Auf Sendung

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Fotos: Martin Neuhof

Stell’ Dir vor es ist Buchmesse, und alle gehen hin: Ein sonniger Donnerstagmorgen Mitte März, aus dem Bürofenster im Verwaltungsgebäude der Leipziger Messe sind Menschenpulks zu sehen, die von den Straßen- und S-Bahn-Haltestellen Richtung Glashalle strömen. Toll, so viel ist fakt, wenn man an gefühlt 364 Tagen zuvor für die Leipziger Buchmesse getrommelt hat. Für Constanze Hilsebein, Kommunikationsmanagerin Werbung bei der Messe, kommt der eigentliche Flash üblicherweise schon zwei Wochen vorher: „Wenn ich durch die Innenstadt laufe und unsere Citylight-Plakate sehe. Wenn ganz Leipzig rot trägt. Und leuchtet. 2020 hingen die Poster ja schon.“ Was kam, ist bekannt: Die Vollbremsung aus ICE-Hochgeschwindigkeit, die erste pandemiebedingte Absage einer Leitmesse im deutschsprachigen Raum. Schockstarre, sich berappeln. Langes banges Hoffen und Vorbereiten, dann „Leipzig liest extra“ statt Buchmesse. Nicht lamentieren, sondern auf ein Neues. Alle Kräfte angespannt und losgelaufen: Das Ziel März 2022 so fest im Blick wie die täglichen Inzidenzen. Ein hochemotionales Stop-und-go über nun fast zwei Jahre. Jeder und jede in der Branche hat eigene Erfahrungen damit.

Wie darüber sprechen? Einfach auf bessere Zeiten warten, oder darauf, dass alles so wird wie früher, vor Corona? Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat Ende der Sechziger festgestellt, dass „wir nicht nicht kommunizieren“ könnten. Das gilt nicht nur für Plaudertaschen und notorische Tratschen, sondern auch für Kommunikations-Profis. Fragt sich also, wie die Werbefrau Constanze Hilsebein, Onlinerin Lydia Schaffranek und Pressesprecherin Julia Lücke, die Drei, die für die Leipziger Buchmesse das Redeholz in der Hand haben, in Zeiten wie diesen arbeiten. Kommunizieren. Und wer, bitte, sind diese drei Frauen eigentlich, von denen auf der Buchmesse-Website nur Kontakt und Foto hinterlegt ist?

„Wenn alles klappt, wie wir hoffen, wird 2022 erst meine fünfte Buchmesse“, sagt Julia Lücke, die seit 2015 als Pressefrau an Bord ist. Zwei Elternzeiten und Corona, so kann’s gehen. Lücke, gebürtige Leipzigerin, studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Obwohl sie fast alle Praktika in Redaktionen absolvierte, entschied sie sich bewusst für eine PR-Laufbahn. Der erste Job führte sie für drei Jahre nach Köln, zur Werbeagentur Rheinfaktor: „Das war zum Einstieg eine coole Sache, weil man sich überall ausprobieren konnte – vom Texten, das mir am meisten Spaß gemacht hat, bis zu Online-Marketing und Veranstaltungs-Management. Für den ADAC etwa haben wir eine Riesen-Roadshow organisiert.“ Der Job war interessant und fordernd, vor acht oder zehn Uhr kam Lücke selten aus dem Büro. Als die Sehnsuchts-Signale der alten Heimat unüberhörbar wurden, suchte sie nach Alternativen – und heuerte 2011 im Kommunikationsteam der Leipziger Messe an, wo sie zunächst diverse andere Publikumsmessen betreute. Nach drei Jahren dann der Wechsel zur Buchmesse; dazu betreut Julia Lücke die Erlebnismesse modell-hobby-spiel.

„Mit kleinen Herausforderungen fangen wir gar nicht erst an!“ So forsch und alle potenziellen Zweifel im Keim erstickend wurde Constanze Hilsebein von der Chefin der Kommunikations-Abteilung empfangen, als sie 2011, zunächst in Elternzeit-Vertretung, als Werbereferentin für die Buchmesse begann. „So habe ich schwimmen gelernt“, sagt sie lachend, „und bin nicht untergegangen“. Hilsebein, in Wurzen geboren, studierte an der Hochschule Harz in Halberstadt, die sie als diplomierte Verwaltungsökonomin für öffentliches Dienstleistungsmanagement verließ. „Ich hatte anfangs erwogen, eine Polizeilaufbahn einzuschlagen; in Halberstadt hatten sie auch Polizei- und Ordnungsrecht im Portfolio. Ich habe recht bald gemerkt: Das ist nicht meins. In die Branche bin ich aber schließlich über die Vertiefungsrichtung Kommunikation/Marketing gekommen.“ Praktika führten Hilsebein zur Leipzig Touristik und Marketing GmbH (LTM) und 2010 auch zur Leipziger Messe, wo sie unter anderem für die Auto Mobil International (AMI) tätig war. Nach einem kurzen Intermezzo bei den Versicherungsforen Leipzig ist Hilsebein seit August 2014 fest für die Leipziger Buchmesse tätig. Über ihren Schreibtisch geht alles, was die Markenführung der Messe angeht, von der Einhaltung der CI-Richtlinien über die Abstimmung mit Agenturen bis hin zur Erstellung der Print-Produkte und Anzeigen. Klassisches Werbe-Einmaleins, eigentlich. Doch die Herausforderung ist groß: Wenn der Frühjahrs-Aufgalopp der Branche ansteht, schauen alle nach Leipzig. „Der Aufschlag muss sitzen.“

„Dieses aufgedrehte Summen und Brummen, das hat mich sofort selbst unter Strom gesetzt. Und dann kamen da noch Leute mit Blumensträußen und einer Torte vorbei! Echt jetzt?“ Ausgerechnet an einem Buchmesse-Mittwoch war Lydia Schaffranek im März 2015 nach Neuwiederitzsch gefahren, um sich für ein Praktikum bei der Leipziger Messe zu bewerben. Damals wurden es dann drei Monate Arbeit für die modell-hobby-spiel. Doch auch dieser Buchmesse-Flash wirkte weiter. Schaffranek stammt, wie ihre Kollegin Hilsebein, aus dem Muldental. Sie wuchs im 40 Kilometer von Wurzen entfernten Grimma auf – und schrieb sich nach dem Abitur 2009 für ein Soziologiestudium in Leipzig ein. „Meine Eltern hätten BWL lieber gesehen“, erzählt sie. „Ich habe nach einer Kombi aus Sozialwissenschaften und etwas halbwegs ‚Handfestem“ gesucht.“ Wohin es die seit Schulzeiten internetaffine junge Frau mit geisteswissenschaftlichem Master beruflich treiben würde, war anfangs schwer abzusehen. Nach dem Studium stieg sie bei einer kleinen E-Commerce-Agentur ein und wechselte im Herbst 2018 in den Bereich Neuproduktentwicklung der Leipziger Messe. Nach einem Zwischenspiel bei einer internationalen Agentur betreut sie seit Juli 2021 als Online-Managerin die Webseite der Leipziger Buchmesse und alle Social-Media-Kanäle, natürlich auch den Blog, den Sie gerade lesen. Daneben kümmert sich Lydia Schaffranek um die digitalen Belange der CosmeticBusiness, einer Fachmesse der Kosmetik-Zulieferindustrie, die die Leipziger in München veranstalten. Seit letzten Jahr sind die Onliner dabei, die Unternehmenswebseite und Präsenzen der einzelnen Veranstaltungen der Leipziger Messe auf ein neues System zu migrieren. Buchmesse und Manga Comic Con (MCC) sind längst umgezogen, doch gerade in Pandemiezeiten steht die Frage, welche digitalen Erweiterungen Sinn machen, beständig auf Wiedervorlage.

Der von Julia Lücke ins Spiel gebrachte Begriff der „Inhouse-Agentur“ beschreibt recht gut, wie die Arbeit der drei Kommunikations-Frauen im Buchmesse-Kosmos zu denken ist: „Wir sind feste Key-Accounterinnen für das Kern-Team. Wir gehören ihm zwar strukturell nicht an, die Kolleginnen denken uns jedoch stets mit.“ Soll ein herausgehobenes kulturpolitisches Hintergrundgespräch über die 2021 enorm gehypten Clubhouse-App geführt werden – oder heute besser über den Live-Audio-Dienst Twitter Spaces? „Man vertraut auf unsere Expertise“, ist Schaffranek überzeugt, „und ist sehr offen für unsere Einschätzung“. Einmal pro Woche, immer mittwochs, gibt es eine komplette Teamrunde. Auch bei strategischen Themen sind die Drei von der Kommunikations-Stelle früh in die Prozesse involviert – „viel enger, als es bei einer klassischen Agentur je der Fall wäre“. Dieser Verklammerung konnte auch Corona nichts anhaben – trotz zeitweiliger Kurzarbeit, Homeoffice und einer internen Umstrukturierung, die den Schreibtisch der Onlinerin Lydia Schaffranek in ein anderes Büro der Messe-Verwaltung beamte. „Wir fangen das durch Chatprogramme, die gute alte Telefon-Konferenz oder regelmäßige jour-fixes ab“, meint Constanze Hilsebein. „Ich habe nicht das Gefühl, dass uns Themen verloren gehen.“

Dass die drei Frauen neben dem Leuchtturm Buchmesse auch noch andere Veranstaltungen betreuen, ist für Julia Lücke in Pandemiezeiten eher ein psychologischer Vorteil: Mit den im Oktober in Leipzig und München wieder physisch durchgestarteten Messen ließ sich ein Stück „Vertrauen ins Gelingen“ zurückerobern. „Selbst vorübergehende Limitierungen haben der Wiedersehens-Euphorie keinen Abbruch getan“, sagt Lydia Schaffranek, die als aktive Buchmesse-Mitarbeiterin noch keine Leipziger Buchmesse erlebt hat. „Die Leute wollen sich sehen, im richtigen Leben und nicht nur via Zoom & Co.“ Auch Julia Lücke fiebert auf Tage wie den Messe-Mittwoch: Vormittags die von ihr geleitete Eröffnungs-Pressekonferenz, ein Kraftakt. Abends die ersten Töne des Gewandhaus-Orchesters. „Ein irrer Moment.“ Wenn es für das Team Lücke, Hilsebein und Schaffranek – ach was, für uns alle! – nur einen Funken höhere Gerechtigkeit gibt, hat es die Leipziger Buchmesse in diesen Minuten wieder in die „Tagesschau“ geschafft.

„Wir suchen gemeinsam nach guten Entscheidungen“

„Wir suchen gemeinsam nach guten Entscheidungen“

Foto: Mathias Bothor

Sie sind in vielen Rollen im literarischen Feld unterwegs, etwa als Kritikerin oder Organisatorin eines Literaturfestivals. Was zeichnet die Jurorin Insa Wilke aus?

Insa Wilke: Als Freiberuflerin betreibt man ja ohnehin eine Art Mehrfelderwirtschaft. Dahin hat es sich auch im Laufe meines Arbeitslebens entwickelt. Inzwischen hat sich eine Wechselbeziehung zwischen all den Bereichen eingestellt. Ein Punkt ist interessant für die Juryarbeit: die Wechselbeziehung zwischen Moderation und Kritik. Als ich anfing, hatte ich noch ein recht naives Verständnis von Kritik: Daumen hoch, Daumen runter, gut oder schlecht. In der Moderation habe ich gemerkt, dass es bei einem Gespräch um andere Dinge geht. Sie müssen Gesprächsanlässe finden, herausfinden: Wo sind die markanten Punkte im Werk eines Autors, über die man gut reden kann? Im Laufe des Arbeitens hat sich daraus eine Wechselbeziehung ergeben: Wenn ich Rezensionen schreibe, geht es natürlich auch darum, ein Urteil zu finden und zu formulieren. Aber so, dass ich im Hinterkopf behalte: Was ist für ein Publikum, für die öffentliche Konstellation von Debatten und Themen interessant? Es geht darum, die Urteilsfähigkeit mit einer Sensibilität für Gesprächsanlässe, Diskussionspunkte zu verbinden. Das ist für die Juryarbeit interessant: In Leipzig haben wir durch die Nominiertenliste die Chance, nicht nur zu sagen, was unserer Meinung nach die herausragenden Werke in Belletristik, Sachbuch und Übersetzung sind. Sondern auch zu zeigen: Welche unterschiedlichen Schreib-Haltungen gibt es, welche Fragestellungen, welche Themen? Wir können ein ganzes Feld aufmachen! Das ist es, was mich sehr interessiert, jenseits des Gegensatzpaares gut versus schlecht.

Beim Klagenfurter „Bewerb“ sind die Kameras allgegenwärtig, manchmal scheint sich das Gespräch eher um die Motto-T-Shirts der Juroren zu drehen… In Leipzig gehen die Spots erst bei der Preisverleihung in der Glashalle an. Was ist das Besondere dieser eher diskreten Juryarbeit?

Wilke: In Klagenfurt ist der ‚körperliche’ Aspekt nicht unwesentlich. Wir sitzen täglich mehrere Stunden zusammen, da spielen auch Erschöpfung oder Gesprächsdynamiken eine viel stärkere Rolle. Das ist natürlich auch interessant: Wenn man dünnhäutiger wird, wird man unter Umständen auch offener und macht sich angreifbarer. Aber das führt natürlich auch dazu, dass man manchmal auf Abwege gerät und erst zum Eigentlichen wieder zurückfinden muss. Alles ist live, kaum kontrollierbar. In einer Jury wie in Leipzig hat man eine viel größere Ruhe, es ist ein viel längerer Prozess. Wir tauschen uns schon jetzt permanent über unsere Lektüren aus; das ist eine Arbeitsweise, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat – und die ich sehr gut finde. Es entwickelt sich bereits ein Bild von der Auswahl, darüber, wie man diskutieren kann. Dieser Prozess beginnt im November, mit den ersten Lektüren – und wird bis zur abschließenden Entscheidung weiterlaufen. Über längere Zeit hinweg mit klugen Kolleginnen und Kollegen über Bücher nachzudenken, ist eine schöne Erfahrung. Dabei geht es auch nicht darum, „seine“ Leute durchzusetzen. Man sucht gemeinsam nach guten Entscheidungen. Das ist enorm wichtig. Es ist ein Verständigungsprozess, der in die Gesamtarbeit dann wieder zurückwirkt.

Wie halten Sie sich gemeinsam auf dem Laufenden?

Wilke: Zumeist per E-Mail. Die Sitzungen laufen dann in Präsenz ab.

Wird auch hart um Entscheidungen gerungen?

Wilke: Im Idealfall ist es ein gemeinsames, suchendes Gespräch. Es können unterschiedliche Kriterien angelegt, unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen werden. Meinungen können auseinandergehen. Da kann’s dann schon zur Sache gehen – aber eben immer auch auf die Sache bezogen.

Die Diskussionen um Identität und Diversität werden lauter; letztes Jahr etwa hatte im Zusammenhang mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ein offener Brief die Frage aufgeworfen, wie divers der deutsche Literaturbetrieb zusammengesetzt ist. Spielen auch außerliterarische Kriterien in der Juryarbeit eine Rolle?

Wilke: Ich glaube, das sind keine außenliterarischen Kriterien. Perspektive spielt ja eine Rolle für’s Schreiben – und auch für’s Lesen übrigens. Sowohl im Geschichts- als auch im Literaturstudium lernen sie früh, dass die Frage „Von wo spricht jemand?“ wichtig für die Analyse ist. Es geht, dies mitbedacht, also an erster Stelle um eine Schreibweise, eine Ästhetik, die herausragend ist. Dann gibt es Stoffe, Themen, Geschichten, die so noch nicht erzählt wurden. Das kann relevant sein. Aber es ist nie so, dass ein schlecht geschriebenes Buch ausgezeichnet wird, nur weil es aus einer Perspektive geschrieben wurde, die so noch nicht vorkam. Das wird nicht passieren: Eine Geschichte vermittelt sich nicht, wenn die Form nicht reflektiert und angemessen ist. Dann geht der Schuss nach hinten los.

Die politischen Themen wurden ebenso vermisst…

Wilke: Ich kenne die Jurydiskussion von damals natürlich nicht. Ich kann nur von mir aus und von heute sprechen: Auch wenn die Leipziger Jury sicher nicht die richtige war, die es da getroffen hat – ich glaube, dass man schon über Jury-Zusammensetzungen diskutieren kann. Und darüber, ob es blinde Flecken gibt. Es ist kein Geheimnis, dass wir in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung gemacht haben, was die Frage angeht: Wer spricht mit? Wer wird sichtbar? Welche Gruppen kommen im Kulturbetrieb nicht vor? Das ist ein Thema, das einen als Kritikerin interessieren muss – und darüber wird ja gesprochen. Dass da eine Sensibilisierung in den letzten Jahren stattgefunden hat, das spiegelt der Buchmarkt ebenso wie die Berichterstattung.

Die Fokussierung der Medien auf Preise wird gelegentlich kritisch hinterfragt; man beklagt, das andere Bücher aus dem Blick geraten. Wie sehen Sie das?

Wilke: Es gibt in der Branche eine Konzentration auf wenige Titel, und das liegt, unter anderem, auch an den großen Preisen…

The winner takes it all…

Wilke: Für die Verlage ist das schon problematisch. Ich sehe die Verantwortung bei Leuten wie uns, da gegenzusteuern. Ich habe aber den Eindruck, dass es, nicht zuletzt durch einen Generationenwechsel in den Redaktionen, ein größeres Bedürfnis danach gibt, wieder mehr in die Breite zu gehen.

Sie machen sich als Kritikerin auch für zeitgenössische Lyrik stark. 2015 hat Jan Wagner den Preis der Leipziger für einen Gedichtband bekommen. Ein Ausnahmefall in der doch sehr stark auf Romane fixierten Belletristik-Sparte des Preises?

Wilke: Es gibt keine Scheuklappen bei uns Juroren, was das Genre angeht. Aber es sind zunächst die Verlage, die einreichen. Das ist erst mal die Masse der Titel, die wir sichten. Auch hier gibt es keine Quote.

Als Leipziger Jury sind sie in der komfortablen Lage, auch die Übersetzungen mit einbeziehen zu können…

Wilke: Es ist ein großer Luxus, durch so eine Arbeit den Überblick über einen ganzen Jahreslauf von März bis März zu bekommen. Auf diese Weise geraten Themen, untergründige Interessen in den Blick, die einem vorher nicht so bewusst waren.

Beim Wort „Corona-Roman“ bekommen Kritikerinnen meist einen strengen Gesichtsausdruck, Stirnen furchen sich…

Wilke: Es gibt natürlich relativ schnell Titel, die das Thema aufgreifen. Die meisten sind jedoch nicht in der Lage, es wirklich gedanklich und formal durchdrungen zu haben. So etwas braucht Zeit. Wir haben es beim Thema Digitalisierung gesehen: Da kommen jetzt seit ein paar Jahren erst die interessanten Bücher, die nicht nur Twitter-Zitate oder einen Protagonisten mit Handy haben. Sondern wirklich formal darauf reagieren, und das Thema reflektieren. Auch das Klima-Thema hat gedauert… Man muss da nicht die Augen verdrehen. Es ist logisch, dass gesellschaftliche Vorgänge, die uns alle betreffen, auch reflektiert werden. Ich warte darauf, dass mich ein Text, der damit umgeht, wirklich überzeugt.

Auch der Alltag einer Kritikerin kennt Routinen. Sind Sie noch zu überraschen?

Wilke: Auf jeden Fall. Es kommt immer noch vor, dass man einen tollen Text vor sich hat – und hin und weg ist. Bücher, die einen plötzlich so angehen, dass man sich nicht bequem damit im Sessel zurücklehnen kann. Wenn man diese Fähigkeit verliert, wäre das ein Warnsignal…

Man muss dann nach einem neuen Beruf suchen?

Wilke: (lacht) Nein, aber Juryarbeit ist auch hier ziemlich hilfreich: Es ist extrem anregend, sich mit anderen Lektüreweisen zu konfrontieren. Und so vielleicht auch zu einem Text, den man schon aus der Hand gelegt hat, noch einmal eine andere Sichtweise zu bekommen. Es ist für mich das Ideal einer Jury, dass man beweglich bleibt. Und sich möglicherweise durch eine Kollegin, einen Kollegen einen Zugang zu einem Text eröffnen lässt, den man selbst so vielleicht nicht hatte.

Insa Wilke wurde in Bremerhaven geboren. Studium der Germanistik und Geschichte in Göttingen, Rom und Berlin, Promotion 2009. 2010 erschien ihr Buch „Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch“. Als Literaturkritikerin veröffentlicht Insa Wilke u.a. in der Süddeutschen Zeitung und im Rundfunk. Für diese Arbeit wurde sie 2014 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Neben dem Juryvorsitz beim Preis der Leipziger Buchmesse gehört sie auch der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises und der SWR-Bestenliste an. Seit 2005 konzipiert und moderiert sie Kulturveranstaltungen. 2010 übernahm Insa Wilke die Programmleitung im Literaturhaus Köln und gab sie zugunsten des freiberuflichen Arbeitens 2012 wieder auf. Seit 2013 gehört sie zum Team von „Gutenbergs Welt“ (WDR3), seit 2017 zum „lesenswert quartett“ im SWR Fernsehen. 2016 hat sie die Programmleitung des Mannheimer Literaturfestes „lesen.hören“ von Roger Willemsen übernommen, dessen Nachlass sie verwaltet.

Wir müssen uns nach vorn bewegen

Wir müssen uns nach vorn bewegen

Wie motivieren Sie sich in diesen Zeiten des Stop-und-Go zwischen Lockerung und Lockdown?

Oliver Zille: Nach der Buchmesse im März 2019 dachte ich mit einem gewissen Bedauern: Ist es nicht schade, dass das meiste von dem, was wir tun, gebaut und fertig ist, man für Neues kaum noch Zeit hat? Vielleicht ist es vermessen, aber für mich ist die Corona-Krise auch eine Möglichkeit, zu bremsen und zwingend zu reflektieren: Was sind die Dinge, die wir hier wirklich gut können, die uns ausmachen?

Wie geht es Ihrer Mannschaft?

Zille: Wenn wir andere überzeugen wollen, in diesen Zeiten an der Leipziger Buchmesse teilzunehmen, müssen wir selber so klar wie möglich sein. In diesem Sinn beschreiben wir alle seit Ende Februar, Anfang März eine ziemlich steile Lernkurve. Die Veränderungen passieren mit einer solchen Geschwindigkeit, dass man sich nur durch permanente Kommunikation mit anderen ein Bild machen kann. Als ich den ersten Kunden im Sommer von unserem Plan berichtete, Ende Mai 2021 an den Start zu gehen, sagten mir einige: Sie wissen doch, wie die Branche funktioniert – wir kommen mit den neuen Büchern im Januar, Februar, März! Heute sagen meine Gesprächspartner von damals: Der richtige Schritt! Ein wenig kommt mir das vor wie unser in den Neunzigern von nicht wenigen beargwöhnter Umzug aufs neue Messegelände. Solche Entscheidungen lassen sich nicht dekretieren – sie müssen der Seelenlage der Aussteller und Partner zumindest in Teilen entsprechen. Miteinander reden ist das A und O. Dass uns unsere Kunden momentan eher aufbauen, mit ziemlich viel Hoffnung und Optimismus betanken, ist ein Riesen-Bonus und gibt meiner Mannschaft und mir den nötigen Rückenwind.

Was ist das neue Normal? Was Ihre Projektion für den Mai 21?

Zille: Wir versuchen, vom Gefühl, von der Optik, vom ganzen Habitus der Veranstaltung so nahe wie möglich an die Idee der Leipziger Buchmesse zu kommen, wie wir sie kennen. Der entscheidende Punkt ist, dass alle Akteure, die mit uns gemeinsam diesen Weg gehen wollen, die Werkzeuge dafür finden, auch in diesen schwierigen Zeiten Sichtbarkeit für Literatur herzustellen, ihre Autor:innen ins Scheinwerferlicht zu bringen, ihr Publikum zu bedienen.

Wir hoffen auf Lockerungen in der warmen Jahreszeit, aber die Pandemie wird nicht verschwunden sein…

Zille: Auf dem Messegelände brauchen wir mehr Zeit für Hygiene-Maßnahmen, mehr Personal, zugleich haben wir entschieden, in der Regel keine Veranstaltungen an den Ständen zu ermöglichen – all das wird zu einer Halbierung der Slots für Veranstaltungen führen. Für die Verlage bedeutet das, dass sie sich sehr konzentrieren müssen, was sie wirklich im Gepäck nach Leipzig mitbringen. Was unser Lesefest „Leipzig liest“ in der Stadt betrifft, evaluieren wir gerade, welche Orte unter Corona-Bedingungen bespielbar sind. Wir brauchen Orte, die ein Hygiene-Konzept haben und das auch umsetzen können. Viele unserer Partner haben uns bereits signalisiert, dass sie strengen Standards genügen – und unbedingt dabei sein wollen. Gleichzeitig suchen wir nach Orten, an denen Veranstaltungen unter freiem Himmel möglich sind – das reicht vom Open-Air-Kino in der Feinkost über den Biergarten von Ilses Erika bis zum großartigen Garten des Literaturhauses.

Das Herz der Messe schlägt bei der Verleihung der großen Preise – wird es die in physischer Form geben?

Zille: Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2021 wird zur Messeeröffnung am Abend des 26. Mai an den britischen Essayisten, Schriftsteller und Fotografen Johny Pitts für sein Buch „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“ (Suhrkamp) verliehen – und zwar live. Die Laudatio hält die Lektorin, Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge. Im Rahmen des Festaktes wird auch László Földényi, der Preisträger von 2020, nachträglich geehrt. Die feierliche Bekanntgabe und Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse findet diesmal am Messefreitag, 28. Mai, zur üblichen Zeit um 16 Uhr statt – in der Kongresshalle am Zoo.

Die Gretchenfrage: Inwieweit wird sich das Publikum mobilisieren lassen? 2019 kamen 210.000 Besucher…

Zille: Nach dem von September bis Anfang Oktober gültigem Hygiene-Konzept könnten wir die Hälfte der Besucher, die wir bislang auf dem Messegelände hatten, zulassen. Das sind rund 100.000, pro Tag 25.000. Wenn es eine physische Messe geben kann, sind wir überzeugt, dass man diese Besucherzahl gut verkraften kann. Wir setzen auf die Strahlkraft unseres Programms, der Autorinnen und Autoren, und sind uns sicher, dass diese Zahl erreicht werden kann.

Gibt es Projektionen für die Nutzung der Freiflächen?

Zille: Auf den Freiflächen nördlich der Hallen 2 und 4 wollen wir geballt das Außengelände bespielen; wir planen, eine Art Agora einzurichten, wo wir bestimmte Veranstaltungsformate bündeln können.

Wie kommuniziert man in diesen volatilen Zeiten mit Verlagen, denen im Pandemie-Jahr zwei Buchmessen weggebrochen sind? Was sind deren Erwartungen?

Zille: Im Kreis der Konzernverlage ist die Affinität zu digitalen Ergänzungen deutlich größer als bei den kleineren, unabhängigen Verlagen, die das Gros unserer Aussteller bilden. Grundsätzlich sind sich alle aber in einem Punkt einig: Man setzt fest darauf, dass es eine physische Messe gibt, Tenor: Wir brauchen eine Messe, wo sich Menschen persönlich treffen können!

Zeigt sich dieser Wunsch in der Bereitschaft, an der Messe teilzunehmen?

Zille: Entgegen mancher Erwartungen gehen täglich Anmeldungen bei uns ein. Wir haben aktuell etwas mehr als 40 Prozent unserer Fläche belegt; im Normalbetrieb wären es zum heutigen Zeitpunkt etwas mehr als 50 Prozent gewesen. Allerdings gibt es keine Vergleichbarkeit: Die Messe findet ja erst Ende Mai statt, also zehn Wochen nach dem gewohnten Termin. So gesehen ist das kein schlechtes Ergebnis, die Stimmung in den Häusern ist doch sehr optimistisch.

Nach dem bisherigen Verlauf der Pandemie möchte man ständig zuwarten: auf Impfstoffe, aufs Frühjahr, auf schönes Wetter und fallende Infektionszahlen. Final entscheiden müssen Sie zu einem Zeitpunkt, an dem wir noch nicht über den Berg sind – wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Zille: Wir stehen, zugegeben, vor vielen Herausforderungen, aber das ist eine der ganz großen. Wir haben im letzten März gesehen, welche Friktionen bei der kurzfristigen Absage einer Messe entstehen können. Ich setze darauf, dass die Impfstrategie greift – und sich nicht nur auf die konkreten Zahlen des Pandemieverlaufs, sondern auch auf die Stimmungslage in der Gesellschaft auswirken wird. Die Buchmesse durchzuführen heißt ja nicht nur, dass der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig ihre Genehmigung geben – sondern dass die Leute ein sicheres Gefühl beim Besuch der Veranstaltung haben.

Erzwungene Beschränkungen im Live-Programm lässt zwangsläufig über digitale Angebote nachdenken. Welchen Weg verfolgen Sie da?

Zille: Die Stärken der Leipziger Buchmesse, ihr Markenkern – die neuen Titel des Frühjahrs, unsere Autor:innen, schließlich das Interesse und der Spaß des Publikums, sich mit Literatur auseinanderzusetzen – sollen im digitalen Auftritt auf einer zentralen Plattform gespiegelt werden. Wir wollen in erster Linie Themen, Autor:innen, Novitäten spielen und dabei den Buchhandel, die Medien und das Publikum mit einbeziehen. Dazu ein kleines, feines kuriertes Programm, das Traffic auf der Seite erzeugt. Es wird also eine ‚digitale Verlängerung’ der Leipziger Buchmesse geben, ohne diese im Maßstab eins zu eins abbilden zu wollen. Eine zentrale Rolle, das hat zuletzt Frankfurt gezeigt, wird die Kooperation mit den öffentlich-rechtlichen Medien spielen. Die hatten wir schon immer, sie wird sich aber nun konsequent ins Digitale erweitern. Im Januar soll das Konzept so weit stehen, dass wir mit den Verlagen in Detailgespräche gehen können.

Ganz ohne Geld ist der digitale Ausbau nicht zu haben…

Zille: Wir werden kräftig investieren. Und setzen gleichzeitig darauf, dass sich auch die Verlage bewegen. Dank der Mittel aus dem „Neustart Kultur“-Fördertopf der Bundesregierung können wir den physischen Messeauftritt der Aussteller über rabattierte Standgebühren unterstützen. Wenn das hier gesparte Geld auch in digitale Projekte zur Flankierung des physischen Auftritts fließen würde, wäre das toll. Verlage müssten dann nicht mehr ausgeben als vor Corona, könnten aber trotzdem digital punkten. Mit einer digitalen Ergänzung lassen sich auch für die Zukunft Pflöcke einschlagen, die in der Vergangenheit so nicht möglich waren.

Auf der Jahreshauptversammlung des Landesverbands Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bezeichnete ein Verleger die Leipziger Buchmesse Ende Mai 2021 als „Wette auf die Zukunft“. Was würden Sie denen sagen, die nach diesem irren Jahr 2020 noch ein wenig verzagt und unentschlossen in die Zukunft blicken?

Zille: Wir müssen uns nach vorn bewegen. Das gilt nicht nur für Messemacher. In der Bewegung lernt man. Und wird am Ende – mit all dem neu erworbenen Wissen, den gemachten Erfahrungen, den Fehlern – an ein Ziel kommen. Ich werde nicht müde, zu sagen: Lasst uns gemeinsam unter diesen schwierigen Bedingungen das Maximum rausholen – auch wenn wir dafür noch drei Haken mehr schlagen müssen. Wir werden eine andere Leipziger Buchmesse sehen als in den letzten Jahren. Aber sie wird allen, die dabei sind, helfen, in Corona-Zeiten zu bestehen. Wer sich nicht bewegt, ist schon tot!

© Fotos: Carmen Laux (Literaturhaus Leipzig), Tom Schulze (LBM), Nils Kahlefendt

Der Ermöglicher

Der Ermöglicher

Johannes Graubner kam im letzten Juli zur Leipziger Messe. Es ist die Zeit, als die Belegschaft nach einem langen Lockdown aus der Kurzarbeit zurückgekehrt war, das Leben wieder in einen, wenn auch eingeschränkten, Normal-Modus umsprang. Als neuer Leiter der Abteilung Sicherheit und Verkehrsorganisation fallen auch große Teile der Veranstaltungssicherheit in sein Ressort. Im normalen Tagesgeschäft reicht das vom Ordnungs- und Sanitätsdienst oder der Verkehrsorganisation bis zur Kontrolle der Zutritte zum Messegelände. Dazu, in Abstimmung mit anderen Abteilungen, Notfallmanagement oder Evakuierungen. Dass das Corona-Management der Abteilung zufällt, die das Wort „Sicherheit“ im Namen trägt, ist für Graubner logisch. Er ist gut gerüstet: Als freier Sicherheitsberater hat er für seine Kunden seit anderthalb Jahren hauptsächlich Hygiene-Konzepte geschrieben. „Das Thema war für die meisten in der Branche neu“, gesteht Graubner. „Ich stand im ständigen Austausch mit Gesundheitsbehörden und Fachkollegen der Branche die letzten zwei Jahre waren für uns alle ein großer Learning-by-doing-Prozess.“

Nachdem Anfang September in Leipzig mit Cadeaux und Midora die ersten Präsenz-Fachmessen über die Bühne gingen, öffnete wenig später mit der modell-hobby-spiel die erste Publikumsmesse ihre Tore. Auch für Graubner und sein Team ein großes Gefühl – aber auch eine große Herausforderung. „Eine Schwierigkeit in Pandemie-Zeiten: Du weißt nie, wie viele Besucher am Ende wirklich kommen. Wir haben mit der Hälfte gerechnet – und so ist es am Ende gekommen.“ 47.000 Besucher und 320 Aussteller aus elf Ländern bewiesen, dass Großveranstaltungen auch in pandemischen Zeiten gelingen, lang vermisste persönliche Begegnungen möglich sind – dank des umfassenden Hygienekonzepts SafeExpo der Leipziger Messe, aber auch dank rücksichtsvoller Besucher und Aussteller. Im Messegeschäft, dass sich in Zeiten von Corona mit einem der bislang größten Härtetests konfrontiert sieht, ist das Thema „Sicherheit“ zum Standortfaktor geworden.

Drei Tage nach unserer Begegnung in Graubners Büro auf der neuen Messe erreicht uns eine neue, wenn auch nicht ganz unerwartete Hiobs-Botschaft: Sachsen zieht aufgrund steigender Inzidenzen die Corona-Notfallverordnung, nach der bis zum 12. Dezember Großveranstaltungen, Messen und Kongresse nicht zulässig sind. Wie geht ein Mann wie Johannes Graubner mit der volatilen Lage, der permanenten Ungewissheit um? „Ich versuche, die Sozialen Medien in diesen Tagen möglichst zu meiden, auch aktuelle Nachrichten gebe ich mir nur in homöopathischen Dosen.“ Während die Medien orakeln, was das Zeug hält und auf Facebook oder Twitter die Spekulationen ins Kraut schießen, hält sich Graubner an die Fakten. „Für mich zählt, was in den Verordnungen steht. Vorher lasse ich mich nicht wild machen. Punkt.“

Beim Studium der Verordnungslage hat es Graubner in Pandemie-Zeiten häufig nur noch mit der Rubrik „Großveranstaltungen“ zu tun; das ist, recht pauschal, alles, was über 1000 Besucher geht. „Dabei fällt nicht ins Gewicht, ob es sich um Konzerte, Club-Events, Kongresse oder eben Messen handelt“, erklärt der Sicherheits-Chef, „obwohl es ja jeweils um gänzlich andere Umstände, ein ganz anderes Publikum geht.“ Seine Herausforderung besteht nicht nur darin, die Verordnungen irgendwie zu erfüllen. Es geht, mehr noch, um ihre sinnvolle Umsetzung. Die Frage, wie man als Veranstalter verhindert, dass es zu Infektionen kommt, ist nach fast 24 Monaten Pandemie keine Raketenwissenschaft mehr: Abstand. Masken. Desinfektion. Moderne Lüftungskonzepte. Intelligenter Standbau. Das ganze Programm. „Die Kunst ist, vorausschauend zu fahren, die Entwicklung des Virus ebenso im Blick zu haben wie die Verordnungslage. Im Zweifelsfall planen wir lieber eine Nummer sicherer – aber wir zögern auch nicht, Erleichterungen sofort umzusetzen.“ Der enge Austausch mit den zuständigen Behörden ist für Graubner längst Routine.

Johannes Graubner weiß um das schwer aufzulösende Dilemma, in dem er mit seiner Arbeit steckt: Er will auf der einen Seite maximale Sicherheit gewährleisten, weiß aber auf der anderen Seite, dass eine Buchmesse auch ein anarchisches Moment hat, Luft zum Leben, Räume für Zufallsbegegnungen braucht. Wie lassen sich die Hallen intelligent bespielen, ohne dass sich alles abgezirkelt und in Plastik gepackt anfühlt? „Wir wissen ja, was die Leipziger Buchmesse so besonders macht. Und das wollen wir nicht wegfallen lassen! Signierstunden oder Lesungen lassen sich auch so planen, dass das Abstandsgebot eingehalten werden kann – auch wenn das letztlich mehr Aufwand für uns bedeutet.“ Hier sprechen wir nicht nur von breiteren Gängen und sogenannten „Kommunikationszonen“ vor den Ständen. Es geht auch darum, Programme zu entzerren, um Besucherstaus zu vermeiden. Aktuell plant man für Frühjahr 2022 mit 25.000 Besuchern pro Tag. Eine Zahl, die für den Sicherheits-Planer Segen und Fluch in einem ist.

Johannes Graubner ist einer, der auch in seiner knapp bemessenen Freizeit in diversen Arbeitskreisen engagiert ist, eher Verordnungen und Paragraphen durchackert, als den literarischen Bestseller der Saison zu schmökern. „Ich mach’ das, was ich mache, ziemlich gern“, sagt er. Und schiebt grinsend nach: „Auch wenn Corona die Sache gerade etwas überstrapaziert.“ Dienst nach Vorschrift jedenfalls gibt es für den zweifachen Vater, der für den neuen Job von Dresden nach Leipzig gezogen ist, nicht. Gut möglich, dass das mit seiner Zeit als Selbstständiger zu tun hat – auch da war die klassische 40-Stunden-Woche nicht vorgesehen. Graubner sieht sich als Ermöglicher, nicht als Spielverderber. „Alle, die gesund zur Messe kommen, kommen bitte auch wieder gesund nach Hause! Dieses Ziel haben wir doch alle gemeinsam.“

Johannes Graubner, Jahrgang 1990, leitet seit Juli 2021 die Abteilung Sicherheit und Verkehrsorganisation der Leipziger Messe.

Literatur auf allen Kanälen

Literatur auf allen Kanälen

Bereits nach der pandemiebedingten Absage der Leipziger Buchmesse im März 2020 hatte MDR Kultur innerhalb einer Woche sein komplettes Live-Bühnenprogramm in ein digitales Studioprogramm umgeplant. „Über zehn Stunden nonstop Livestream-Bewegtbild aus einem Radiostudio“, sagt MDR Kultur-Literaturchefin Katrin Schumacher, „das war eine absolute Premiere“. In diesem Jahr legte die ARD noch eins drauf: Vom 27. bis 30. Mai veranstaltete sie, unter Federführung des MDR, ein umfangreiches Liveprogramm mit Lesungen und spannenden Gesprächsrunden – alles in allem über 30 Stunden Literatur mit mehr als 50 Autorinnen und Autoren. „Was wir gestemmt haben, war, wenn man so will, eine große digitale Publikumsveranstaltung“, so Schumacher. „Wir haben live in die ARD-Mediathek gestreamt und alle Gespräche für die ARD Audiothek produziert – in der Alten Handelsbörse am Naschmarkt, im Herzen Leipzigs.“ Alle ARD-Anstalten waren dabei – mit Inhalten und den Moderatoren-Teams ihrer Literatursendungen. Ein besonderes Highlight war die dreistündige „ARD Radio Kulturnacht – Unter Büchern“, die live aus der Alten Handelsbörse gesendet wurde. Gäste waren Helga Schubert, Judith Hermann, Michel Decar, Simone Buchholz, Dana Grigorcea, Robert Habeck, Monika Helfer und Joseph Vogl.

Das ARD-Programm war jung und divers – hier stellt Elisa Diallo ihr buch „Französisch verlernen – Mein Weg nach Deutschland“ (Berenberg) vor. ©MDR

Ergänzend zum Live-Programm gab es einen Literaturschwerpunkt im Fernsehen, der nach dem Motto „Digital first“ gestrickt war, eine Herangehensweise, die in letzter Zeit häufiger anzutreffen ist. Der MDR hat im Umfeld von „Leipzig liest extra“ drei aufwändig produzierte, je 30 Minuten lange Literatur-Dokus ausgestrahlt, die aber von vornherein so angelegt sind, dass sie in der ARD-Mediathek bella figura machen: Für die Filme „Können Bücher Heimat sein?“, „Können Bücher einen Mord begehen?“ und „Können Bücher die Welt retten?“ versichern sich die Macher des Wissens derer, die sich professionell mit der Erfindung von Welten beschäftigen: Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, Mithu Sanyal, Lena Gorelik, Simone Buchholz, Zoe Beck oder Clemens Meyer.

Die Literaturnacht von MDR Thüringen war ebenfalls im Programm. ©MDR

„Es war uns eine Herzensangelegenheit, Leipzig liest extra mit unserem umfangreichen Programm im ARD-Forum zu unterstützen, damit unsere Verbundenheit zur Buchmesse zu zeigen – und natürlich den Autorinnen und Autoren zumindest eine digitale Bühne zu bieten“, so MDR-Programmdirektorin Jana Brandt. „Diese Partnerschaften sind für uns Teil unseres gesellschaftlichen Gesamtauftrages. Wir haben uns sehr gefreut, dass uns die gesamte ARD-Familie mit ihren Kulturjournalisten und -journalistinnen unterstützt hat, um hier ein opulentes Gemeinschaftsprogramm auf die Beine zu stellen.“ Wer zu spät gekommen ist, wird hier nicht vom Leben bestraft: Das Angebot bleibt noch für ein Jahr in der Mediathek und in der Audiothek der ARD erhalten.

Sophie Passmann war eine von mehr als 50 Autorinnen und Autoren, die ihre neuen Bücher auf dem Blauen Sofa vorstellten. ©Jens Schlüter

Deutschlands berühmtestes literarisches Sitzmöbel, das Blaue Sofa, verließ in diesem Jahr seinen angestammten Platz in der Glashalle und zog in die Kongresshalle am Zoo. Die Veranstaltungen des bewährten Gemeinschaftsprojekts von Bertelsmann, ZDF, Deutschlandfunk Kultur und 3sat wurden live gestreamt und sind in den Mediatheken von ZDF und 3sat abrufbar. 54 Autorinnen und Autoren waren heuer zu Gast; wegen einer pandemiebedingten „Hygienepause“ zwischen den Gesprächen dauerten diese 20 statt der üblichen 30 Minuten – eine Konzentration, die dem Format sehr gut bekam. Auf der Website des Blauen Sofas lässt sich das meiste nachschauen – neben Informationen zu Autor und Titel sind die Gespräche in der ZDF-Mediathek direkt ansteuerbar. Die ZDF-Kultursendung “aspekte” berichtete mit einer Literatur-Schwerpunktsendung aus Leipzig, die 3sat-“Kulturzeit” befasste sich in bewährter Weise mit Neuerscheinungen und aktuellen Entwicklungen am Buchmarkt. Ebenfalls noch zu sehen: Eine literarische Reportage aus Portugal, dem Gastland der Leipziger Buchmesse 2022.

Das alles war deutlich mehr als business as usual, hier wurde unüberhörbar für die aktuellen Programme, das Lesen (und Bücherkaufen!) getrommelt. „Obwohl Vorbereitungen und Kommunikation durch immer neue Corona-Verordnungen komplexer und umfangreicher wurden, sind wir sehr stolz auf das, was wir in vier Tagen geschafft haben“, so Christiane Munsberg von Bertelsmann. „Die Begegnungen und Gespräche haben uns viel Spaß gemacht. jetzt fehlt am Blauen Sofa nur noch das Publikum, das wir im März 2022 hoffentlich wieder auf dem Messegelände begrüßen können.“ Dass in Zeiten wie diesen Flexibilität großgeschrieben wird, hat Munsberg selbst unter Beweis gestellt: Für den kurzfristig erkrankten Michael Kramers moderierte die Kulturmanagerin den Krimi-Club im Landgericht mit Eva Almstädt, Angelique Mundt, Claudia Rikl und Thomas Ziebula. „Während der Krimi-Club sonst regelmäßig ausverkauft ist, konnten wie diesmal über unseren Facebook-Kanal ein breiteres Publikum erreichen.“ Christiane Munsberg kann sich vorstellen, solche Hybrid-Angebote auch künftig vorzuhalten. Die Premiere ist jedenfalls gelungen.