Die Leser-Messe

Die Leser-Messe

Herr Kaufmann, haben Sie Leipzig vermisst in den letzten drei Jahren? 

Joachim Kaufmann: Sowohl die Stadt wie die Messe! Wir haben ja mehrfach beteuert, dass wir sehr gern nach Leipzig gegangen wären. Deshalb habe ich mich auch über die Berichterstattung im Frühjahr geärgert, die da so einen Ost-West-Gegensatz oder einen Konflikt kleine versus große Verlage herbeigeschrieben hat. 

Wie sind Sie, salopp gefragt, in Pandemie-Zeiten ohne Messe klargekommen?

Kaufmann: Wenn ich sage, wir sind – sowohl als Kinder- und Jugendbuchverlag, wie auch als Comic- und Manga-Verlag – gut durch die Pandemie gekommen, dann klingt das in den Ohren von Messe-Machern nicht schön. Es gibt sicher keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Erfolg eines Buchsegments und dem Stattfinden von Messen. Trotzdem sind wir überzeugt, dass wir auch in Zukunft – gerade in so Community-getriebenen Bereichen wie Manga – solche Events brauchen. Mit ganz, ganz viel Aufmerksamkeit auf Leserinnen und Leser! Und das gerade, wenn es um Bücher aus der zweiten Reihe geht. Für die reine Vermarktung von internationalen Bestsellern sind Messen sicher nicht die ganz großen Marketing-Aufhänger. Aber wenn es darum geht, mit Autorinnen und Autoren besondere Bücher neu einzuführen, in den Medien die Aufmerksamkeit auf das Thema „Buch“ zu lenken – dann ist Leipzig als Leser-Messe für uns fast noch wichtiger als Frankfurt. Frankfurt, als größte Buchmesse der Welt, ist in der Mischung von b-to-b und b-to-c interessant. Der Hauptgrund, nach Leipzig zu fahren, sind unsere Leserinnen und Leser. Wir sind für 2023 bereits angemeldet – und werden in gewohnter Größe, vielleicht sogar noch etwas größer als bisher, in Leipzig auftreten.  

Der Hauptgrund, nach Leipzig zu fahren, sind unsere Leserinnen und Leser.

Joachim Kaufmann, kaufmännischer Geschäftsführer des Carlsen Verlags

Wie sind Ihre Erwartungen und Projektionen für den kommenden April? 

Kaufmann: Wir werden wie gewohnt ein aufwändiges Veranstaltungsprogramm auf die Beine stellen. Liebend gern würden wir, im Schulterschluss mit anderen Verlagen, auch im Bereich Manga große Namen präsentieren. Aber hier sind Events mit internationalen Stars noch immer schwer zu planen; Asien-Reisen sind – in beide Richtungen – momentan noch unsicher. Im Kinder- und Jugendbereich, bei Comics und Graphic Novels werden wir wie gehabt Aktionen an unterschiedlichen Orten auf der Messe und in der Stadt machen. Die Änderung des Hallen-Layouts der Messe und die damit einhergehende räumliche Konzentrierung der Themen Manga und Kinder- und Jugendbuch ermöglicht es uns, unsere bisher drei Standorte (Carlsen Kinderbuch/Lappan in Halle 2, Manga auf der MCC in Halle 1 und Graphic Novel belletristiknah in Halle 5) auf einer Fläche in Halle 2 zu vereinen. Auf diese Weise haben wir einen großen, geschlossenen Auftritt, auf den wir uns sehr freuen. Ein sehr zielgruppengerechter Neuzuschnitt, der optimal mit unserem Verlagsportfolio zusammengeht. 

Ich weiß nicht, wie lange Sie schon nach Leipzig kommen… 

Kaufmann: Gefühlt schon ewig. Während meiner Ausbildung war ich für Herder auf der Leipziger Buchmesse; das war 1992, noch im Messehaus am Markt.

Gibt es vergnügungssteuerpflichtige Rituale, auf die Sie sich besonders freuen? 

Kaufmann: Ich gehe immer gern zur Buchmesse-Eröffnung. Das Gewandhaus-Orchester zu hören, ist ein phantastisches musikalisches Erlebnis. Hinterher treffe ich den Konzertmeister, der ein alter Schulfreund ist. Und natürlich treffe ich jedes Mal sehr viele Menschen aus einer Branche, in der ich auch nach 25, 30 Jahren unglaublich gern arbeite. Es sind die Messen, auf denen diese oft zufälligen Begegnungen am häufigsten stattfinden. Dazu sind die Gespräche mit unseren Autorinnen und Autoren in Leipzig besonders intensiv. Hier kann man sich noch außerhalb des Terminkalenders unterhalten – in unseren hoch beschleunigten Zeiten fast schon exotisch. 

„Eine Messe ist ihrem Wesen nach groß und vielfältig.“

„Eine Messe ist ihrem Wesen nach groß und vielfältig.“

Sie haben im Frühjahr, wie auch andere größere unabhängige Verlage, an der buchmesse_popup teilgenommen, aber auch stets betont, dass solche Initiativen, wie toll sie auch sein mögen, die Leipziger Buchmesse nicht ersetzen können?

Tom Kraushaar: Eine Messe ist mehr als eine Buchausstellung mit angeschlossenem Lesungsprogramm. Sie ist ein Branchentreffen, an dem im Idealfall alle teilnehmen: Autoren, Verlage aller Größen und Segmente, Buchhändler, Literaturveranstalter, Übersetzer, Journalisten. Eine Messe ist ihrem Wesen nach groß und vielfältig.

Wie sieht Ihre Lernkurve im Jahr Drei der Pandemie aus?

Kraushaar: Rein kaufmännisch gesehen, liegt – so paradox es klingen mag – eine gute Zeit hinter uns. Über die Gründe ist oft gesprochen worden. Allerdings lebt gerade unsere Branche sehr stark vom persönlichen Austausch. Wenn der für längere Zeit fehlt, sind die Folgen zwar nicht sofort zu spüren. Aber sie stellen sich unweigerlich ein. In New York etwa lässt sich zurzeit eine Dichotomie beobachten: Dort geht, zugespitzt formuliert, die Ü-60-Generation nach Manhattan, um ihre Martinis zu schlürfen; die Jüngeren ziehen aufs Land, arbeiten im Homeoffice und züchten Kartoffeln und Tomaten. Für mich ein Alarmzeichen! Wen wir die falschen Lehren aus der Pandemie ziehen, kann es leicht zu einer Verarmung unserer Unternehmens- und Branchenkultur kommen. Mit der fatalen Folge, dass die Branche für den Nachwuchs auf lange Sicht weniger attraktiv würde.

Also hohe Zeit, sich endlich wieder in echt die Hände zu schütteln?

Kraushaar: Technologie ist schön. Aber wenn wir nicht die richtigen Menschen erreichen, wird es schwierig. Denen begegnen wir allerdings hauptsächlich in der physischen Welt – und nicht in Teams oder auf Zoom. Wir brauchen das lebendige Miteinander – egal, ob es sich um Buchmessen handelt oder kleinere Treffen. Es wäre schlicht katastrophal, wenn das auf Dauer nur noch eingeschränkt möglich wäre. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir einigermaßen rasch zu so etwas wie Normalität zurückkehren. Damit will ich potenzielle Gefahren nicht kleinreden. Aber die Art, wie wir mit solchen Herausforderungen umgehen, hat sich bereits jetzt verändert. Und sie wird es weiter tun.

Wir werden im kommenden Jahr in normaler Größe auftreten – und hoffen, dass alle anderen auch mitziehen

Tom Kraushaar, Geschäftsführer Klett-Cotta

Die Vertreterkonferenz liegt gerade hinter Ihnen – mit welchen Projektionen schauen Sie auf den April in Leipzig?

Kraushaar: Wir werden in normaler Größe auftreten – und hoffen, dass alle anderen auch mitziehen. Die Verschiebung der Messe – und damit auch des Preises der Leipziger Buchmesse – hat natürlich auch unsere Programmplanung beeinflusst. Die mediale Aufmerksamkeit für Bücher, man sieht es an den Literaturbeilagen oder dem Programm in Radio und Fernsehen, wird auch 2023 stark an den Messetermin gebunden sein. Wir haben für Bücher, die wir zum Preis einreichen wollen, etwas mehr Spielraum; generell kann sich das Programm etwas entzerren. Die London Book Fair (18. – 20. April) ist durch die temporäre Verschiebung allerdings sehr dicht an den Leipziger Termin gerückt.

Wird es im April auch die bis 2019 obligaten Engtanz-Runden im Café KAPITAL geben? Der Glaswürfel am Johanna-Park war ja in vor-pandemischen Zeiten so etwas wie der Schmelztiegel der Leipziger Buchmesse…

Kraushaar: Ich weiß gar nicht, ob wir schon reserviert haben (lacht). Aber die Leute von der GfZK halten den Messe-Donnerstag eh für uns frei. Natürlich wäre ein Fest wie die Tropen-Party 2020 die Blaupause aller Superspreader-Events gewesen. Irgendwann werden wir vor der Frage stehen: Wollen wir je wieder solche Partys feiern? Ich glaube: Ich will.      

Brücke zum Osten

Brücke zum Osten

Fotos: Tom Schulze

Es ist der 21. Tag von Putins Angriffskrieg. Als in den öffentlichen Raum verlegtes wöchentliches Friedensgebet der Nikolai-Gemeinde hat die Veranstaltung begonnen, mit Psalmen und Gesängen. Während der Posaunenchor, der gerade noch ein „Dona nobis pacem“ begleitet hat, seine Instrumente verstaut, zeigt die große Videoleinwand vor dem Gemeindehaus einen bärtigen Mann, der spürbar um Fassung ringt und das verschmitzt-ironisches Lächeln, das man eigentlich von ihm kennt. Juri Andruchowytsch, der berühmteste Schriftsteller der Ukraine, hat in seiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk eine Videobotschaft für uns aufgenommen. Eingespielt wird sie auf einer gemeinsam von der Stadt Leipzig, der Leipziger Messe, dem Börsenverein und der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde St. Nikolai organisierten Friedensaktion, kurz vor der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, den Andruchowytsch selbst 2006 erhalten hat.

Auf der Leinwand führt der Autor das Publikum durch die leeren Räume des von ihm mitbegründeten Kulturzentrums VAGABONDO: „Europa hat sich endlich für die Ukraine geöffnet – jedenfalls an den Grenzen, für Flüchtlinge. Zumindest das bisher. Aber die massenhaft blau-gelben Dekorationen genügen uns nicht mehr. Die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, die Standing Ovations und die Kundgebungen.“ Das alles sei rührend und wunderbar, aber es genüge nicht mehr, angesichts der Hölle, in der sich ein friedliches Volk befindet. Andruchowytsch fordert die vollwertige EU-Mitgliedschaft der Ukraine. „Sie brauchen uns, um viel größer, mutiger und stärker zu sein.“

Noch am 9. Oktober letzten Jahres stand der Leipziger Oberbürgermeister mit seinem Kiewer Kollegen Vitali Klitschko auf dem Nikolaikirchhof; Klitschko hielt am Leipziger Großfeiertag die traditionelle „Rede zur Demokratie“ in der Nikolaikirche. Nun erinnert Sebastian Feydt, der Pfarrer der Nikolaikirche, an die „Keine Gewalt!“-Rufe, die im Herbst 89 über den Kirchhof echoten. „Damals rollten keine russischen Panzer“, sagt Feydt. „Was das für ein historisches Geschenk war, wird mir erst heute bewusst – und welche Verpflichtung dieses Geschenk ist.“

„Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs. Nicht mehr. Eher weniger“, hielt die Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, in Anlehnung an Walter Benjamin, einmal gelassen fest. Das ist überraschend uneitel im an Eitelkeiten nicht eben armen Literaturbetrieb. Die Laudatio, die die Wienerin ihrem Salzburger Kollegen Karl-Markus Gauß hält, ist selbst ein geschliffenes Stück Literatur. Strigl hakt sich an Gauß’ preisgekröntem Buch „Die unaufhörliche Wanderung“ fest – ein Titel, der auch den Existenzmodus seines Autors fasst. „Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer“, sagt Strigl – und nimmt in ihrer Lobrede den „symbolischen Rucksack“ des Kollegen in Augenschein, seine „Siebensachen“, mit deren Hilfe er zuverlässig seinen Bestimmungsort erreicht. Der Weg ist das Ziel, oder, wie Heimito von Doderer deutlich weniger verblasen formulierte: „Umwege erhöhen die Ortskenntnisse.“

Karl-Markus Gauß ist um den Job des Dankredners an diesem Abend nicht zu beneiden. Schließlich tritt er in Zeiten vor sein Publikum, da praktisch jeder Tag den Redenentwurf des Vortags zunichtemacht. „Kein Prophet, auch keiner, der auf den heutigen Namen Experte hört, hat vor einigen Wochen vorausgesehen, was sich doch, wie wir heute einräumen, seit Jahren angekündigt hat.“ Paukenschlag Nummer eins: Die neuerliche Buchmesse-Absage. Gauß kritisierte die Zögerlichkeit von Teilen der Branche: „Wer es der Buchhaltung, so wichtig sie ist, überlässt, über Bücher, Buchmessen, Feste der Literatur und derer, die ihr Leben mit ihr verbunden haben, zu entscheiden, der wird eines Tages jenem Produkt den gesellschaftlichen Wert genommen haben, mit dem er doch seine besten Geschäfte gemacht hat.“ Ein hochrangig besetztes Zukunftsgespräch zur Leipziger Buchmesse, noch im März zustande gekommen auf Initiative von Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, hat auch solche Warnungen im Blick gehabt; Bund, Land und Kommune haben sich mit der Branche untergehakt und für die Leipziger Buchmesse Flagge gezeigt.

An jenem denkwürdigen Abend in der Leipziger Nikolaikirche geißelt Gauß, ein trittsicherer Wanderer mit festem Schuhwerk, Putins Angriffskrieg nicht zuletzt als „militärische Sonderoperation“ gegen die Sprache selbst – mit dem Ziel, „aus der Lüge eine staatsbürgerliche Pflicht zu machen“. Karl-Markus Gauß entlässt das auf harten Kirchenbänken ausharrende Publikum immerhin mit der Hoffnung auf Verständigung – zumindest zwischen denen, „die auf der einen Seite aufbegehren, um keine Täter zu werden, und denen, die auf der anderen Seite nicht Opfer bleiben wollen“. Und mit dem beinahe utopischen Bild von einer Leipziger Buchmesse 2023 als Brücke zum Osten. Einer Buchmesse, auf der „russische Autorinnen, die nicht trauern, weil ihr Despot den Krieg verloren hat, und ukrainische Autoren, die nicht jubeln, weil Russland selbst aus der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verstoßen wurde, mit uns über Europa reden. Und über anderes mehr.“

Claudia Roth: „Ich komme als Fan!“

Claudia Roth: „Ich komme als Fan!“

Fotos: Christian Modla

Um die Gemütslage der Leipziger zu erfassen, reicht es manchmal, in den nächsten Späti zu gehen. Sie wissen schon, einen von diesen vor allem in ostdeutschen Städten wie Berlin, Leipzig oder Dresden zu findenden Kiosken, die uns außerhalb der üblichen Ladenöffnungszeiten mit allem Nötigen versorgen. Dazu gehören auch die relevantesten Nachrichten. „Nächstes Jahr ist wieder Buchmesse“ strahlte mir letzten Donnerstag der Inhaber eines beliebten Spätkaufs in der Südvorstadt am Tresen entgegen. Der Mann hatte recht; am Abend war das Zukunftsgespräch zur Leipziger Buchmesse Thema in den Hauptnachrichten der „Tagesschau“.

Kurz nach der erneuten pandemiebedingten Buchmesse-Absage im Februar hatten Claudia Roth und der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer Vertreter aus Branche und Politik dazu eingeladen. Vor Ort nahmen an dem Spitzentreffen unter anderem der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, der Geschäftsführer der Leipziger Messe GmbH Martin Buhl-Wagner, der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland Carsten Schneider, der CEO der Holtzbrinck Buchverlage Alexander Lorbeer, die VS-Vorsitzende Lena Falkenhagen und die Merlin-Verlegerin Katharina Eleonore Meyer, Vorstandsvorsitzende der Kurt Wolff Stiftung, teil. Digital zugeschaltet waren Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, Thomas Rathnow, CEO Penguin Random House, Christian Schumacher-Gebler, CEO Bonnier Media Deutschland, und – coronabedingt – Oliver Zille, der Direktor der Leipziger Buchmesse.

Nach dem rund anderthalbstündigen Gespräch im Verwaltungsgebäude der Messe trat die Kulturstaatsministerin gewohnt energisch vor die Presse – nicht nur als hochrangige Vertreterin des Bundes, sondern als leidenschaftlicher Buchmesse-Fan: „Ich lasse mir diese Buchmesse nicht wegnehmen – um alles in der Welt nicht!“ Roth markierte die große Bedeutung des Leipziger Frühjahrs-Branchentreffen gleich auf mehreren Feldern: Sie sei gerade in diesen Zeiten wichtig, da sie „in Richtung Mittel- und Südosteuropa Türen öffnen und Brücken bauen“ könne; Leipzig sei aber auch traditionell „die Buchmesse der Leserinnen und Leser“ und habe enorme Signalwirkung für die „Verlagsvielfalt und Diversität“. An all dies, so die Ministerin, müsse man sich jetzt erinnern – aber „in die Zukunft“ hinein: „Ich werde alles zu tun, was in unserer Macht steht, damit es nächstes Jahr in Leipzig wieder eine tolle Buchmesse gibt!“

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sah schon in der prominenten Beteiligung am Zukunftsgespräch einen Ausweis für die Relevanz und Wichtigkeit der Leipziger Buchmesse. „Leipzig ist ein Forum der Demokratie, ein Ort der Selbstvergewisserung und der produktiven Verunsicherung.“ Hier sei es möglich, „mit den Augen der anderen auf die Probleme der Welt zu schauen“. Ausdrücklich bedankte sich Kretschmer für die „klare Ansage“ der erst kurz im Amt befindlichen Kulturstaatsministerin und das „gemeinsame Unterhaken“ von Politik und Kulturwirtschaft.

„Wir wollen diese Messe“, betonte auch Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung. „Ich glaube, es ist ein gutes, wichtiges Zeichen, Bund, Land, Kommune und Verlagsbranche Hand in Hand zu erleben.“ Wie essentiell das Bücherfest fürs gesellschaftlich-kulturelle Leben der Kommune ist, illustrierte der OBM mit einem Bonmot: „Die Leipziger Messe als Mutter aller Messen“ sei die einzige Messe der Welt, die sich „eine eigene Stadt“ halte.

Für Martin Buhl-Wagner, Geschäftsführer der Leipziger Messe GmbH, hat die Vorbereitung auf die Leipziger Buchmesse 2023 bereits begonnen: „Sie ist auf den Schienen.“ Zwei Aufgaben nimmt der Manager aus der Runde mit: „Wir werden Formate in einem Stufenmodell entwickeln – gemeinsam mit Ausstellern, Autoren, Verlagen und Medienhäusern. Und wir werden vieles bringen, was wir nach den erfolgreichen Jahren bis 2019 in den Schubladen lassen mussten.“ Dabei weiß sich Buhl-Wagner mit Oliver Zille einig: Neben der Schärfung des bewährten Doppel-Konzepts von Messe und „Leipzig liest“ geht es dem Buchmesse-Direktor und seinem Team darum, mit einem „Backup-Modell“ zu garantieren, dass die Frühjahrs-Großveranstaltung auch unter tendenziell unsicheren pandemischen Bedingungen sicher über die Bühne gehen kann. „Das ist fundamental neu im Vergleich mit einer klassischen Messe-Organisation“, sagt Zille. „Aber das ist unsere Innovations-Aufgabe.“

Auf „unterschiedliche Szenarien“ vorbereitet zu sein, ist auch für Alexander Lorbeer, den CEO der Holtzbrinck Buchverlage, essentiell. Leipzig sei für sein Haus auch deshalb wichtig, weil die Buchmesse „sehr stark an den Bedürfnissen der Leserinnen und Leser“ ausgerichtet sei – „ein sehr, sehr hohes Gut“. Das gilt nicht nur für die großen Konzerne, sondern ebenso für die vielen kleineren, aber ungemein innovativen Independent-Verlage, die hier die dringend benötigte Sichtbarkeit für sich und ihre Programme schaffen. Mit künstlich hochgejazzten Frontlinien Groß gegen Klein oder Ost gegen West, davon ist auch die Kurt-Wolff-Vorstandsvorsitzende Katharina Eleonore Meyer überzeugt, rede man die Bedeutung der Leipziger Buchmesse fahrlässig klein.

Für den sächsischen Wirtschaftsminister und Aufsichtsratsvorsitzenden der Leipziger Messe GmbH Martin Dulig ist es mit dem schieren „Stattfinden“ der Messe im kommenden Jahr nicht getan. „Die Buchmesse 2023 wird nicht einfach die Fortsetzung von 2019 sein“, so Dulig. „In den Jahren, wo Leipzig nicht stattfinden konnte, hat es mit Pandemie und geändertem Freizeitverhalten, inzwischen einem heißen Krieg in Europa dramatische Veränderungen gegeben. Wir alle, die diese Messe wollen, von ihr überzeugt sind, haben uns in die Hand versprochen, dass wir an ihrer Fortentwicklung mitwirken wollen.“ Das vertrauensvolle Gespräch wird weitergehen – auch wenn die „Tagesschau“ und mein freundlicher Späti-Betreiber nicht dabei sind.

„Flexiblere Aufstellung“

„Flexiblere Aufstellung“

Nach „Leipzig liest extra“ 2021 schien es lange möglich, in diesem Frühjahr – unter weiterbestehenden, aber beherrschbaren Corona-Bedingungen – eine physische Buchmesse durchzuführen. Nun bleiben die Hallentore zu, die Idee der Leipziger Buchmesse wird jedoch mit einer Vielzahl von literarischen Initiativen weitergetragen. Wie blicken Sie auf diese phantasievolle Selbstermächtigung eines nicht kleinen Teils der Kulturbranche?

Oliver Zille: Natürlich hätten wir Mitte März unglaublich gern die Leipziger Buchmesse eröffnet. Da das in diesem Jahr aber nicht möglich ist, freuen wir uns, dass unser Partnernetzwerk bereits entwickelte Konzepte an vielen Orten der Stadt weiterträgt. Das zeigen die Begegnungen mit Autoren und Büchern aus Portugal, Österreich und Südosteuropa – ebenso wie die Autorinnen und Autoren, die im März in Leipzig mit hochkarätigen Preisen geehrt werden.

Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und der Preis der Leipziger Buchmesse werden live an symbolträchtigen Orten verliehen – in der Nikolaikirche und unter der Glashallenkuppel. Wie wichtig ist ihnen das?

Zille: Es ist ein Zeichen in die Branche. Wir freuen uns über alle, die mit uns und den Autoren feiern. Und wir wollen, auch in diesen herausfordernden Tagen, zeigen, dass wir sehr lebendig sind – und uns keinesfalls verstecken brauchen. Wir kriegen in diesen Tagen von vielen Verlagen, großen wie kleinen, enorm ermutigende Signale. Behaltet die Nerven, heißt es da, 2023 wuppen wir das wieder zusammen!

Was tun Sie jenseits der beiden großen Preisverleihungen für die Teile des geplanten Programms, die nun an dezentralen Orten und im Netz stattfinden?

Zille: Wir kommunizieren diese Einzel-Initiativen unter dem Slogan „Leipzig liest trotzdem“ auf unserer Website www.leipziger-buchmesse.de. Das Team hat hier trotz Vollbremsung kurz vorm Zieleinlauf sehr gut gearbeitet und hinter den Kulissen viel Ermöglichungs-Arbeit geleistet.

Zwischen die Buchmesse und ihr Lesefest „Leipzig liest“, so lautete stets Ihr Mantra, passe kein Blatt Papier, beide gehörten zueinander wie das Amen in die Nikolaikirche. Ist beides nur zusammen zu haben?

Zille: „Leipzig liest“ ist ein Gemeinschaftsprojekt von vielen, vielen Partnern – und nur als Gemeinschaftsprojekt in dieser Dimension hinzustellen. Mit der Messe fehlt der starke Magnet, der alles zusammenhält.

Wie funktioniert die Kombination aus Messe und Lesefest idealerweise?

Zille: Wir sind Messe, Convention und Lesefest in einem, wobei „Leipzig liest“, anders als klassische Literaturfestivals, als Marketing-Verstärker für den Messeauftritt der Verlage gebaut ist. Statt zu den bereits Bekehrten zu predigen, ist unsere Grundidee, niederschwellig breiteste Zielgruppen für neue Bücher und fürs Lesen zu begeistern. Dafür ist das große Orchester notwendig.

Deshalb auch die Entscheidung gegen eine halbherzige Notausgabe? Mancher vermisste im dritten Jahr der Pandemie einen Plan B…

Zille: Eine rein digitale Veranstaltung halte ich bei einer Publikums-Messe, die so stark auf Begegnung setzt wie wir, für nicht zielführend. Dieses Signal bekommen wir auch aus der Branche. Und auch ein reines Lesefest wäre ein komplett anderes Geschäftsmodell, mit ganz anderen finanziellen Implikationen.

Über die Absage im Februar wurde sehr emotional gestritten. Hat Sie die Wucht der Diskussion überrascht?

Zille: Leipzig war die erste kulturelle Großveranstaltung, der 2020 pandemiebedingt der Stecker gezogen wurde. Wenn ein Ereignis mit diesem politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Gewicht das dritte Mal in Folge nicht stattfinden kann, werden natürlich Fragen gestellt. Aber eine Buchmesse ist letztlich ein Spiegel der gesellschaftlich virulenten Debatten und dazu eine von Corona weichgeklopfte Branche – und, ja, die Psychologie. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen und Projektionen. Alle sind verantwortungsbewusst – können aber zu je anderen Entscheidungen kommen. Am Ende haben Verlage die Reißleine aufgrund der Corona- Bedingungen gezogen, nicht etwa, weil sie unser Konzept der Begegnungs-Messe in Zweifel gezogen hätten. Wir sind nicht am Markt gescheitert, sondern an einer Pandemie, das wird gern vergessen.

Immerhin hat sich gezeigt, dass Leipzig und Literatur offenbar nicht ohne einander zu denken sind…

Zille: Am Ende kann die Buchmesse von den Ausschlägen der Erregungskurve vielleicht auch profitieren: Ist heiß und kalt nicht allemal besser als lau?

Der Krieg in der Ukraine erinnert uns daran, dass der Blick zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn stets integraler Teil des Selbstverständnisses der Leipziger Buchmesse war; Leipzig ist historischer erprobter und geografisch ausgezeichneter Ort für das Gespräch über politische, kulturelle und mentale Grenzen hinweg. Wie sehr vermissen Sie das, gerade jetzt?

Zille: Wenn es Institutionen wie den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und die in Jahrzehnten geknüpften Netzwerke zwischen all unseren Partnern, vom Auswärtigen Amt über TRADUKI bis zur Bundeszentrale für politische Bildung, nicht existierten, müssten sie schleunigst erfunden werden. Als Plattform für den gesellschaftlichen Dialog ist die Messe unverzichtbar. Wir verstehen uns als Literatur- und Debatten-Plattform mit gesamtdeutscher, europäischer Ausstrahlung. Deswegen investieren Verlage – große wie kleine – in Leipzig; es gibt im Zusammenspiel von Messe und Lesefest einen Medienauftrieb und einen Marktdurchsatz, die es bei klassischen Festivals in dieser Dimension nicht geben kann.. Die Formel, dass wir hier ein bisschen in Kultur machen, während andernorts die großen Deals passieren, wird auch durch ständige Wiederholung nicht stimmiger.

Wird die Buchmesse 2023 so wie 2019 – oder muss sich Leipzig neu erfinden?

Zille: Ein Stück weit habe wir uns immer neu erfunden, denken Sie an den Umzug aufs neue Messegelände. An unserem Grundansatz ändert das nichts: Wir wollen für neue Literatur werben, sie sichtbar machen, neue Leserschaften erschließen – und dabei in die Breite gehen. Es geht also nicht nur um die wenigen großen Namen. Das unterscheidet uns auch von klassischen Literaturfestivals und anderen Messen im In- und Ausland. Reichweite ist ein ganz wesentlicher Punkt für den Auftritt eines Verlags oder Content-Gebers in Leipzig. Digitale Erweiterungen müssen dieses Konzept bedienen. Wir sind eine Messe der Begegnung für Autoren und Leser, für Medienleute, Lektoren, Übersetzer. Wenn wir von hybriden Erweiterungen sprechen, gilt es, all das, was die Verlage im digitalen Werkzeugkasten haben, mit unseren Tools zu verbinden. Aus diesem Grund bauen wir, mit Unterstützung des BKM, gerade unsere „Leipzig liest“-Datenbank neu.

Jörg Sundermeier, der Verleger des Verbrecher Verlags, hat die großen Konzernverlage unlängst mit Tankern verglichen, denen es manchmal an Wendigkeit fehlt. Sind nicht auch die Buchmesse und ihr Lesefestival, die zuletzt, also im März 2019, immerhin 286.000 Besucher anlockten, solche Tanker?

Zille: Wir müssen zwingend darüber nachdenken, wie wir uns in post-pandemischen Zeiten flexibler aufstellen können. Mir fällt der ironische Filmtitel von Alexander Kluge und Edgar Reitz aus dem Jahr 1974 ein: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“.

Die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretzschmer haben die Branche mit Blick auf Leipzig zu einem Zukunftsgespräch eingeladen. Was erhoffen Sie sich?

Zille: Keine Mittelwege (lacht)… Stattdessen Sensibilität für die Erfordernisse einer ziemlich solitären Veranstaltung wie der Leipziger Buchmesse.