Auch Juryarbeit ist vor allem eins: Arbeit. Wo liegt für Sie der Reiz, sich ihr auszusetzen?
Jens Bisky: Der Reiz ist sogar ein dreifacher: Zum einen liegt er darin, dass man relativ früh einen guten Überblick über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Sachbücher und Übersetzungen einer Saison erhält. Und so gar nicht umhinkommt, sehr viel zu lesen. Der zweite Reiz besteht darin, dass man über diese Bücher mit klugen Kolleginnen und Kollegen reden kann. Anfangs per Mail, später direkt – das bereitet mir immer großes Vergnügen. Und schließlich: Irgendwann muss man eine Entscheidung treffen – und ist gespannt, wie die Autoren und Leser darauf reagieren.
Wie hart wird um diese Entscheidung gerungen?
Bisky: Die Jury besteht – zum Glück – aus sehr verschiedenen Individuen, die alle anders lesen und urteilen. Insofern ist die Auseinandersetzung hart in der Argumentation – aber sehr freundlich im Umgang miteinander. Anders würde es gar nicht gehen. In diesem Frühjahr hätten wir in jeder Kategorie locker auch sechs, sieben oder acht Titel auf die Nominiertenliste setzen können. Sich dann für fünf zu entscheiden, das dauert!
Auch im Kritiker-Alltag schleichen sich Routinen ein. Sind Sie noch zu überraschen?
Bisky: Ich hoffe. Wenn ich das nicht mehr wäre, müsste ich den Beruf wechseln.
Die Fokussierung der Medien auf Preise wird im Betrieb gelegentlich kritisch hinterfragt; man beklagt, dass andere Bücher aus dem Blick geraten. Wie sehen Sie das?
Bisky: Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, das Angebot ist riesig. Und Bücher sind ja nur ein Teil des ungeheuren Outputs zu Vergnügen, Belehrung und Unterhaltung. Die Preise, besonders die prominenten unter ihnen, strukturieren diese Aufmerksamkeit, klar. Es gibt aber immer auch andere Bücher, die ihren Weg zum Publikum finden. Vieles läuft auch über, wenn man das so nennen will, „Mund-zu-Mund-Propaganda“: die Empfehlungen der Buchhändler, die Tipps von Freunden. Die Frage wäre, was aus der Kritik folgt? Sollte man Preise deshalb abschaffen? Dann würden sich vermutlich die mächtigsten Verlage mit den größten Werbeetats durchsetzen.
Im letzten Jahr konnte sich der Verbrecher Verlag mit seiner Autorin Anke Stelling über den Preis der Leipziger Buchmesse freuen. Wie schätzen Sie die Chance für kleinere Independent-Verlage ein, an die begehrten Preistöpfe zu kommen?
Bisky: Ich glaube, dass die Chancen für kleinere Verlage, die nicht den großen Apparat eines Konzerns hinter sich haben, besser geworden sind als noch vor zehn, 15 Jahren. Inzwischen hat sich herumgesprochen, was die Independents für die literarische Landschaft leisten. Wer sich länger mit Büchern beschäftigt, kann diesen Umstand gar nicht übersehen.
Wie groß ist die Gefahr, in der Juryarbeit taktischen Erwägungen zu verfallen?
Bisky: Die Diskussion ist nie ganz frei von außerliterarischen Überlegungen. Wichtig ist, dass die Frage nach der Qualität die entscheidende Rolle spielt. Natürlich versucht man, eine gewisse Varianz der Buchtypen zu erreichen. Es wäre vielleicht nicht so sinnvoll, fünf Romane zu nominieren, in denen es um eine Kindheit in Sachsen geht. An anderer Stelle können Bücher nah bei einander, geradezu miteinander „verwandt“ sein. Dann muss die Jury so frei sein sagen zu können: Genau das wollen wir.
Das Berliner Theatertreffen hat in diesem Jahr erstmals eine Quote eingeführt, in der Branche wird über Initiativen wie #frauenzählen oder #vorschauzählen diskutiert. Halten Sie eine Quotierung nach Geschlecht beim Preis der Leipziger Buchmesse für denkbar?
Bisky: Ich halte diese Initiativen für wichtig. Und habe, als die Einreichungen der Verlage komplett waren, ja bereits festgestellt, dass das Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren in den Kategorien Übersetzung und Belletristik relativ ausgewogen war. Beim Sachbuch kamen auf eine Autorin zwei Autoren. Wir haben das Geschlechterverhältnis bei unseren Diskussionen immer im Auge gehabt – in der Gewissheit, dass es genügend tolle Autorinnen, Übersetzerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Journalistinnen gibt.
Sie sind selbst ein erfolgreicher Sachbuchautor. Erkennen Sie Trends in diesem Segment?
Bisky: In diesem Jahr sind in der Kategorie Sachbuch auffallend viele Titel mit direktem Gegenwartsbezug eingereicht worden, darunter ein großer Teil „Thesenbücher“ zu Themen wie Umwelt, Feminismus, Migration. In der Belletristik gab es zwei Motive, die häufiger vorkamen – Autorinnen und Autoren, die sich mit der Welt ihrer Väter und Großväter, der Welt ihrer Eltern beschäftigen. Zum anderen wenden sich mehrere Romane und Erzählungen dem Thema „Radikalisierung“ zu.
An Literaturpreisen herrscht im deutschsprachigen Raum kein Mangel. Wo sehen Sie in diesem Feld den Preis der Leipziger Buchmesse, der in diesem Jahr zum 16. Mal vergeben wird?
Bisky: Er ist ohne jeden Zweifel einer der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland. Und er hat den besonderen Charme, dass die Jury ihn nicht nur in drei Kategorien vergeben darf – sondern auch hinsichtlich der Genres alle Freiheiten hat. Bei den Auszeichnungen gibt es keine Limitierungen, buchstäblich alles ist möglich: In der Belletristik können wir Romane aufs Podest heben, aber auch Gedichte oder Erzählungsbände. Dazu Sachbuch- aber auch Belletristik-Übersetzungen aus den verschiedensten Sprachen. Schließlich in der Sachbuch-Kategorie ein Spektrum, das von der historischen Monografie über den schnellen Essay bis hin zur Familiengeschichte reicht. Diese ungeheure Freiheit ist ein besonderer Reiz des Preises.
Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er schrieb für die „Berliner Zeitung“ und ist seit 2001 Feuilletonredakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Zudem ist er Autor mehrerer vielbeachteter Bücher, darunter „Geboren am 13. August“ (2004), „Kleist. Eine Biographie“ (2007), „Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit“ (2011) und zuletzt „Berlin. Biographie einer großen Stadt“ (2019). 2017 wurde Bisky von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ausgezeichnet. Der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse gehörte er bereits in den Jahren 2010 – 2012 an; seit 2019 ist er Juryvorsitzender.
Für Guntram Vesper war der Roman „Frohburg“ so etwas wie ein Lebensprojekt. An die zehn Jahre währte die Schreibarbeit, erst ab 2010 übertrug er seine handschriftlichen Manuskripte auf einen Computer. Sollte er dieses stetig weiter wuchernde Opus magnum überhaupt veröffentlichen? „Ich wusste, dass ich hier über meine heiligsten Bezirke schreibe. Und mich damit auch angreifbar mache. Sich mit über 70 Jahren noch einmal dem rauen Wind des Literaturbetriebs aussetzen? Das hatte er doch alles hinter sich. Vesper erzählte schnurrige Details aus der Werkstatt: Von der ersten Postkarte, mit der er Klaus Schöfflings Neugier weckte, geschrieben in der Sachsenbaude auf dem Kleinen Fichtelberg bei Oberwiesenthal, bis zum letzten Lektorat in Rekordzeit. Zwei Tage später schickte Vesper das Konvolut – als Mail-Anhang. Klaus Schöffling las während seines Urlaubs in Oberitalien. Und war begeistert. Ein wenig bangte Vesper dann doch vorm Erscheinen: „Geht das Buch spurlos unter? Zieht es ein paar Kreise?“
Als „Frohburg“ dann auf der Nominiertenliste des Preises der Leipziger Buchmesse auftauchte, war Guntram Vesper eigentlich schon zufrieden. „Mit der Nachricht war ich im siebten Himmel! So konnte es bleiben.“ Als am Messedonnerstag 2016 unter der Glashallenkuppel der Preis in der Kategorie Übersetzung an Brigitte Döbert für ihre kongeniale Übertragung von Bora Ćosićs ebenfalls bei Schöffling erschienenen Roman „Die Tutoren“ ging, dachte Vesper: „OK, das war’s jetzt. Es war eh’ nur eine Fünf-Prozent-Chance.“ Dann der Paukenschlag. Überraschung, Rührung, Umarmung des bärtigen Verlegers. „Ich war völlig perplex, hatte mir natürlich nichts zurechtgelegt.“ Am Messe-Samstag ging es weiter, ins echte Frohburg. „In Borna habe ich mir die ‚Welt’ gekauft; über Richard Kämmerlings’ Rezension stand: ‚Jahrhundertroman’. Was sollte jetzt noch folgen?“
Nun, es folgte eine Menge. Lesungen, Interviews, Radio und Fernsehen. Vespers Exemplar von „Frohburg“ – Leinen, extradicker Schutzumschlag, farbiges Vorsatzpapier, Lesebändchen – hat die mehr als 150 Auftritte der letzten Jahre übrigens tadellos überstanden. „Mehr kann sich ein Autor nicht wünschen.“ An eine Lesung kann er sich noch besonders erinnern: Am 23. April 2016, dem Welttag des Buches, las Vesper aus „Frohburg“ – in Frohburg. 500 Menschen stürmten die Fabrikationshalle der Tischlerei Graichen, aus der die Maschinen heraus- und Stuhlreihen hineingeschoben worden waren. Einer der Graichens war mit Vesper in eine Klasse gegangen, damals. Ebenso bewegend: Auf Vermittlung einer ehemaligen Mitschülerin konnte Vesper im letzten Sommer – nach 62 Jahren! – sein Geburtshaus in der Greifenhainer Straße wiedersehen. In der Wohnung im ersten Stock, wo die Großeltern lebten, war sogar die alte Schiebetür aus Kindertagen erhalten geblieben. Über all’ das führt Vesper Tagebuch. „Über fünf Millionen Zeichen“, laut PC. Schon jetzt der doppelte Umfang von „Frohburg“. Für Guntram Vesper ermöglicht der sensationelle Erfolg seines Buchs so etwas wie eine Heimkehr. Es ist eine wichtige Begleiterscheinung des Preises, dass er nun entspannt und wach, ganz real, durch seine Vergangenheit gehen kann. „Für meinen schriftstellerischen Zugriff“, sagt er lachend, „liegt sie nun günstiger“.
„Ich soll einen Preis bekommen. Das Buch, das ich geschrieben habe, hat vielen Leuten gefallen. Der Verlag hat angerufen, dass er nachdrucken will.“ Das sagt die Ich-Erzählerin in Anke Stellings Roman „Schäfchen im Trockenen“. Ein Blick ins Buch, zwei ins Leben: Für die Autorin ist das gerade zu Ende gegangene Jahr das bisher wichtigste in ihrer Schriftsteller-Laufbahn: Ihr siebter Roman „Schäfchen im Trockenen“ wird noch immer viel gelesen und diskutiert; im März 2019 erhielt sie für dieses Buch, erschienen im kleinen Berliner Verbrecher Verlag, den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Für die Romantrilogie, zu der neben „Schäfchen im Trockenen“ auch „Bodentiefe Fenster“ (2015) und „Fürsorge“ (2017) gehören, wurde ihr zudem im Juni der Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg verliehen.
Anke Stelling, 1971 in Ulm geboren, studierte ab 1997 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig; ihr Debüt „Gisela“, gemeinsam mit Robby Dannenberg verfasst, erschien 1999. Nach dem Wechsel zu S. Fischer erschienen drei weitere Bücher, doch es wurde ruhig um die Autorin. „Noch heute werde ich gelegentlich anmoderiert, als sei ‚Bodentiefe Fenster’ mein erster Roman“, wundert sich Stelling. Hat der Preis-Paukenschlag ihr Leben, gar ihr Schreiben verändert? Am deutlichsten spürt sie die veränderte öffentliche Wahrnehmung: „Ich habe drei, vier Mal so viele Lesungs-Anfragen, ich kann höhere Honorare verlangen, ich habe ein größeres Publikum. Aber ich habe auch viel weniger Zeit fürs Schreiben, kann mich sehr viel weniger darauf konzentrieren.“ Auch nach fast einem Jahr kommt ihr das, was ab März 2019 geschah – Interviews, Blitzlichter, die Platzierung auf der Spiegel-Bestsellerliste – noch reichlich unwirklich vor. Eine unbewusste Strategie, die Außenreize nicht zu wichtig zu nehmen? „Wenn einen so etwas ganz früh ereilt, und man später vom Betrieb wieder fallengelassen wird, kann einen das schon beschädigen“, ahnt die Autorin.
Der Druck im Kessel steigt definitiv, daran muss sich Anke Stelling noch gewöhnen: „Ein größeres Publikum sitzt beim Schreiben mit am Tisch und schaut mir über die Schulter – zumindest in meiner Vorstellung. Wenn ich dann unterwegs bin, und von Leserinnen und Lesern höre, was ihnen meine Texte bedeuten – dann ist das erhebend und ein wenig bedrückend zugleich. Man merkt: Das eigene Schreiben bedeutet etwas, nicht nur für einen selbst! Das ist auf der einen Seite ein hoher Anspruch, andererseits auch ein bisschen einschüchternd. Man muss das für sich in die Balance kriegen.“ Die Frage, ob Anerkennung im Literaturbetrieb hilfreich ist oder nicht, hat Stelling in ihrer Bad Homburger Preisrede thematisiert. Und noch immer fällt die Antwort ambivalent aus: „Ich glaube, dass man sich als Künstlerin nicht so stark von Außenwirkungen abhängig machen darf.“
Und wie läuft das Schreiben, nach dem Preis? Als Anke Stelling im März jubelte, hatte sie ihr nächstes Buch schon zugesagt – ein Kinderbuch, ihr zweites. Eigentlich wollte sie den Erscheinungstermin verschieben, doch der Verlag blieb hartnäckig. Zum Glück, wie Anke Stelling jetzt findet: „Weil ich gezwungen war, weiter zu machen, Zeit am Schreibtisch zu verbringen, statt darüber nachzugrübeln, wie es mit den „Schäfchen“ weitergeht. Es war eine Doppelt- und Dreifach-Belastung, aber ich kam auch nicht in die Verlegenheit einer Schreib-Blockade. „Freddie und die Bändigung des Bösen“ (cbj) erscheint nun im März: Punktgenau zur Leipziger Buchmesse.
Anke Stelling ließt zur Buchmesse aus ihrem neuen Kinderbuch „Freddie und die Bändigung des Bösen“:
13. März 2020, 9.00 Uhr, Bibliothek Leipzig-Gohlis,
13. März 2020, 12.30, Messegelände, Halle 2, Lesebude 2
War es schwierig, mit dem ersten Buch bei einem Verlag unterzukommen?
Gerda Raidt: Meine Diplomarbeit an der HGB war ein Buch, „Matrosentango“, das erschien in einer kleinen Auflage von 50 Exemplaren. Ein typisches Bilderbuch für Erwachsene; der denkbar schwierigste Einstieg für eine Newcomerin. Ich habe es bei dem Wettbewerb um die „Schönsten deutschen Bücher“ eingereicht, dort bekam es eine „Lobende Anerkennung“ und war auch in der Frankfurter Freihand-Ausstellung zu sehen. Zufällig geriet es Peter Hinke in die Hände, der es in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung veröffentlicht hat. Zuvor hatte ich es auch an andere Verlage geschickt; bis vor ein paar Monaten habe ich die Absagen, die damals eintrudelten, sogar in einem Ordner abgeheftet. Nur ganz wenige Lektorinnen und Lektoren haben sich die Mühe gemacht, die Absage individuell zu begründen.
Wurdest Du während des Illustrations-Studiums auf solche schnöden Begegnungen mit der Marktrealität vorbereitet?
Raidt: Im Studium spielte das Überleben als Illustrator keine Rolle. Die Hochschule will natürlich nicht Leute für den Markt ausbilden, sondern sie sind an Absolventen interessiert, die möglichst eine eigene Handschrift haben. Manche Schulen nehmen sich des Problems an, so zum Beispiel die Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale. Von meinen ehemaligen Kommilitonen sind interessanterweise heute viele in der Lehre tätig. Allerdings sind die Anstellungen unterhalb einer Professur meist befristet – und finanziell nicht unbedingt der Hammer.
Wie ging es nach der Veröffentlichung Deines Erstlings „Matrosentango“ weiter – wie konntest Du Dich am Markt etablieren?
Raidt: Wir haben im Atelierhaus Frühauf zu einer Leipziger Buchmesse eine Gruppenausstellung organisiert, ein rauschender Abend mit unseren Bildern an der Wand. Gleichzeitig haben wir’s geschafft, doch einige Leute aus der Verlagswelt dahin zu lotsen. Nach dem Abend hatte ich dann einige Visitenkarten in der Hand (lacht). Bettina Herre von Sauerländer hat mir einen Text von Hans-Christian Andersen für ein Weihnachtsbilderbuch zum Illustrieren gegeben, das erste „echte“ Auftragsbuch. Parallel saß ich für Gerstenberg an einem Kinderreime-Hausbuch, Edmund Jacoby waren meine Arbeiten im Frühauf! ins Auge gefallen.
Man möchte gern in den Betrieb reinkommen – gleichzeitig aber seine künstlerischen Überzeugungen, seine Haltung nicht an der Garderobe abgeben. Wie geht man am Start seiner Laufbahn mit diesem Spagat um?
Raidt: Ich hatte wohl eine viel größere Angst davor, als letztlich nötig war. Meist geht es um Änderung in den Skizzen, die ich zeige. Wenn ich die Begründung der Lektorin nachvollziehen kann, ist das für mich OK – und ich kann neue Lösungen finden. Schlimm ist es, wenn ohne erkennbaren Grund in die Bildebene eingegriffen wird: Bitte die Arme länger, die Augen kleiner! Aber das passiert sehr selten. Am ehesten noch bei Covern, die U 1 ist ja die Werbefläche des Buchs im Handel. Manchmal werden dann die zur Vertreter-Konferenz aufploppenden Wünsche gebündelt an mich weitergereicht. Manchmal sind das auch in sich widersprüchliche Wünsche, dann gilt es, einen Kompromiss zu finden. Aber der kleinste gemeinsame Nenner muss nicht die beste Lösung sein.
Wie funktioniert das im Alltag?
Raidt: Sagen wir so: Ich will ja auch, dass sich meine Bücher verkaufen. Ich vertraue dann der geballten Expertise von Marketing und Vertrieb. Man kann ja von fünf vorgeschlagenen Änderungen drei klaglos akzeptieren – und bei zweien sagen: Das ist mir ganz wichtig! Funktioniert. Es muss ja auch häufig sehr schnell gehen.
Manchmal sind einzelne Personen wichtig; bei Dir war das etwa Petra Albers, die Programmleiterin von Beltz & Gelberg…
Raidt: Stimmt. Sie forderte mich sehr nachdrücklich auf, mit eigenen Ideen rumzukommen. Auf diese Weise kam es zu „Die Straße“, meinem ersten Buch für Beltz & Gelberg, zusammen mit der Autorin Christa Holtei. Inzwischen sitze ich am vierten.
Worauf kommt es bei der Zusammenarbeit mit Autorinnen und Autoren an?
Raidt: Oft habe ich mit ihnen gar nicht so viel zu tun, der Text ist ja meist vorher da. Und dann arbeite ich an den Illustrationen. Der Lektor im Verlag ist das Scharnier bei diesem Prozess, er moderiert und steuert ihn. Ich finde, der Autor muss dem Illustrator ein wenig Luft lassen; wenn der Text geschrieben ist, gibt man ihn in die Welt. Schwierig, wenn der Autor, die Autorin nicht loslassen kann – aber das passiert zum Glück selten. Die meisten freuen sich über die Bilder zum Text, die ja noch einmal eine andere Perspektive in die Geschichte bringen, sie bereichern.
Mit dem Relaunch der „Fünf Freunde“ von Enid Blyton wurdest Du zur Serien-Illustratorin. Wie hat sich das angefühlt?
Raidt: Das waren insgesamt 22 Bände, Cover plus Innengestaltung, eine Menge Holz. Diese Reihe sollte noch mal für ein jüngeres Leser-Publikum erschlossen und behutsam in einen moderneren Look gebracht werden. Das waren zweieinhalb Jahre, in denen ich hauptsächlich an diesem Projekt gearbeitet habe. Es war angenehm, mal eine Art „Festanstellung“ mit regelmäßigem Honorareingang zu haben. Und es war ein überschaubarer Zeitraum. Viele andere Projekte musste ich in dieser Zeit absagen, das ist mir nicht leichtgefallen. Da schwang eine latente Angst mit: Vielleicht ruft dich nie wieder jemand an? Was natürlich völlig unbegründet war.
Wie hast Du über die Jahre gelernt, mit der Freiberuflichkeit umzugehen?
Raidt: Ich glaube, man hat einen Vorteil, wenn man aus einer Freiberufler-Familie kommt. Allerdings hat meine Oma immer hartnäckig nachgefragt: „Hast Du denn jetzt eine Anstellung, Kind?“ Ich wurde da bisschen als Problemfall wahrgenommen, auch wenn das keiner gesagt hat. Die ökonomische Unsicherheit ist hin und wieder da, auch wenn ich inzwischen routinierter damit umgehe. Hinter das „Frei“ würde ich aber ein Fragezeichen setzen: Ich sitze montags bis freitags, zu den normalen Büro-Kernzeiten, am Arbeitstisch. Auch, wenn meine Ansprechpartner in den Verlagen gerade Urlaubs-Meldungen verschicken. Und ich sitze da mindestens acht Stunden täglich, in Abgabephasen auch länger!
Wie siehst du Deinen Beruf unter finanziellen Aspekten, auch im Vergleich mit anderen kreativen Berufen?
Raidt: Im Verhältnis zu anderen Kreativen vermutlich ähnlich; vielleicht läuft es bei mir sogar kontinuierlicher als bei jemanden aus der, sagen wir, freien Theaterszene. Ich bin recht breit aufgestellt, das ist meine Sicherheit. Wie auch die Autoren sind wir prozentual am Verkauf des Buches beteiligt; es gibt einen prozentualen Anteil vom Netto-Ladenpreis – und darauf einen Vorschuss, das Garantiehonorar. Ich darf mich nicht so oft mit anderen Eltern unterhalten, die aus der Wirtschaft kommen – das kann deprimierend sein. Man ist hochqualifiziert, aber am Ende eine Tagelöhnerin. Als ich 35 war, haben viele in meiner Umgebung Häuser oder Wohnungen gekauft, das hat mich hin und wieder ins Zweifeln gebracht. Inzwischen reden diese Leute mit festen Bürojobs schon wieder davon, was sie „eigentlich“ machen wollen. Da muss ich grinsen: Ich habe genau das bislang immer das gemacht. Das ist mein Luxus.
Du lässt dich von einer Agentin vertreten. Warum?
Raidt: Ich bin nicht die beste PR-Frau in eigener Sache; verhandeln gehört auch nicht unbedingt zu meinen Stärken. Susanne Koppe übernimmt das für mich.
Wie bleibst Du angesichts des doch latenten Drucks im Kopf locker und kreativ?
Raidt: Ich versuche, mir Zeiträume für eigene Projekte freizuhalten. Das erfordert eine gewisse Disziplin, die Verlockung, doch wieder Aufträge anzunehmen, sind groß. Aber wenn es klappt, entstehen schöne Sachen wie „Meine ganze Familie“ (Beltz & Gelberg), ein Buch, bei dem Konzept, Text, Illustration und Gestaltung von mir stammen. Inzwischen sitze ich an einem weiteren Sachbuch. „Müll. Alles über die lästigste Sache der Welt“ erscheint zur kommenden Leipziger Buchmesse.
Gerda Raidt, 1975 in Berlin geboren, hat an der Burg Giebichenstein Halle und der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig studiert. Sie arbeitet als freie Illustratorin in Leipzig und hat zahlreiche Bücher für verschiedene Verlage illustriert, unter anderem Beltz & Gelberg, Insel, cbj, Aladin und Gerstenberg. Zur Leipziger Buchmesse im März 2019 erscheint ihr neues Buch „Müll. Alles über die lästigste Sache der Welt“ bei Beltz & Gelberg.
Fantasiebeschleuniger: Die Leipziger Buchmesse bietet ein vielseitiges Kinder- und Jugendprogramm mit Lesungen und Mitmach-Angeboten, Aktionen im Hörbuch- und Musikbereich, mit Spielen oder Mal- und Bastelangeboten. Foren wie die „Lesebude“ und der „Lesetreff“ sowie zahlreiche Veranstaltungsorte in der Stadt Leipzig bieten Gelegenheit, die Macher von Bilderbüchern und Autoren persönlich zu treffen.
„Go West!“ lautet die Parole im Nachwende-Leipzig 1990. Ein junger Mann aber macht sich Hals über Kopf in die Gegenrichtung auf. Er landet im Kopfbahnhof der Messestadt, deren Revolutionsbilder eben noch um die Welt gingen. Und auch jetzt ist Leipzig im Ausnahmezustand: Montagsdemo und Karneval an einem Tag. Thorsten Palzhoff hat sich intensiv mit den turbulenten Wochen nach der Wende beschäftigt – entstanden ist jedoch kein Sachbuch, sondern ein Roman, der in opulenten Bildern von einem kurzen historischen Moment erzählt, in dem das Wörtchen „alternativlos“ noch nicht erfunden war. Felix, der Hauptprotagonist, und seine neue Freundin Nica lernen ein Leipzig der Revolutionäre, Untergrundzeitschriften-Herausgeber und Idealisten kennen. Auch eines der West-Manager auf der Suche nach Ost-Schnäppchen. Sie übernachten in besetzten Connewitzer Häusern und leeren Wohnungen. Und dann ist in Leipzig auch noch Buchmesse – im März 1990 ein letztes Mal als Teil der Frühjahrsmesse, damals noch im Messehaus am Markt.
Lange Reifezeit
Thorsten Palzhoff, 1974 in Wickede, im Herzen der alten Bundesrepublik geboren, war im Frühjahr 1990 gerade einmal 15 Jahre alt. Mitte der 1990er Jahre zog er nach Berlin, studierte Literatur- und Musikwissenschaften – die Liebe zur Literatur, zum Schreiben, hielt er im Stillen am Köcheln. Sein Outing war die Bewerbung für die Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquium Berlin (LCB), seit vielen Jahren Projektpartner der Leipziger Buchmesse. Er wurde angenommen, 2006 erschien sein Debüt, der Erzählband „Tasmon“ bei Steidl. Jede der drei langen Geschichten handelt vom Verschwinden, von Verlusten – und davon, wie mit Worten Leerstellen geschlossen werden können. Bereits die Titelerzählung kreist um die deutsch-deutsche Vergangenheit und das Drama einer Flucht aus der DDR. Die Kritik rühmte die sprachliche Präzision ebenso wie die Sorgfalt der Komposition und den getragenen, weit ausgreifenden Erzählton des damals 32-jährigen Autors. Attribute, die zweifellos auch auf Palzhoffs ersten Roman „Nebentage“ zutreffen, der nun – ein volles Jahrzehnt nach dem literarischen Debüt – erschienen ist. Eine ungewöhnliche lange Zeitspanne zwischen zwei Büchern, zumindest für unsere schnelllebige Zeit. Doch das Warten hat sich gelohnt.
Wie hat das gerochen?
Palzhoff zeichnet das Leipzig des Frühjahrs 1990 in ungemein dichten Bildern: Die Dunstglocke aus schwefligem Braunkohlerauch und den Abgasen der Zweitakter, die alten Fassadenaufschriften, tote Hauseingänge. Der Westfale hat sich das Terrain akribisch angeeignet: Durch Lektüre, eine bald ausufernde Materialsammlung, Streifzüge mit der eigenen Kamera. „Anfangs“, sagt Palzhoff, „habe ich einen wahrscheinlich klassischen Fehler, gerade für das zweite Buch, begangen: Ich habe zu viel recherchiert! Man hat das Setting im Kopf – und dann muss man vergessen lernen.“ Neben den nüchternen Fakten brauche es allerdings auch eine gehörige Prise Empathie: „Man muss als Schriftsteller ja probieren, sich auch vorzustellen: Wie hat das gerochen? Man schnappt kleine Details auf, etwa, dass alle öffentlichen Gebäude im Winter überheizt waren. Das speichert man irgendwo ab und kann es dann abrufen beim Schreiben. Solche Dinge sorgen für eine Grundatmosphäre, die irgendwann einfach da ist.“ Die mitunter überbordende Handlung seines Romans bändigt Palzhoff mit vollendetem Formbewusstsein. Er mag das Vexierspiel, doch hält er es weniger mit der Postmoderne als etwa mit den Erzählern der Frühromantik. „Ein Buch soll lesbar bleiben, bei allem, was an literarischen Techniken und Kniffen aufgewendet wird.“ Nabokov, den er erst relativ spät für sich entdeckt hat, schätzt Thorsten Palzhoff sehr. Und – überraschend für einen seiner Generation – den frühen Grass der „Danziger Trilogie“.
Leben und Literatur
Was dem Autor Thorsten Palzhoff auf dem langen Weg zum ersten Roman widerfuhr, trägt selbst schon romanhafte Züge. Mit einem Fragment von 100 Seiten hatte er sich 2013 in ein kleines münsterländisches Dorf zur Schreib-Klausur zurückgezogen. „Ich saß am Beginn des zweiten Teils, Rosenmontag in Leipzig, Montags-Demo, die beiden Hauptpersonen Felix und Nica werden ein Paar. Und es war zufällig Februar im Münsterland, Karneval also.“ Der Autor wollte seine Schreib-Höhle verlassen, um am dörflichen Karnevals-Umzug ein paar Eindrücke zu sammeln. „Am Ende des Tags war ich nicht mit Nica, aber mit Nina zusammen. Und plötzlich war der Roman ein bisschen Teil meines Lebens.“ Thorsten Palzhoff folgt seiner neuen Freundin, einer niederländischen Autorin und Zeichnerin, in deren Heimat, ans Meer. In den folgenden fünf Jahren erlebten die beiden sechs Ortswechsel. „Nina brachte zwei Söhne und einen Roman zur Welt, während mein Manuskript auf einen Umfang von 600 Seiten anschwoll.“
Ein neues Kapitel
Im Februar ist Thorsten Palzhoff mit seiner Frau und den beiden Söhnen von Groningen nach Berlin umgezogen. In der hellen Wohnung am Rand des Prenzlauer Bergs riecht es noch nach Farbe, die einzige deutsch-niederländische Kita ist nur einen Steinwurf entfernt. Ein neues Kapitel im Lebens-Roman. Wenige Wochen später fährt er mit seinen auf gut 300 Seiten abgespeckten „Nebentagen“ zur Buchmesse. Auftritt bei der „Langen Leipziger Lesenacht“ in der Moritzbastei, ein wenig Lampenfieber hat er nun doch. Zu DDR-Zeiten ging man auf die Buchmesse, um durch ein Fenster ins gelobte Land zu sehen. Doch im verstörend neuen Überangebot des Frühjahrs 1990 wird für Palzhoffs Protagonisten das Ritual des Bücherklaus fade. Wenn selbst Freaks wie der bärtige Bürgerrechtler Dietrich aus Connewitz auf der Buchmesse keine Bücher mehr klauen, heißt es im Roman, „dann muss es wirklich schlecht um die DDR stehen“. Geschwächelt hat bis 1991 auch die zweite, kleinere deutsche Buchmesse. Doch 1992 lesen 100 Autoren an 150 Orten, von den kanonenofenbefeuerten Werkstatträumen der Galerie Eigen+Art in Connewitz bis zum ersten Bio-Laden der Noch-DDR. Es ist die Geburtsstunde von „Leipzig liest“, eine Erfolgsgeschichte, wie wir heute wissen. Vielleicht sollte einer wie Thorsten Palzhoff darüber einen Roman schreiben?
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