Entfaltungs-Räume

Entfaltungs-Räume

Inka Kirste hat sie noch gut im Ohr, die „Wir sind das Volk“-Sprechchöre vom Herbst 1989. Während der Montagsdemos hat die angehende Diplomhistorikerin, die hart um einen der raren Studienplätze kämpfen muss, ein Altertums-Seminar: Während draußen der Anfang vom Ende der DDR beginnt, diskutiert Kirste mit ihren Kommilitoninnen im 25. Stockwerk des Uni-Riesen über die Demokratie bei den alten Griechen. Nach dem Seminar landet man regelmäßig auf dem Ring, wo weiterdiskutiert wird. Nicht selten bis in die Nacht hinein, dann in der „Moritzbastei“, dem größten Studentenklub des Landes. „Eine extrem intensive Zeit“, sagt Inka Kirste heute. Im Studium hat sich die junge Frau mit Hang zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte dann auf die Buchstadt-Historie geworfen; in ihrer von Professor Hartmut Zwahr betreuten Magister-Arbeit erkundet sie Verleger- und Buchhändlerbiografien aus dem 19. Jahrhundert. „Wie haben die gelebt – und vor allem: gewirtschaftet? Das hat mich brennend interessiert.“

Buchstadt-Historie

Im Elfenbeinturm der Wissenschaft indes will sich Kirste nicht verbarrikadieren: Die neue Studienordnung sieht die Belegung von weiteren Nebenfächern vor; mit BWL und Journalismus glaubte sich Kirste gut aufgestellt fürs Arbeitsleben im gesellschaftlich umgekrempelten Nachwende-Deutschland. Nach dem Zwischenspiel bei einer Werbeagentur dockt sie für vier Jahre am Fachbereich Buchwissenschaft an, der von Dietrich Kerlen am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaften (KMW) der Universität Leipzig aufgebaut wurde. Sie beschäftigt sich in Lehre und Forschung mit dem Buchmarkt des 19. Jahrhunderts, mit Verlagswerbung und Marketing. „Für mich war es die Chance, für eine begrenzte Zeit noch einmal das machen zu können, was ich ursprünglich wollte“, sagt Kirste im Rückblick. Nach vier rasch vergehenden Jahren noch einmal der Wechsel in eine Werbeagentur. Und die Geburt ihres Sohnes, der inzwischen – Kinder, wie die Zeit vergeht! – 18 ist. In Teilzeit verantwortet sie die Mediaplanung bei der Agentur. Als absehbar ist, dass dieser Bereich eingestellt werden soll, bewirbt sie sich bei der Leipziger Buchmesse. „Eigentlich verrückt, dass ich nicht früher auf die Idee gekommen bin“, lacht Kirste, die als Uni-Mitarbeiterin regelmäßig beim Gemeinschaftsstand „Studium rund ums Buch“ dabei war.

Sprung ins kalte Wasser

Als Inka Kirste am 1. März 2003 – zunächst als Vertretung für die in Elternzeit gehende Projektmanagerin Gritt Philipp – bei der Leipziger Buchmesse beginnt, ist es der berühmte Sprung ins kalte Wasser. Sie stößt jedoch genau in jener Phase zum Team um Oliver Zille, als neue Segmente wie Reise und das 2001 aufgesetzte Hörbuch Aussteller- und Besucherzahlen kräftig – und nachhaltig – in die Höhe treibt: 2004 knackt die Buchmesse erstmals die Zahl von 100.000 Besuchern, 2005 wird das Hallenlayout von zwei auf vier Hallen erweitert. „Diesen Wechsel habe ich ganz aktiv mitgestaltet“, erinnert sich Kirste, die die Messe mittelfristig wieder vor einem ähnlichen Quantensprung sieht. Als die Messe 2004 die Organisation des Lesefests „Leipzig liest“ in Eigenregie übernimmt, kümmert sich Inka Kirste um die Veranstaltungen auf dem Messegelände und die Gesamt-Koordination. „Dabei geht es etwa darum, dass am Ende ein gedrucktes und ein Online-Programm erscheinen – und dass die Messe „Leipzig liest“ auch übers Jahr im Blick behält“, erklärt Kirste. Nachdem sie diese Funktion zwischenzeitlich an ihre Kollegin Gesine Neuhof abgegeben hatte, ist sie nach deren Verabschiedung in die Elternzeit aktuell wieder „Leipzig liest“-Koordinatorin.

Am Puls der Literatur

Auch die Organisation des Preises der Leipziger Buchmesse, den Kirste vom Start 2005 über fünf Jahre begleitet, steht inzwischen wieder auf ihrer to-do-Liste. „Das Ringen der Juroren um die richtige Entscheidung zu verfolgen“, gesteht sie, „gehört zu den Highlights meiner Arbeit“. Da alle im Team neben bestimmten Programmbereichen auch unterschiedliche Ausstellungs-Segmente betreuen, kümmert sich Kirste um Belletristik- und Sachbuchverlage, Religion, Reisen, Fachbuch, die Wissenschaftsverlage. Die Dienstleister der Branche und die Gemeinschaftspräsentationen Österreichs und der Schweiz hat sie ebenfalls auf dem Zettel. „Als ich anfing, hatte ich 400 Messestände zu betreuen, heute sind es rund 250. Aber es sind eben jede Menge anderer Aufgaben dazugekommen.“ So hat Inka Kirste stets auch den Fach-Aspekt der Messe auf dem Radar – kein Wunder bei ihrem Background. „Auch wenn wir eigentlich eine Publikumsmesse sind“, erklärt sie, „wollen wir den fachlichen Austausch der Branchen-Profis voranbringen. Das ist nicht immer einfach, da die Publikumsmassen das Geschehen auf der Messe sehr stark bestimmen.“

15 Jahre auf Kurs

Von der ursprünglich angepeilten Wissenschaftskarriere als Historikerin ist Inka Kirstes Arbeitsalltag als Buchmesse-Projektmanagerin denkbar weit entfernt. Zieht sie so etwas wie eine Zwischenbilanz, kommt sie dennoch nicht umhin zu sagen: Alles richtiggemacht! „Ich möchte heute nicht unbedingt an der Universität sein wollen“, meint sie. „Die Verschulungs-Tendenzen, die mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge einhergingen, die ungeheuren Massen, die heute durch den Uni-Alltag geschleust werden – das hat nicht mehr allzu viel mit dem zu tun, was ich mir einst unter Wissenschaft vorgestellt habe.“ Was schätzt Kirste an ihrem Job? „Ich finde es toll, dass wir als Messe-Macher das Gefüge der Branche in all ihrer Komplexität im Blick haben müssen – und die Zukunft dieser Branche auch mitgestalten können.“ Die Buchtage in Berlin, sagt sie, hätten ihr das gerade wieder einmal schlagend vor Augen geführt. Dass der Stapel der Bücher, die im Urlaub gelesen werden wollen, immer weiter wächst, wundert nicht – ebenso wenig, dass es sich häufig um spannende Sachbücher handelt. Den Franzosen Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) hat sie relativ spät für sich entdeckt und inzwischen schon mehrfach verschenkt. Aktuell liegen in dem kleinen Siedlungshaus in Lößnig-Marienbrunn, das sie mit ihrer Familie bewohnt, diverse Marx-Biografien und Karl Schlögels „Sowjetisches Jahrhundert“ parat. Die Feier ihres ganz privaten 15jährigen Messe-Jubiläums, das heuer am 1. März anstand, hat Kirste nach hinten verlegt – wenn der Messecountdown heruntergezählt wird, springt sie mit ihren Kolleginnen im Viereck. Keine Zeit zum Anstoßen und Erinnern: Weißt du noch? Die Kompassnadel indes steht unverrückbar auf M wie Messe; das motiviert Inka Kirste auch, wenn es ausnahmsweise Gegenwind oder Durststrecken gibt: „Als ich 2003 hier anfing“, sagt sie, „hatte ich sofort das Gefühl, am richtigen Platz zu sein. Eine Überzeugung, die letztlich nie nachgelassen hat.“

Offene Horizonte

Offene Horizonte

Für Petr Borkovec ist ein Stipendium nicht weniger als „ein süßes Geschenk“, denn es bietet Raum für Freiheit und ist die ideale Gelegenheit, gewohnte Alltags-Abläufe zu durchbrechen. Da ist zum Beispiel die Sache mit Schlaf und Arbeit: „Nach dem Aufstehen schreibe ich die besten Sätze. Deshalb kann es während eines Stipendiums vorkommen, dass ich vier, fünf Mal aufstehe – und so vier, fünf Mal sehr gut schreibe. Zuhause würde meine Frau das nicht erlauben.“ So sagt es – augenzwinkernd – der 1970 im mittelböhmischen Louňovice pod Blaníkem geborene Autor, Übersetzer und Kulturredakteur, der zu den renommiertesten Dichtern Tschechiens gezählt wird. Nun ist er im Leipziger Neuen Rathaus von Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke, Buchmessedirektor Oliver Zille und Martin Krafl, Programmkoordinator des Gastlands Tschechien, als erster Stipendiat des tschechisch-deutschen Residenzprogramms in der Messestadt begrüßt worden. Der Mann, der bereits 2002 mit dem Hubert Burda Preis für junge Lyrik ausgezeichnet wurde, will den Monat in der Messestadt dazu nutzen, an seinem neuen Erzählband weiterzuschreiben. Sein Buch „Lido di Dante“ wird anlässlich des tschechischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse 2019 ins Deutsche übersetzt und erscheint im Herbst in der Edition Korrespondenzen.

Skadi Jennicke, die den Gast aus Tschechien mit einem Band über die Musikstadt Leipzig begrüßt, sieht in dem einmonatigen Stipendium ein „Stadtschreiberamt im Miniaturformat“. Und noch viel mehr: „Das tschechisch-deutsche Residenzprogramm für Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist ein großer Erfolg und eine wunderbare Inspiration für unsere beiden Partnerstädte Leipzig und Brno. Den internationalen Kulturaustausch weiter voranzubringen und Kulturschaffenden die Chance zu geben, die internationale Kulturszene kennenzulernen, ist eine Zukunftsaufgabe der Leipziger Kulturpolitik. Deshalb freue ich mich sehr, dass das Residenzprojekt gemeinsam mit engagierten Partnern Wirklichkeit geworden ist.“ 22 Jahre nach dem letzten tschechischen Schwerpunkt in Leipzig und angesichts einer tiefen Krise der Europäischen Union bietet der kommende Gastlandauftritt für Buchmesse-Direktor Oliver Zille die Chance, „Horizonte offen zu halten und – im besten Fall – etwas über uns selbst zu erfahren, gespiegelt durch den Anderen“. Borkovec wünschte Zille gute Inspirationen „in unserer schönen, wilden, sich ständig verändernden Stadt“.

Während sich Petr Borkovec nun in der von der LWB zur Verfügung gestellten citynahen Wohnung einrichtet, hat die Stipendiaten-Besetzung in Brno bereits gewechselt: Auf Luise Boege, die im August in der Partnerstadt zu Gast war, folgt die Schriftstellerin und Kulturjournalistin Bettina Hartz, die am Literaturhaus Berlin eine Veranstaltungsreihe zum Prager Frühling und den Folgen im Osten bis 1989 kuratieren wird. Martin Krafl hofft, dass das Residenzprogramm über das tschechische Kulturjahr hinaus Bestand haben wird: „In Brno wären die Wohnung und finanzielle Mittel dafür da.“ Bei Buchmesse-Diektor Oliver Zille läuft er da offene Türen ein. „Das Residenzprogramm ist das beste Beispiel, um zu zeigen, was mit Literatur gelingt: Neue Einblicke geben, Verständnis füreinander schaffen. Und letztlich damit Grenzen überwinden.“ Ein idealer Auftakt für den Auftritt Tschechiens, des Buchmesse-Gastlands 2019.

http://www.ahojleipzig2019.de

„Wir müssen Games ernster nehmen“

„Wir müssen Games ernster nehmen“

Wie sind Sie zum Thema Games gekommen?

Lena Falkenhagen: Ich gehöre vielleicht zur ersten Generation derer, die tatsächlich schon in der Kindheit an Computer und Computerspiele herangeführt worden sind. Das ging los mit Floppy Discs und ganz simplen Spielen, die auf dem C 64 meines älteren Bruders liefen. Der hat mich damals angefixt. Eine Computerspiel-Szene im heutigen Sinn gab es damals noch nicht, das fand alles im elterlichen Haus statt. Mit elf Jahren habe ich dann parallel mit Tischrollenspielen begonnen, „Das Schwarze Auge“, 1984 von Ulrich Kiesow für Schmidt Spiele und Droemer Knaur herausgegeben, war da ganz wichtig. Jungs aus dem Dorf riefen an und sagten: „Hey, hast du Bock dieses neue Spiel auszuprobieren, dazu braucht man mindestens fünf Leute.“ Nach der ersten Sitzung war ich dem neuen Hobby vollständig verfallen – für eine Elfjährige, die damals in Büchern, in Geschichten gelebt hat, war das großartig. Wenn ich ehrlich bin, war das auch der Nährboden für meine spätere Karriere als Roman-Autorin. Damals habe ich das Geschichtenerzählen gelernt. Sehr viel später bekam ich durch meine Redaktionstätigkeit für „Das Schwarze Auge“ Kontakt zu einem Berliner Gaming Studio, das an einer Computerspiel-Umsetzung des „Schwarzen Auges“. Aus diesem Kontakt entstand 2011 das Angebot, an Drakensang Online mitzuwirken – das Computerspiel, für das ich dann sechs Jahre die Story geschrieben habe. Eigentlich entstand das alles aus dem „Schwarzen Auge“.

Sie haben erfolgreiche Romane veröffentlicht und wurden 2017 unter die Top-Ten der deutschen Games-Entwicklerinnen gewählt. Wie unterscheidet sich das Schreiben für Print von jenem für Computerspiele?

Falkenhagen: In beiden Fällen baut man fiktive Welten. Wenn ich einen Roman schreibe, bestimme ich ganz autonom, wo die Handlung hinsteuert. Wenn ich ein Computerspiel oder einen Abenteuerband für ein Tischrollenspiel schreibe, dann habe ich nicht den Luxus zu entscheiden, was die Hauptfiguren wann machen. Das entscheiden die Spieler! Ich muss ihnen eine Welt mit verschiedenen Stationen zur Verfügung stellen, die sie im besten Fall nach eigenem Gutdünken passieren. Die Chronologie entsteht im Kopf der Spieler – das macht das Schreiben anders.

Im Team flutscht es besser

Als Autorin eines Romans sitzen Sie im stillen Kämmerlein, beim Computerspiel geht es um Teamwork…

Falkenhagen: Absolut, ich musste auch erst lernen, wie man in einem Team funktioniert. Bei großen Produktionen gibt es verschiedene Abteilungen; angefangen von Narrative Design über die Grafik-Abteilung, Content- und Audio-Design bis zu den Community-Leuten, die das Ganze an den Markt bringen.

Bei ganz großen Produktionen, habe ich gelesen, können ganz leicht auch mal mehrere Hundert Leute zwei, drei Jahre beschäftigt sein?

Falkenhagen: Bei Triple-A-Games wie dem Action-Rollenspiel „The Witcher 3“ ist das sicher so. Bei Bigpoint in Berlin, den Produzenten des browserbasierten Rollenspiels Drakensang Online waren wir in der Zeit, in der ich dort mitarbeitete, ungefähr 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Dagegen scheint mir die Entstehung eines Romans fast vergnügungssteuerpflichtig…

Falkenhagen (lacht): Komischerweise finde ich das Erstellen von Computerspielen leichter. Beim Roman muss man jede einzelne Entscheidung selbst treffen. Im Team kann man auf einen großen Pool von Kreativität und Ideen zurückgreifen – ich finde das einen sehr schönen Prozess. Klar, ich schreibe auch gern Romane. Aber wenn man eine Durststrecke hat, kann es schnell sehr einsam um einen werden.

Ja mach’ nur einen Plan…

Jetzt switchen Sie zwischen beiden Welten?

Falkenhagen: Ich habe zuletzt mit Carlsen zusammen ein kleines Mobile-Game fürs Handy entwickelt. Und ich konzipiere gerade eine Fantasy-Trilogie und sitze an einem zeitgenössischen Thriller.

Klingt nach strenger Selbstorganisation…

Falkenhagen: Perfekt bin ich darin nicht, aber man muss schon gut jonglieren und im Voraus planen können (lacht).

Würde es Sie reizen, einmal eine Geschichte cross-medial durchzudeklinieren, vom Buch zum Film zum Game?

Falkenhagen: Spieleproduktionen sind sehr teuer. Es ist vermutlich praktischer, erst mal ein erfolgreiches Buch zu veröffentlichen – und dann im Zweifel ein Spiel draus zu machen. Weil man so sieht, ob die Story eine Fan-Base hat. Und man muss sagen, dass die Story in der Spielewelt nicht denselben Stellenwert hat wie in der Romanwelt. In der Spielewelt versucht man, ein Gameplay, einen schönen Spiele-Mechanismus, zu entwickeln. Ein Roman entwickelt sich von der Story aus, bei Spielen ist das seltener der Fall. Wobei es immer Gegenbeispiele gibt, in diesem Fall etwa „The Witcher 3“ – hier hat der Content-Designer den Hut aufgehabt. Das Spiel ist unglaublich erfolgreich gewesen.

In Spielform gegossene Literatur

Im Feuilleton ist Literatur – allen Unkenrufen zum Trotz – immer noch sehr präsent. Für ambitionierte Computerspiele gilt das nicht.

Falkenhagen: Das wundert mich auch. Erklären kann ich es mir nur aus einer Generationen-Problematik – die Feuilleton-Schreiber gehören offensichtlich in ihrer Mehrzahl (noch) nicht zu jenen, die mit den Regelstrukturen und Prozessen des Computerspiels alphabetisiert worden sind. Dabei gibt es tolle Beispiele für in Spielform gegossene Literatur. Mein aktuelles Lieblingsspiel in dieser Richtung ist Orwell, entwickelt von der kleinen Hamburger Firma Osmotic Studios: Als Angestellter eines fiktiven Staats namens „The Nation“ wird man in dem Spiel beauftragt, eine Überwachungssoftware zu testen – allerdings unter Realbedingungen: Man kann Zeitungsmeldungen und soziale Netzwerke auswerten, Chats und Telefonate mitschneiden, Smartphones und Computer durchstöbern. Im Zweifel sind Sie also verantwortlich, wenn jemand verhaftet wird, dem am Rechner mal die Maus ausgerutscht ist. Ein unfassbar spannendes Spiel, das mit ganz reduzierter Grafik auskommt.

Sind Computerspiele die Romane des 21. Jahrhunderts?

Falkenhagen: Ich glaube, dass das momentan eher für die Serien gilt.

Auch Spiele sind politisch

Die ernsthafte, auch wissenschaftliche Beschäftigung mit Games erscheint häufig nur legitim, wenn der kulturelle Bezug zum Bekannten, bereits Etablierten kräftig herausgestellt wird: Computerspiele und Film, Computerspiele und Literatur – fast so, als besäßen digitale Spiele kein unabhängiges kulturelles Dasein.

Falkenhagen: Ich halte Computerspiele für eine Art Meta-Disziplin. Gute Games verbinden alle anderen Medien – die gute Story des Romans, gute Videosequenzen, einen guten Soundtrack. Ja, die professionelle Kritik muss Computerspiele ernster nehmen. Die Spiele-Macher müssen ihr Medium aber auch ernster nehmen! Es gibt keine unpolitischen Medien.

Der Spieleforscher Gundolf S. Freyermuth meinte, dass Games heute da stehen, wo der Film Mitte der 20er Jahre war. Wie sehen Sie das?

Falkenhagen: Es ist noch Luft nach oben, auch was das Sich-selber-Ernstnehmen der Community betrifft. Auch in Spielen fängt man mittlerweile an, über Gesellschaftsentwürfe nachzudenken. Spielen ist nicht mehr nur – wie vielleicht noch in den 90er Jahren – eine Domäne für testosterongesteuerte Jungmänner. Sie werden inzwischen auch von Frauen gespielt, für Frauen gemacht – Tendenz steigend. Es gibt sogar Frauen als Games-Entwicklerinnen… (lacht).

Sie selbst gehören zu den Gründerinnen des Netzwerks Autorenrechte und arbeiten im Berliner VS-Vorstand mit…

Falkenhagen: Ich habe gemerkt, dass in Zeiten der Digitalisierung in der Verlagsbranche ein rauerer Wind weht – und dass wir Autoren uns mit unseren Interessen deutlicher positionieren müssen. Ich möchte Missstände beheben, wo ich sie finde. Es ist natürlich möglich, an der Realität zu scheitern. Aber man kann die Dinge nicht dem Selbstlauf überlassen.

Spielend in phantastische Welten: In den letzten Jahren hat sich die Manga-Comic-Con (MCC) verstärkt zum Magneten für Gaming-Fans entwickelt. So gibt es in Halle 1 einen eigenen Games Room, in dem Spiele ausprobiert werden können – im letzten März etwa konnte auf der Convention das Action-Abenteuer A.O.T. 2 (Koei Tecmo) bereits vor der offiziellen Veröffentlichung gespielt werden.

Die nächste MCC findet vom 21. bis 24. März 2019 im Rahmen der Leipziger Buchmesse statt.

www.manga-comic-con.de

Von Gott bis Hrabal

Von Gott bis Hrabal

„Ein ordentliches Buch ist ja nicht dafür da, dass der Leser besser schläft, sondern dass er aus dem Bett springt und in Unterhosen geradewegs zum Herrn Schriftsteller rennt und ihn fäustlings belehrt“, heißt es in Bohumil Hrabals (1914-1997) „Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene“. Bücher sollen Leser beunruhigen, aufwühlen, zum Weiterdenken und Bessertun animieren. Doch zuvor müssen die Werke an die geneigte Leserin, den Leser gebracht werden. Was sind da vier Messetage in Leipzig gegen ein ganzes Kulturjahr? Das müssen sich auch die Organisatoren des tschechischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse 2019 gefragt haben, rein rhetorisch, versteht sich – und kreierten ein Kultur-Event in Dauerschleife, das ab Herbst 2018 in Leipzig und im gesamten deutschsprachigen Raum rund 14 Monate lang Buchkultur, Dichter und Denker, Kunst, Comics, Musik, Design und Fotografie aus der Tschechischen Republik präsentiert. „Ziel des Projekts ‚Tschechisches Kulturjahr’ ist es, die tschechisch-deutschen Kulturbeziehungen und das Bewusstsein über zwei historisch, sprachlich und geographisch eng verwandte Länder zu stärken. Deshalb ist eine Reihe von Programmen so konzipiert, dass sie zu einem dauerhaften Bestandteil des tschechisch-deutschen Kulturaustausches werden können“, betont Projektkoordinator Martin Krafl. Start und Abschluss des Kulturjahres sind in Leipzig geplant, der Partnerstadt Brünns. „Wir freuen uns darauf, in den kommenden Monaten verstärkt tschechische Kultur in Leipzig erleben zu dürfen, denn Leipzig und Brünn verbindet eine sehr enge Partnerschaft, der dieser spannende Auftritt Tschechiens in Leipzig neue Impulse verleiht“, unterstreicht Skadi Jennicke, Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur der Stadt Leipzig.

Das tschechische Kulturjahr wird am 13. Oktober 2018 mit dem Leipziger Opernball eröffnet, der diesmal unter dem Motto „Ahoj Česko“ steht. 2018 ist ein Jahr der besonderen Jubiläen für unser Nachbarland: 25 Jahre Zerfall der Tschechoslowakei in zwei selbständige Staaten, 50 Jahre Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und 100 Jahre Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, nicht zu vergessen das 45jährige Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Leipzig und Brünn. Musikalisch wird sich der Opernball in voller musikalischer Bandbreite von Klassik und Jazz über Schlager bis hin zum politischen Lied entfalten: Als Star-Gast des Abends ist Karel Gott angefragt, die „goldene Stimme aus Prag“, zudem tritt die international gefeierte tschechische Mezzosopranistin Dagmar Pecková mit einem Kurt-Weill-Programm auf. Im Rahmen des vom 23. bis 31. Oktober stattfindenden Leipziger Literarischen Herbsts freut sich die Messestadt auf Lesungen und Gespräche tschechischer Autorinnen und Autoren; unter anderem stellt sich eine erste Teilnehmerin des Residenzprogramms Leipzig/Brünn mit ihren Arbeiten vor. Aus Anlass des 80. Geburtstags von Jiří Menzel, einer der Hauptfiguren der Nouvelle Vague, veranstaltet die Schaubühne Lindenfels eine Filmreihe; im November soll der oscarprämierte Filmregisseur sogar vor Ort sein. Zur Grassi Messe [http://www.grassimesse.de] im Oktober werden tschechische Designerinnen und Designer erwartet – und die Universität Leipzig plant ein Colloquium zu Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937), dem ersten Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei. „Den zweiten Namen Garrigue nahm Masaryk nach der Heirat mit der amerikanischen Industriellentochter Charlotte Garrigue an“, erklärt Programmkoordinator Martin Krafl. „Und wo hat er sie kennengelernt? In Leipzig!“

Auch der Frühling 2019 wartet mit kulturellen Hochkarätern auf: Das Institut für Slawistik der Universität Leipzig bereitet ein literarisches Colloquium zu zwei berühmten gebrannten Kindern des Realsozialismus vor, die sich ihre Utopie einer humanen Gesellschaft dennoch bewahrt haben – Milan Kundera und Bohumil Hrabal, den wir eingangs zitierten. Die Schaubühne Lindenfels bereitet abermals eine Filmreihe vor, diesmal werden, in Kooperation mit dem Filmarchiv der Tschechischen Republik, Literaturverfilmungen zu sehen sein. Die Leipziger Stadtbibliothek, der Club Anker und die Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) zeigen eine Ausstellung zu 12 zeitgenössischen tschechischen Kinderbuch-Illustratoren, begleitet von Workshops. „Zdeněk Milers ‚Kleiner Maulwurf’ ist zwar immer noch schön“, lacht Krafl, „aber es gibt bei uns längst auch andere populäre Helden“. Das Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzigschließlich zeigt eine Ausstellung zur tschechischen Avantgarde-Buchkunst.

Für Kinder und Jugendliche ist mit dem Buchsommer „Kapitäne Ahoj!“ in der Leipziger Stadtbibliothek eine eigene Reihe geplant, auch hier wird eine Ausstellung tschechischer Kinderbuch-Illustrationen zu sehen sein. Und was bringt der Herbst 2019? Im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, im Zeitgeschichtlichen Forum sowie in der Schaubühne Lindenfels werden, aus je unterschiedlichen Blickwinkeln, Bedeutung und Wirkung der Charta 77 beleuchtet – in einer Ausstellung, begleitenden Debatten und Lesungen und einer Filmreihe unter dem Motto „Mensch & Macht. Alltag in der Diktatur“. Martin Krafl ist mit der Planung hoch zufrieden: „Ursprünglich wollten wir diese Veranstaltungen auch ins Frühjahr 2019 legen. Aber so läuft das Jahr bis in den Herbst – und unser roter Faden, die 30 Jahre seit der Wende in Ost- und Mitteleuropa, lässt sich ideal mit dem runden Jubiläum der friedlichen Revolution verbinden.“

Höhepunkt des tschechischen Kulturjahres ist die Leipziger Buchmesse (21. bis 24. März 2019), in deren Anschluss die Autorinnen und Autoren ihre neu übersetzten tschechischen Bücher in den Literaturhäusern und Kulturinstitutionen zahlreicher Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorstellen: In Berlin, Bremen, Hamburg, Köln, Frankfurt, Bonn, München, Heidelberg und Stuttgart, in Wien, St. Pölten, Krems, Linz, Salzburg und Graz sowie in Zürich und Basel. Der krönende Abschluss des tschechischen Kulturjahres wird am 8. November 2019 in der Leipziger Oper gefeiert – mit einem Gastspiel des Nationaltheaters Brünn: Leoš Janáčeks Oper „Jenůfa“.

Fotos: K. Bartošová (Prag), Opernball Leipzig Production GmbH/Felix Abraham, Schaubühne Lindenfels

Wort-Transfer

Wort-Transfer

Die tun was, die Tschechen: Wäre das schöne Wort „Nachhaltigkeit“ nicht in letzter Zeit etwas überstrapaziert – auf die voll angelaufenen Vorbereitungen zum Gastlandauftritt 2019 träfe es geradewegs ideal zu. Ziel aller Förderbemühungen ist es, der tschechischen Literatur zu größerer Sichtbarkeit auf dem deutschen Buchmarkt zu verhelfen. Dabei stehen, logisch, Übersetzungen im Fokus. Um den Wort-Transfer aus dem Tschechischen wirksam zu unterstützen, wurden drei Förderprogramme aufgelegt: Neben dem vom Kulturministerium aufgelegten Übersetzungsförderungsprogramm gibt es eine Sonderausschreibung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds sowie ein Residenzprogramm, das kreative Schreibaufenthalte deutscher Schriftsteller*innen in Brünn und tschechischer Autor*innen in Leipzig ermöglicht.

Das Programm zur Förderung von Übersetzungen tschechischer Literatur in die deutsche Sprache kann von Verlagen, aber auch von Herausgebern, Literaturagenten und Übersetzern beantragt werden. „Bis dato konnten Verleger das Geld nur für Übersetzungen nutzen“, erklärt Martin Krafl, Projektkoordinator des Gastlandauftritts. „Nun haben sie mehrere Möglichkeiten: Werbungskosten sind ebenso förderfähig wie die Aufwendungen für Autorenrechte oder für die grafische Gestaltung, den Satz oder Druck der Bücher.“ Das Programm selbst existiert schon länger, mit Blick auf den Gastlandauftritt wurde jedoch sein Umfang noch einmal kräftig aufgestockt. „Durfte die Gesamtsumme der Förderung früher 50 Prozent der gesamten Publikationskosten nicht überschreiten, sind es nun 70 Prozent.“ Ein Angebot, das offensichtlich attraktiv ist: Erschienen pro Jahr im Schnitt bislang vier bis fünf Übersetzungen aus dem Tschechischen im deutschsprachigen Raum, sind es mit Blick auf 2019 schon jetzt sechs Mal mehr – Krafl zählt aktuell mehr als 40 Titel, die in Arbeit sind. Und das Schöne: Das Programm läuft weiter: Nächster Einsendeschluss für 2019 ist der 15. November 2018; das Antragsformular findet sich hier. „Für große Häuser“, verrät Krafl, sei „die Fördersumme allein nicht das ausschlaggebende Kriterium. Sie wollen Autorinnen und Autoren finden, die ein ganzes Werk versprechen – und nicht nur Einzeltitel.“

Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds (DTZF), angetreten mit einem Stiftungsvermögen von fast 85 Millionen Euro, wurde im Ergebnis der Deutsch-Tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 im Dezember 1997 begründet. Jährlich können mit Hilfe des DTZF über 600 Projekte mit einer Fördersumme von insgesamt rund drei Millionen Euro umgesetzt werden. Unter dem Motto „Die Bücher der Anderen“ schreibt auch der DTZF drei gesonderte Förderprogramme aus. Sie sollen deutsche Verleger und Kulturinstitutionen anregen, sich noch stärker der Herausgabe tschechischer Literatur quer durch alle Genres zu widmen. Daneben wird – etwa über Konferenzen, Workshops, Seminare und andere wissenschaftliche Diskursformate – eine Stärkung der deutschen Bohemistik angestrebt. Und schließlich sollen die direkten Kontakte zwischen deutschen und tschechischen Autoren, Übersetzern und Wissenschaftlern intensiviert werden. Deadline für diese Förderanträge ist jeweils das Quartalsende 2018 sowie der 31. März und der 30. Juni 2019; das Antragsformular findet sich hier.

Mit Luise Boege ist Ende Juli die erste deutsche Residenzautorin in der Leipziger Partnerstadt Brünn eingetroffen. Herzlich begrüßt wurde Boege von Tomáš Kubíček, Projektleiter Gastland Tschechien auf der Leipziger Buchmesse 2019 und Direktor der Mährischen Landesbibliothek Brünn, sowie Ivo Bednář, Abteilungsleiter Tourismus der Leipziger Partnerstadt Brünn.

Die Open-Mike-Gewinnerin des Jahres 2006 möchte während ihrer Zeit in Tschechien an ihrem Prosatext „Die dicke Familie“ arbeiten. Boege ist eine von jeweils fünf Autor*innen aus jedem Land, die von einer Jury für einen einmonatigen Aufenthalt ausgewählt wurden. Anlässlich der Prager Buchmesse im Mai wurden die Stipendiatinnen und Stipendiaten des neu aufgelegten Residenzprogramms bekannt gegeben. Für den Aufenthalt in Brünn hatten sich 56 deutsche Autor*innen beworben; neben Boege werden bis Januar 2019 Bettina Hartz, Bernhard Setzwein, Roman Israel und Isabelle Lehn in der nach Prag zweitgrößten Stadt Tschechiens zu Gast sein. In Leipzig werden ab September Petr Borkovec (*1970), Lucie Lomová (*1964), Iva Pekárková (*1963), Kateřina Tučková (*1980) und Jaromír Typlt (*1973) erwartet. „Wir hoffen, dass das Residenzprogramm zu einem dauerhaften Bestandteil des tschechisch-deutschen Kulturaustausches werden kann“ sagt Tomáš Kubíček. „Daran möchten wir unter anderem gemeinsam mit deutschen Literaturhäusern, die bereits Interesse gezeigt haben, weiterarbeiten.“

Fotos: Pavel Němec (Luise Boege, Tomáš Kubíček, Ivo Bednář), Ruth Justen (Buchmesse Prag).