das Abschlussprogramm überschrieben, gedacht als Antwort auf den Zulauf für Rechtspopulisten in den Niederlanden, in Flandern und in Deutschland. Und so lasen niederländische, flämische und deutsche Autorinnen und Autoren aus Texten, die Mut machen sollten, sich gegen Hass, für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Leise Töne dominierten an diesem Abend, der in Kooperation mit dem Sächsischen Literaturrat organisiert wurde: Domenico Müllensiefen hatte einen Text von Wolfgang Hilbig ausgesucht, der in der DDR nicht so schreiben wollte, wie man es von ihm verlangte. Gijs Wilbrink erinnerte mit einem Text von Rebecca Solnit an die Frauenproteste in den USA gegen das atomare Wettrüsten in den 1980er Jahren. Die Leipziger Autorin und Performerin Martina Hefter las ein Gedicht der unlängst verstorbenen Dichterin Elke Erb und ein Fragment aus Marlene Haushofers „Die Wand“. Und Lisa Weeda las Gedichte des großen ukrainisch-amerikanischen Poeten Ilya Kaminsky, die an die russische Okkupation der Ostukraine erinnern. Ein Abend, der wie der gesamte Gastlandauftritt Verbindungen knüpfte, Freundschaften stiftete, die die Leipziger Buchmesse 2024 überdauern. Kooperationen mit Buchmarkt-Profis und Medien sind angestoßen, um den Kontakt zum deutschen Publikum zu halten – und weiter zu fördern. Behoorlijk briljant, beste collega’s!
Sabine Stöhr erinnert sich noch genau an jenen Buchmesse-Donnerstag im März 2018: Als ihr Übersetzerkollege Jurij Durkot vorschlug, gemeinsam ein paar Worte zurechtzulegen, nur für den Fall, dass es doch einen Preis geben könnte, war sie nur schwer dazu zu bewegen. „Ich hielt das für ziemlich unwahrscheinlich“, lacht Stöhr, „schon die Tatsache, dass wir mit Serhij Zhadans Roman „Internat“ in der Kategorie Übersetzung nominiert waren, schien uns eine große Ehre zu sein.“ Spätestens als Messe-Geschäftsführer Martin Buhl-Wagner zur Preisträger-Verkündung in den Plural wechselte, wusste das sprachversierte Übersetzer-Duo, was die Stunde geschlagen hatte. Es waren vor allem Worte des Dankes, die sie unterm Glashallenrund aussprachen: An Lektorin Katharina Raabe und den Suhrkamp Verlag, an Serhij Zhadan, der mit auf die Bühne gekommen war, „für das tolle Buch“. „Schlechte Texte lassen sich leicht übersetzen, nämlich schlecht“, hieß es im Vorab-Video. „Ich finde, es ist viel leichter, gute Bücher zu übersetzen“, hielt Sabine Stöhr gegen. „Weil es eine Freude und der Prozess so wichtig ist.“
Sabine Stöhr hat – so sagt sie es selbst – „das große Privileg“, zwei der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller und Dichter zu übersetzen, „Freunde, Gleichgesinnte und doch Antipoden“: Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan. Der eine, Andruchowytsch, 1960 in Iwano-Frankiwsk, ganz im Westen der Ukraine geboren, der andere, Zhadan, 1974 im ukrainischen Osten, im Gebiet Luhansk nahe der Grenze zu Russland. Zwischen beiden liegen nicht nur vierzehn Lebensjahre, fast eine Generation, sondern über 1300 Kilometer Territorium und manch angebliche ‚Grenze’, die es in der Ukraine angeblich gibt.
Als Sabine Stöhr, die Osteuropäische Geschichte und Publizistik sowie Slawistik in Mainz und Simferopol studiert hatte und danach der Deutschen Botschaft in Kiew tätig war, Anfang der Nullerjahre aus dem Ukrainischen zu übersetzen begann, wusste man im Westen kaum, dass es diese Sprache gab. Juri Andruchowytsch ins Deutsche zu übersetzen soll Stöhr nach einer Lesung des Ukrainers im Berliner „Club der polnischen Versager“ beschlossen haben. Was das bedeutete, hat der Kritiker Helmut Böttiger sehr launig in seiner Laudatio zur Verleihung des Johann-Heinrich-Voß-Preises 2014 an Sabine Stöhr beschrieben: „Man musste nicht nur Neuland betreten, sondern gleich zwei, drei oder gar zweiundzwanzig Neuländer.“ Nach den Romanen „Zwölf Ringe“ (2005), „Moscoviada“ (2007) von Andruchowytsch, dem – auch kommerziell recht erfolgreichen – Roman „Kult“ von Ljubko Deresch übersetzte sie, wiederum im Tandem mit Jurij Durkot 2007 den Debüt-Roman „Depeche Mode“ von Serhij Zhadan. Charkiw, die ehemalige Hauptstadt der seowjetischen Avantgarde, ist dort Schauplatz einer aberwitzigen Geschichte aus dem Chaos der Umbruchszeit Anfang der 1990er Jahre: In ehemaligen Komsomolbüros der ostukrainischen Metropole Werbeleute, und das Jugendradio sendet am laufenden Meter eine Fake-Doku über „die irische Volksmusikgruppe Depeche Mode“ und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung. „Die Musik spielt sowohl für Juri als auch Serhij eine große Rolle“, erinnert Stöhr – der eine hat etwa mit der polnischen Band Karbido zusammengearbeitet, der andere stand häufig mit der Punk-Band Sobaky w kosmossi („Hunde im Kosmos“) auf der Bühne.
Dass die Aufmerksamkeit für die Literatur der Ukraine derzeit vor allem von unserem – verständlichen – Bedürfnis geprägt wird, möglichst viel über die aktuelle Entwicklung des Landes angesichts der russischen Aggression zu erfahren, findet Sabine Stöhr schade – zumal Andruchowytsch wie Zhadan, nicht nur als Romanautoren, sondern auch als Dichter und Musiker, „intensiv mit der künstlerischen Ausdrucksform Sprache spielen“. Dass etwa Andruchowytschs großer Roman Radio Nacht (2022) vor allem vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges gelesen wird, tut der Übersetzerin leid. „Das Buch ist ja eine Dystopie, die damit spielt, dass der Euromaidan nicht mit der Flucht des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytschs geendet hätte, es geht um Migranten in einem postmodernen Mitteleuropa. Das Buch sagt eigentlich mehr über uns und unsere Gesellschaft aus als über die Ukraine.“
Das letzte Buch von Serhij Zhadan, das Sabine Stöhr und Jurij Durkot, gemeinsam mit Claudia Dathe, übersetzt haben, ist Der Himmel über Charkiw, das im Jahr der Friedenspreis-Verleihung auf Deutsch erschien, eine Chronik der laufenden Ereignisse der ersten vier Monate nach der Russischen Aggression: Zhadan ist Tag und Nacht im beschossenen Charkiw unterwegs – er evakuiert Kinder und alte Leute aus den Vororten, verteilt Lebensmittel, koordiniert Lieferungen an das Militär und gibt Konzerte. Die Posts in den sozialen Netzwerken dokumentieren seine Wege durch die Stadt und sprechen den Charkiwern Mut zu, unermüdlich, Tag für Tag.
„Ich würde mich riesig freuen, einen neuen Roman von Serhij zu übersetzen“, sagt Sabine Stöhr. Und weiß doch, wie ungeheuer schwierig es ist, in Zeiten des Krieges zur Literatur zu finden. Kurz nach der Leipziger Buchmesse im März kündigte der Friedenspreisträger von 2022 an, in den Krieg zu ziehen. Lange hat der Schriftsteller mit Worten und als Musiker mit seiner Band für die Sache seines Landes gekämpft. Doch Anfang April hat er angekündigt, dass er in das Chartia-Bataillon der ukrainischen Nationalgarde eintreten werde. Auf Facebook hat er kürzlich ein Foto von sich gepostet: In Tarnkleidung, vor einem zerlegten Sturmgewehr.
Eigentlich hat sich Felix Wisotzki schon immer für stressresistent gehalten. „Nach den letzten 12 Monaten“, gesteht er mit einem Grinsen im Gesicht, „bin ich es amtlich“. Das liegt, so ahnen wir, an seinem neuen Job als Pressesprecher der Leipziger Buchmesse, in den er sich gewissermaßen mit Warp-Antrieb und Siebenmeilen-Stiefeln stürzte. Als der Pressereferent nach hausinterner Bewerbung im Sommer 2023 den Zuschlag für die ein rundes Jahrzehnt von Julia Lücke besetzte Stelle erhielt, galt es für eine Übergangszeit die laufenden Projekte abzuschließen – im Fall von Wisotzki war das etwa die Medienbetreuung der efa:ON, der Fachmesse für Elektro-, Gebäude- und Lichttechnik. Kein ganz leichter Start, wo sich doch das Anforderungs-Profil seiner neuen Tätigkeit von den bisherigen Aufgaben in der Kommunikations-Abteilung der Leipziger Messe deutlich unterscheidet. „Wo ich in meinem alten Job – bis zum Schreiben der Presse-Texte – die komplette operative Ebene abgedeckt habe“, sagt Wisotzki, „ist es bei der Buchmesse vor allem klassisches Projekt-Management: Ich bin der, bei dem für alle PR-Themen die Fäden zusammenlaufen.“ Als hilfreich sollte es sich erweisen, dass Wisotzki zum Kreis jener gestandenen Kommunikations-Kolleginnen und Kollegen gehörte, die die rasant gewachsene Buchmesse aus dem Backoffice unterstützten. „In diesem Jahr“, erzählt der Pressesprecher, „habe ich selber von diesem Support profitiert. Die Beschäftigung mit verschiedenen plötzlich aufploppenden Themen hätte meine Ressourcen komplett gesprengt.“
Mit dem Wechsel zur Leipziger Buchmesse schließt sich für den im ostthüringischen Gera aufgewachsenen Felix Wisotzki ein Kreis: Back to the Roots, zurück zur Literatur. Wobei es Wisotzki nach einem Schülerpraktikum bei Antenne Thüringen, vor allem jedoch nach den drei Monaten in der Gothaer Lokalredaktion der Thüringer Allgemeinen zwischen Abi und Zivildienst zunächst in Richtung Journalismus zog – ein Beruf, der manchem in früheren Zeiten als abenteuerliche Mischung aus Sherlock Holmes und Ernest Hemingway erschien. In der notorisch dünn besetzten Lokalredaktion genoss der Praktikant jedenfalls alle Freiheiten und nahm die Termine eigenständig wahr – vom Bockbierfest über die Rassekaninchen-Ausstellung bis zur anrührenden Weihnachtsfeier im Kinderheim. Allerdings bekam Wisotzki von erfahrenen Redakteuren auch zu hören: Schreiben kannst du ja – such’ dir ein Fach, spezialisiere dich, sammle Expertenwissen! Und so kommt endlich die Literatur ins Spiel, denn der junge Thüringer tritt 2002, kurz nach 9/11 also, an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ein Studium der Amerikanistik an. Er genießt die intensive Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur- und Literaturgeschichte, sammelt Scheine für Dinge, die andere in ihrer Freizeit erledigen müssen – und schließt 2009 mit einer Arbeit über die Sopranos und die „Krise der Männlichkeit“ ab.
Als Felix Wisotzki 2009 zu seiner heutigen Frau nach Stuttgart geht, um mit seinem reichen Expertenwissen einen Job als Journalist zu finden, ist das, was wir heute als „Medienkrise“ kennen, schon in vollem Gange. Dennoch melden sich auf eine Volontariats-Stelle bei der „Stuttgarter Zeitung“ noch 450 Bewerber! Wisotzki macht ein Praktikum bei den Stuttgarter Nachrichten und bleibt für ein gutes halbes Jahr als Freier – merkt aber recht schnell, dass ihn das nicht befriedigt. Ein Zufall ist es schließlich, der ihn die Schreibtisch-Seite wechseln lässt – er wird Junior-Berater in einer Stuttgarter PR-Agentur, die mit dem Fokus Bauen und Wohnen unterwegs ist. Das ist ziemlich weit weg von der Literatur – doch der Absolvent der Geistesgeschichte hat Spaß an der Arbeit mit den Kunden und der Einarbeitung in neue Themenfelder. Womöglich hat er sich schon mit Details von Wärmepumpen beschäftigt, als unsereins nicht im Traum daran dachte. Dummerweise sah die Agentur kaum Entwicklungsmöglichkeiten vor – und auch Stuttgart schien nach einer gewissen Anlaufzeit nicht der Ort, an dem man für die Rente plant. Also wieder München? Oder Berlin? Oder – Leipzig? 2014 bewarb sich Felix Wisotzki auf eine Stellenanzeige der Leipziger Messe, die einen Pressereferenten suchte, Schwerpunkt im Bereich der technischen Messen. Durch die Stuttgarter Agentur-Vergangenheit passte das ideal – am 15. September 2014 war Wisotzkis erster Arbeitstag in Leipzig, zwei Monate vor Beginn der denkmal, der europäischen Leitmesse für Denkmalpflege, Restaurierung und Altbausanierung. „Das war heftig. Wenn man die ersten sechs Monate überstanden und die Prozesse verinnerlicht hat, entspannt sich das.“
In der Folgezeit ist Wisotzki für ein Portolio diverser Fachmessen verantwortlich. 2015/16 kommt mit dem Gaming-Festival Dreamhack eine veritable Publikumsveranstaltung mit deutlich höherem Medienrauschen dazu – sie beschert dem Kommunikations-Arbeiter auch die erste Pressekonferenz per Live-Stream, heute eine Alltäglichkeit. Die Corona-Zeit erlebt Wisotzki einerseits als „frustrierend“, da Veranstaltungen, die komplett geplant und vorbereitet waren, aufgrund der Auflagen ins Wasser fielen. Auf der anderen Seite gab es jedoch auch genug Freiraum, um sich auf neue Themen und Projekte einzulassen: Als die Leipziger Messe ihre Weblandschaft komplett umstellt, begleitet und steuert Wisotzki bei einigen Webseiten den Transformationsprozess.
Offiziell ist Felix Wisotzki Mitte August als Buchmesse-Pressesprecher gestartet. „Die Wochen vor meiner Premiere im März waren schon ein wilder Ritt. 80 bis 100 Mails und dutzende Anrufe am Tag waren die Regel.“ Die Aufgaben reichen von der Organisation der klassischen Pressekonferenz bis zum vertraulichen Hintergrundgespräch, in Fachkreisen „unter drei“ genannt. Bewährungsproben sind das erste Pressegespräch der neuen Buchmesse-Direktorin Astrid Böhmisch mit ausgewählten Medienvertretern im Januar oder die Vorab-Pressekonferenz im Februar im Ost-Passage Theater. Lampenfieber? Das nicht, aber: „Auf diesen Termin waren doch deutlich mehr Augen gerichtet als auf die Pressekonferenzen, für die ich bislang zuständig war. Ein Kribbeln war da schon!“ Großartig die erste Pressereise in die Niederlande und Flandern, die Wisotzki in neuer Funktion im Januar begleitet. „Ich habe viel über das Buchmesse-Gastland gelesen“, sagt er, „aber ein wirkliches Gefühl für Kultur und Leute habe ich durch die Reise bekommen.“ Nicht immer ist so eine Expedition vergnügungssteuerpflichtig: „Ich habe meist aufs Frühstück verzichtet, um meinen ‚eigentlichen’ Job zu machen, auch abends im Hotel saß ich noch mal zwei Stunden am Rechner.“ Und dann: Buchmesse-Premiere! „Wenn alles vorbereitet ist und der erste Messetag läuft“, verrät Wisotzki, „setzt bei mir eine Art Tiefenentspannung ein – so viel kann jetzt nicht mehr schiefgehen.“ Das Adrenalin, so der Pressesprecher, sei schon noch da – aber man spüre „eine gewisse Grundsicherheit, die einen trägt“.
Leipzig kennt Felix Wisotzki schon lange als „ungeheuer lebenswerte und attraktive Stadt“ – als leidenschaftlicher Schwer-Metaller, der einen großen Teil seiner Freizeit mit dem Besuch von Konzerten, dem Hören von Schallplatten und dem Lesen dickleibiger Musik-Bücher verbringt, besuchte er regelmäßig das Wave-Gotik-Treffen. Obwohl Leipzig konzertmäßig eigentlich kaum Wünsche offenlässt, zieht es Wisotzki und seine Frau hin und wieder in die weite Welt: Die Hochzeitsreise führte das Paar 2023 aufs Metal-Festival Beyond the Gates im norwegischen Bergen, in dem selbst die ehrwürdige Grieg-Halle als Location dient. Eine weitere Liebe Wisotzkis, neben Literatur und heftiger Musik, gehört dem Bierbrauen. Sechs, sieben Mal im Jahr werden Gärbottich und Braukessel aus dem Schrank geholt, und beim Abfüllen des Gerstensafts verbinden sich Leidenschaften aufs schönste: Vorlage für die Etiketten ist zumeist ein Platten-Cover, das zum Getränk passt. Der Name der Ein-Mann-Hobbybrauerei, Furor Divinus, geht auf einen Song-Titel einer polnischen Metal-Band zurück. Wenn es Behemoth, so nennen sich die Herrschaften, Anfang August in Bergen krachen lassen, wird auch Felix Wisotzki vor der Bühne stehen.
Nur Headliner: Während man mittags auf Festivals üblicherweise Bands sieht, deren Namen man noch nie gehört hat, fangen sie bei Lesen für die Demokratie im Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) gleich mit Headlinern an – und bleiben den restlichen Tag auf diesem Niveau. Es ist 13 Uhr, fast noch high noon, und auf der Bühne in der Wächterstraße moderiert Cornelius Pollmer von der „Süddeutschen“ gerade Charlotte Gneuß an, deren Debütroman Gittersee im letzten Jahr unter anderem den „aspekte“-Literaturpreis abräumte und eine veritable Feuilleton-Keilerei darüber auslöste, wer über den Osten schreiben darf und wer nicht. Gneuß macht den Auftakt für einen 12-Stunden-Spendenmarathon, nach ihr sind noch mehr als 20 andere Autorinnen und Autoren zu erleben, von Lene Albrecht, Matthias Jügler und Paula Fürstenberg bis Sophia Fritz oder Dilek Güngör.
Zu erleben sind die literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs, dazu gibt’s Melonen-Bowle. Der Eintritt ist frei, aber alle gesammelten Spenden gehen – über den Leipziger Förderverein Land in Sicht an Projekte in ländlichen Regionen Sachsens, die sich mit ihrer kulturellen und sozialen Arbeit für Weltoffenheit und ein demokratisches Miteinander engagieren. Die Initiative kam von der in Leipzig lebenden Autorin Verena Keßler (*1988), die auch am DLL studiert hat und 2020 mit Die Gespenster von Demminein viel beachtetes Debüt hingelegt hat. Sechs Wochen vor der Buchmesse entschloss man sich, die Lesung zu organisieren. „Bücher können die Welt nicht verändern“, sagt Keßler, auf den Veranstaltungstitel angesprochen. „Aber sie können gesellschaftliche Themen aufgreifen, kommentieren. Die Texte stehen dann für sich.“
Widersprüche aufzeigen, neugierig bleiben: In seiner Leipziger Rede zu 35 Jahren Friedliche Revolution und 35 Jahren Grundgesetzt hatte Bundespräsident Steinmeier auch über die Kraft der Literatur gesprochen. Mit Blick auf den einst in Leipzig lehrenden Romanisten Werner Krauss, der Literatur als die „Innenseite der Weltgeschichte“ bezeichnete, sprach Steinmeier von einer ganz besonderen Fähigkeit literarischer Texte: Sie können Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen. Genau darin liege die Stärke einer neuen Generation ostdeutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu Zeiten des Mauerfalls Kinder oder noch gar nicht geboren waren – Anne Rabe, Manja Präkels, Lukas Rietzschel, oder Matthias Jügler nennt Steinmeier stellvertretend. Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen – das gelang dieser zweifellos politisch hoch aufgeladene Buchmesse in ihren besten Momenten.
Die Sprache bringt es an den Tag: Stephan Anpalagan ist der „Lieblingscousin an der Familientafel Deutschland“, das hat Micky Beisenherz mal gesagt, aber wenn er – klug und rhetorisch brillant – mit ein, zwei druckreif formulierten Sätzen den Kern eines Problems freilegt, kann man auch auf einem lärmumtosten Buchmesse-Forum die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hören. Stephan Anpalagan, 1984 in Sri Lanka geboren, aufgewachsen in Wuppertal, ist Geschäftsführer einer Gemeinnützigen Strategieberatung, Lehrbeauftragter an einer Polizeihochschule in NRW, Podcaster und Autor, heimste womöglich die Hälfte der Redezeit auf einem rappelvollen, vom PEN Berlin organisierten Podium am Buchmesse-Sonntag ein, das mit der „aspekte“-Literaturpreisgewinnerin Miku Sophie Kühmel und dem Autor Max Annas eh schon gut besetzt war. Die von Sophie Sumburane moderierte Runde Wie Rechte reden ging vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen im Osten der Frage nach, wie Sprache Radikalisierung beeinflusst – und was andererseits Sprache und Literatur im Kampf gegen Rechtsextremismus tun können. In einer etymologischen Tour de Force erinnerte Anpalagan daran, dass es die Mitte der Gesellschaft und etablierte Medien waren, die von „Döner-Morden“ sprachen und schon bald nach der Selbst-Enttarnung der „Zwickauer Terrorzelle“ um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe deren Selbstbezeichnung „NSU“ übernahmen.
Young Adult: Im Herbst fielen sie schon am Main auf, zur Leipziger Buchmesse sind die Schlangen noch länger geworden. „Cold Heart“, „Delicate Dream“ oder „Fallen Princess“ heißen die meist farbschnittigen Bücher. Befeuert durch die sozialen Medien, ganz vorne Instagram und BookTok – die Büchern gewidmete Variante von TikTok – ist ein veritables Kauf-Fieber ausgebrochen. Nach Jahren der Hiobsbotschaften scheint eine ganze Branche aufzuatmen. Die am Messe-Donnerstag vom Börsenverein veröffentlichte Studie Bock auf Buch! – Wie junge Menschen heute Bücher finden und kaufen zeigt jedoch, dass für mehr als die Hälfte der 20- bis 29-jährigen Leserinnen und Leser Buchhandlungen noch immer eine wichtige Inspirationsquelle sind. Young Adult nennt die Branche das neue Belletristik-Subgenre. Viele Verlage haben Imprints gegründet, um auf der Welle mitzureiten: Piper hat Everlove, Rowohlt das Label Kyss, bei Oetinger heißen sie Moon Notes – Colleen Hoover, eine der erfolgreichsten Autorinnen des neuen Hypes, wird bei dtv verlegt. Bastei Lübbe hat schon 2007 Lyx gegründet. Das Imprint der Kölner sorgt für die wohl längste Schlange, die sich je vor einem Leipziger Verlagsstand materialisierte – Günter Grass im Literaturhimmel könnte neidisch werden.
Poesie der Unzugehörigkeit: „Geschriebene Worte sind wie Fische, die man in den Brunnen einer neuen Wirklichkeit wirft“, meint der Nordmazedonier Nikola Madjirov. „Ihr Zappeln hält das Wasser sauber.“ Für den Titel des TRADUKI-Programms auf der Leipziger Buchmesse haben sich die Organisatorinnen bei eben jenem Dichter-Philosophen bedient – und seinem Essay über die „Unzugehörigkeit“. Ein Gefühl, das oft – und weit übers schreiben hinaus! – ins echte leben lappt. Schmerzhaft kann es sein, wenn man zu den ‚Seinen’ auf Distanz geht, gehen muss. Doch auch schöpferische Kraft kann sich an dem Gefühl entzünden: „ich denke, das ist der stille Fluch der Schriftsteller“, schreibt Madjirov, „die Zugehörigkeit genau in dem Augenblick zu verraten, in dem sie beginnen, sich zugehörig zu fühlen.“
All das wurde auf der Bühne der TRADUKI-Kafana verhandelt, von Newcomern und alten Leipzig-Hasen. Im Café Europa, einer der politischen Buchmesse-Bühnen, organisierte TRADUKI heuer zwei Podien: Eines diskutierte die slowenische Minderheit im faschistischen Italien, das andere die Situation des feministischen Diskurses in Südosteuropa. Und was wäre ein TRADUKI-Programm ohne seine berühmt-berüchtigte Balkannacht? Eben. Im legendären UT Connewitz gaben sich am Messe-Samstag, moderiert von Vivian Perkovic und Amir Kamber, Barbi Marković, Nataša Kramberger, Bojan Savić Ostojić, Rene Karabash und Alexandru Bulucz die Klinke in die Hand. Für heiße Musik sorgte die charismatische kroatische Musikerin Sara Renar.
An die Freude: Nach fünf langen Jahren war es wieder soweit: Die Leipziger Buchmesse und MDR Klassik luden alle sangesfreudigen Menschen ein, gemeinsam mit dem MDR-Rundfunkchor als Buchmessechor zu singen und die Glashalle der Leipziger Messe in einen Konzertsaal zu verwandeln. Unter der musikalischen Leitung von Julia Selina Blank wurde das diesjährige Gastland Niederlande und Flandern mit den Titeln „Sur le pont d’Avignon“ von Vic Nees und „Deo gratia à 36“ von Johannes Ockeghem geehrt. Teil des musikalischen Großerlebnisses war die Schlagzeugerin Vivi Vassileva, die zwei Solostücke zum Besten gab. Nach Karl Jenkins „Adiemus“ verabschiedete sich der Buchmessechor mit Ludwig van Beethovens „Ode an die Freude“. MDR Klassik hat ein ziemlich cooles Making-of Buchmessechor gedreht – unbedingt anschauen, genießen und nächstes Jahr mitmachen!
„Am Anfang war das Wort und nicht die Zahl.“ Ein Satz des legendären Verlegers Kurt Wolff, der die Haltung der heutigen Gründergeneration noch immer ziemlich treffend beschreibt. Mit Fortüne und Phantasie sorgen unabhängige Verlage dafür, dass unsere Bücherlandschaft auch in Zeiten zunehmender Konzentration bunt und vielfältig bleibt. Ihre Geschichten erzählen von Freiheitsnischen, von geglückter Improvisation und fröhlichen Zufällen. Sie fürchten die Logik der Ökonomie eben so wenig wie die Konkurrenz der Großen. Sie wollen erfolgreich Bücher verkaufen – und doch authentisch, ganz nah bei ihren Leserinnen und Lesern bleiben.
Graswurzel-Bewegung: Gemeinsam hat man viel erreicht: Der Indiebookday, vom Hamburger Mairisch Verlag in bester Graswurzel-Tradition angestoßen, hat sich im Kalender etabliert. Die Hotlist, 2009 aus der Taufe gehoben, lenkt das Scheinwerferlicht von den großen Literaturpreisen auf den Reichtum der Verlagslandschaften insgesamt. In Leipzig, wo seit 2001 der Kurt-Wolff-Preis vergeben wird, sind Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Veranstaltungsorten Magneten fürs Lesepublikum.
Lecker Kaffee & mehr: Seit März 2015 ist das Forum Die Unabhängigen Herzstück des Auftritts der Independent-Verlage. Das Gemeinschaftsprojekt von Kurt Wolff Stiftung und Leipziger Buchmesse schiebt nicht nur quasi non-stop Verlagsprogramme an die Rampe. Es gibt auch den Menschen hinter den Kulissen ein Gesicht: Verlegerinnen und Verleger moderieren die Veranstaltungen und schenken an der Bar den leckersten Kaffee der Messe aus. In diesem März war das Forum zum siebten Mal in Halle 5 zu finden.
Menschen, Bücher, Sensationen: An vier Messetagen gingen im Halbstunden-Takt an die 50 Veranstaltungen von über 40 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz über die Bühne – von klassischen Lesungen und Buchpräsentationen bis zu Empfängen wie dem „Buchhandelstreff“ – der Empfang der Forums-Organisatoren für Buchhändlerinnen und Buchhändler – oder Preisverleihungen wie der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik an Wolfgang Matz. Die vermutlich längste Fanschlange nach den Jung-Adult-Heerscharen erfuhr der Berliner Lukas Verlag, der sich anlässlich seiner von Herausgeber Ekke Maaß vorgestellten Bulat-Okudschawa-Ausgabe „Mein Jahrhundert“ einen Gastauftritt des alten Kämpen Wolf Biermann gönnte.
Über Bücher sprechen: Auch Podiumsdiskussionen waren Bestandteil des Forums. Zum Thema „Bücher, die wissen, wo sie stehen – Furchtlos mit Büchern handeln“ organisierte die Initiative Verlage gegen Rechts eine Diskussion mit Kolleginnen der Buchhandlungen drift, heiter bis wolkigund Rotorbooks. Unter dem Titel „Über Bücher sprechen: Unabhängige Literaturpodcasts heute“ diskutierten Carolin Callies, Nefeli Kavouras und Ludwig Lohmann über die Frage, was Literaturpodcasts für die Sichtbarkeit von Literatur leisten können.
Was trinken wir? Alles! Highlight im an Höhepunkten nicht wirklich armen Forums-Programm war natürlich die Verleihung des mit 35.000 Euro dotierten Kurt-Wolff-Preises an den AvivA Verlag, der seit einem Vierteljahrhundert unter der Leitung von Britta Jürgs mit nicht nachlassender Energie und großem Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung bringt. Der mit 15.000 Eurodotierte Kurt-Wolff-Förderpreis 2024 ging an den Verlag mikrotext, in dem die Verlegerin Nikola Richter seit 2013 mit einem originellen Mix aus Hardcover, Paperback, Taschenbuch, E-Book und Podcast Kurzprosa und Roman, Reportage und Reflexion, Essay und Songtext, Lyrik und Soziale-Medien-Dichtung zusammenführt und so die Gegenwartsfähigkeit der deutschsprachigen Literatur befördert.
Neue Verlegerinnen braucht das Land: Ihre so kurzweilige wie pointierte Ladatio nutzte die Verlegerin, Autorin und Übersetzerin Zoë Beck, die erst vor ein paar Tagen mit der Trägerin des Förderpreises verwechselt worden war („Sie sind doch die ähm, na, Mikrotext-Frau, ach nee! Sorry … aber Sie waren ja auch eine von denen …?!“), um überkommene, aber immer noch wirkmächtige Geschlechter-Klischees der Branche aufzuspießen. „Liebe Britta, liebe Nikola, danke, dass ihr nicht tut, was von euch erwartet wird“, sagte Beck, „denn dadurch seid ihr Vorbilder, Weggefährtinnen, Verbündete und Vertraute in dieser Branche, in der zwar Frauen in der Überzahl sind, die in entscheidenden Positionen aber doch oft genug wieder ganz konventionell, ganz traditionell, ganz formell männlich dominiert ist, mit allen Ritualen, die dazugehören, mit allen Filtern und Schlagwörtern und Algorithmen, die Erfolg definieren wollen.“
Spätausgabe: Zum vierten Mal wechselte das Forum Die Unabhängigen nach Messeschluss in die Stadt. Am Messesamstag fanden sich im chabby-schicken Jugendstil-Ambiente des Westflügels der Schaubühne Lindenfels neunzehn Autorinnen und Autoren aus Deutschland, der Schweiz und Österreich ein. Mit dabei: Die Debüts von Laura Leupi und Luca Mael Milsch, die Romane von Kathrin Aehnlich, Reda El Arbi, Sebastian Guhr, Julia Hoch, Barbara Kadletz Dominika Meindl, Jürgen Teipel und Meri Valkama, Satirisches und Humorvolles von Matthias Brodowy, Ruth Herzberg und Susanne Riedel, Lyrik mit Jan Volker Röhnert und Tom Schulz sowie Sachbücher von Uta Bretschneider und Jens Schöne, Francis Seeck, oder Iris Antonia Kogler. Für Statistik-Feinschmecker: Insgesamt waren heuer 61 Verlage beim Forum Die Unabhängigen und der Spätausgabe beteiligt, darunter 52 Verlage aus Deutschland, sechs aus Österreich und drei aus der Schweiz.
Treffen, Trüffel, Torten: Dass die Connewitzer Verlagsbuchhandlung am Messe-Samstag zu einem Bunten Tag im Wörtersee einlädt, ist inzwischen schon gute Tradition. Bei Kuchen und gepflegten Getränken konnte man seine Lieblings-Autoren und –illustratorinnen treffen – und sich die frisch erstandenen Bücher und Druckgrafiken gleich live signieren lassen.
Watchmen-Muffin: Literatur geht durch den Magen, pflegte Lojze Wieser zu sagen, wenn er am Buchmesse-Stand seines Verlags dicke Scheiben Kärntner Bauerschinkens säbelte. Hannes Riffel, Verleger des 2023 in Wittenberge gegründeten Carcosa Verlags, hat seinen Stand bei der Messe-Premiere bewusst im Independent-Umfeld in Halle 5 aufgeschlagen, bei den Kolleginnen und Kollegen von Argument, Alexander, Edition Natulius, Orlanda, Unrast oder der VSA. Wer Riffel besuchte, bekam einen eigens für die Buchmesse fabrizierten Watchmen-Muffin angeboten: Das Gebäck ist eine Reverenz an Alan Moores und Dave Gibbons’ weltberühmte Graphic Novel gleichen Namens, will uns aber zaunpfahlartig noch etwas Anderes sagen: Im kommenden Herbst wird Carcosa die deutsche Erstausgabe des Riesenromans „Jerusalem“ von Alan Moore bringen, ein Werk jenseits der 2000 Manuskriptseiten und „eines der wunderbarsten und verstörendsten Bücher“, die der Verleger und Übersetzer Riffel je gelesen haben will.
Besser Leben: Nimmt man die Veranstaltungsdichte der Buchmesse, scheint für die Dichtung mehr als nur Hoffnung zu bestehen. So viele hochkarätige Lyriklesungen wie in den vier Buchmesse-Tagen gibt es selten: Da ist etwa die Lyriknacht Teil der Bewegung in der HGB, organisiert von EDIT, kookbooks, Schöffling und anderen, da ist die Lyrik-Lesung mit dem zauberhaften Titel „Das Vermisste ist final“ (und dem vielleicht schicksten Lesungs-Plakat der Messe) im „Besser Leben“ in Schleußig. Und da ist an drei Messeabenden die temporäre Lyrikbuchhandlung in der Galerie KUB in der Südvorstadt, organisiert von Ulrike Feibig, Tim Holland und Fabian Thomas.
Lyriktipps, jetzt auch für Kids: Die Lyrikbuchhandlung – Veranstaltungsformat und tatsächlich längster Verkaufstresen in einem – versteht sich als Präsentations- und Vernetzungsplattform für Verleger und Autoren zeitgenössischer Gedichte. Seit 2019 sind auch die Lyrik-Empfehlungen zu Gast, die traditionell am Welttag der Poesie, dem 21. März, bekanntgegeben werden. Kritikerinnen und Kritiker haben zehn deutschsprachige und zehn ins Deutsche übersetzte Gedichtbände ausgewählt, beachtet wurden Neuerscheinungen von Anfang 2023 bis März 2024. Neu sind heuer die Lyrikempfehlungen für Kinder – elf Bücher für Kids zwischen drei und elf.
Wenn die Leipziger Buchmesse mehr als ein Marktplatz der Eitelkeiten ist, dann ist ihr Preis, der in diesem Jahr zum 20. Mal vergeben wurde und mit dem bislang 58 Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer geehrt wurden, mehr als nur ein Marketing-Tool. Für Jury-Sprecherin Insa Wilke ist „der Preis vom Herzschlag der Messe nicht zu trennen“: Die Buchbranche – und damit eben auch die Messe und ihr Preis – seien eine Art „Resonanzverstärker der gesellschaftlichen Lage“.
Hier werden, so Wilke, Konflikte sichtbarer und deutlicher Formuliert als in anderen Bereichen. Insofern sei auch ein zentraler Vorwurf, ausgesprochen von verschiedenen Seiten, in verschiedene Richtungen adressiert, hier besonders scharf akzentuiert: Schweigen. Es ging in den letzten sechs Monaten ums Verschweigen von Leid, das Schweigen zu Traumata – in Israel, aber auch in Gaza und im Westjordanland. Auch die Buchmesse-Eröffnung stand unter diesem Vorwurf. „Ich hoffe“, so Insa Wilke in ihren nachdenklichen Bemerkungen unter der Glashallenkuppel, wo doch alle zum unbeschwerten Feiern gekommen waren, „dass wir die tiefen Gräben des voneinander Verlassenseins wenigstens im Nachhinein werden ansprechen können“. Werden wir dazu in der Lage sein, die „Gleichzeitigkeit von Unrecht“ (Meron Mendel) auszuhalten?
Bücher und die, die sie schreiben, kennen sich aus mit den vielen Formen des Schweigens – auch davon ist Insa Wilke überzeugt. 486 Einreichungen aus 177 Verlagen hat es 2024 gegeben; viele der 15 nominierten Titel öffnen sich, wenn man sie in Auseinandersetzung mit diesem Schweigen liest – auch wenn dies kein Kriterium für ihre Auswahl ist. „Es geht nicht nur um beste Bücher, sondern um Aufmerksamkeit für künstlerische Versuche, Gedanken und Erfahrungen zu formulieren, Problemlagen zu beschreiben.“ Bücher brauchen ein Gegenüber. „Es funktioniert nicht ohne die, die lesen. Der Ball liegt auch bei Ihnen!“
„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, wusste schon Karl Kraus. Dass der Preis der Leipziger Buchmesse im Zweifel auf das Übersehene, scheinbar Entlegene, nicht selten auch Sperrige setzt, hatten bereits die Nominierungen des Jubiläums-Jahrgangs gezeigt: Da fand sich mit Anke Feuchtenbergers genialem, autofiktionalem Werk „Genossin Kuckuck“ in der Belletristik erstmals eine Graphic Novel; in der Sachbuch-Kategorie fand mit der umfangreichen Sammlung von „Jahrhundertstimmen 1945-2000“ ein großartiges Hörbuch-Projekt Aufnahme.
Fast logisch, dass es nun Außenseitersiege in Serie gab: Sichtlich überwältigt und zu Tränen gerührt war in der Sparte Übersetzung die koreanische Übersetzerin Ki-Hyang Lee, die mit ihrer Übertragung von Bora Chungs „Der Fluch des Hasen“ (CulturBooks) siegte: Sie erinnerte sich an ihre „Rucksackreise“ quer durch Europa kurz nach dem Fall der Mauer und ihre erste Begegnung mit Leipzig. Der Preis, so Lee, sei „ein großer Trost“ für ihre 20-jährige einsame Arbeit. „Leipzig leuchtet heute so schön.“
Im Sachbuch entschied sich die Jury mit Tom Holerts „ca. 1972 – Gewalt, Umwelt, Identität, Methode“ (Spector Books)für eine ungewöhnliche Mischform aus Essay, Kunstprojekt, mentalitätsgeschichtlicher Recherche und Theorie – der Kritiker der „Süddeutschen“ wollte darin „eine Art Coffee-Table-Buch für Volksbühnen-Ultras“ erkennen, und Autor Tom Holert war zunächst auch komplett baff über die Juryentscheidung. Als er seine Worte wiedergefunden hatte, danke er dem Grafiker Elias Erkan, der nicht nur „ca. 1972“ gestaltet – sondern heuer auch den mit 3000 Euro dotierten Hauptpreis beim Walter Tiemann Preis 2024 abgeräumt hat. „Das Buch dekliniert einen Begriff durch, der bei der Buchmesse-Eröffnung auch eine Rolle gespielt hat, so Holert zu seinem ausgezeichneten Werk, „den Begriff der Radikalität“. Und weiter: „Es gibt keine saubere Form des Radikalseins!“
Ein Satz, den vermutlich auch Barbi Marković unterschreiben würde. Die 1980 in Belgrad geborene und in Wien lebende Erzählerin gewann mit ihrem Roman „Minihorror“ (Residenz) den Preis in der Belletristik-Kategorie. Mini und Miki heißt das comichafte Pärchen, das von Marković wie weiland Tom und Jerry durch ein Abenteuer namens „Alltag“ gejagt werden. Der Literaturwissenschaftler und Pop-Experte Moritz Baßler zählte sie in seiner kurzen Laudatio noch einmal auf, die Elemente unserer Situation, die Marković in ihren Geschichten von Mini und Miki montiert: „Hinten die Kriegsverbrechen, vorne der Klimawandel, dazwischen aber Linsenchips, die Blondierung beim Friseur und die neue Küchenplatte bei IKEA.“
Wie witzig Barbi Markovićs Prosa ist, demonstrierte die Autorin dann in ihrer Dankesrede, die sie vom Display ihres Smartphones ablas – und die, ganz im Stil ihres Romans, gegen alle Konventionen verstieß: „Mini bekommt den Preis der Leipziger Buchmesse und sie muss eine Rede halten… Eine Rede, die alle Probleme der Gegenwart lösen wird. Mini liest vor und die Welt bleibt gleich; das Publikum wendet sich von ihr ab… Minis Rede ist ein schreckliches Debakel und sie wird sofort aus der Welt der Literatur rausgeworfen. Mini muss den Preis zurückzahlen… Sie muss nach der Messe aufräumen.“ Ihre Fangemeinde konnte Barbi Markovićs mit diesem Auftritt schon mal deutlich vergrößern: „Minihorror“ befindet sich derzeit in der vierten Auflage.
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