Diskussions-Kultur

Diskussions-Kultur

Buchstadt im Glück: Seit einem Vierteljahrhundert wird der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung vergeben; seit 2005 im Rahm der feierlichen Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus. Der bis auf den letzten Platz gefüllte große Saal, das mitreißend aufspielende Gewandhaus-Orchester, das diesmal mit Janacek, Smetana und Dvorak brillierte, der Reigen der Reden – all das hat schon oft beeindruckt. Doch noch nie in den letzten 25 Jahren war die Preisverleihung mit solch intensiven Appellen, Hoffnungen und Mahnungen in Richtung Freiheit und Europa verbunden wie diesmal. Im New Yorker beschrieb Preisträgerin Masha Gessen den Abend im Gewandhaus als Fest lebendiger, demokratischer Debatte: „Man hatte mich gewarnt, dass es ein langer Abend werden würde: fünf politische Reden – Bürgermeister, Ministerpräsident, zwei Minister, der Börsenvereins-Vorsteher -, ehe der erste Schriftsteller das Podium betreten würde. Ich nahm meinen Platz mit einer gewissen Sorge ein. Dann hielt ein Redner nach dem anderen eine kurze, schlüssig aufgebaute, durchdachte Rede. Die Politiker vertraten Parteien mit einigermaßen unterschiedlichen Ansichten, aber alle Ansprachen betonten […] die Krise des europäischen Projektes und die Bedeutung des geschriebenen Wortes in Zeiten großer Unsicherheit. Ich traf ein paar Amerikaner und wir tauschten Klagen aus. Wir hatten soeben politische Reden auf eine Weise erlebt, wie sie sein sollten – substanziell, relevant, verantwortlich -, und uns wurde klar, was Amerika verloren hat.“

Semantik des Zeitgeists: Als der Eiserne Vorhang fiel und in Europa jene Years of Change begannen, die nun einer ganzen Buchmesse-Reihe den Namen gaben, waren Durs Grünbein, Marcel Beyer und Kerstin Preiwuß 27, 24 und neun Jahre alt. Damals schien der Weg zu Freiheit und Demokratie vorgezeichnet. Heute bahnen sich Angst, Wut und Hass durch die Sprache ihren Weg in die Realität hinein. Im völlig überfüllten Café Europa versuchten die drei, den „Semantiken unseres Zeitgeists“ und den Gründen für Sprachlosigkeit wie verbaler Aufrüstung näher zu kommen – verbunden mit der ganz praktischen Frage, wie der Verklärung und Verdrehung der Worte entgegengewirkt werden könnte. Durs Grünbein sieht sich und seine Kollegen auf einer Art „Vogelbeobachtungsstation der Sprache“, als Sprachhistoriker wider Willen, lange Detox-Wortlisten anlegend: „Das tun wir nicht ganz freiwillig, und wir haben dabei nicht die Coolness von Journalisten. Aber wären wir da nicht sensibel, könnten alle unsere Texte misslingen.“ Kerstin Preiwuß erinnerte daran, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Gegensatz zur Sphäre der Politik die Möglichkeit haben, in ihren Texten das Gefühl mit einzubeziehen: „Wir können Konflikte musterhaft am Leben halten – und darauf beharren, dass viele Welten möglich sind.“ Man darf gespannt sein: Der Programmschwerpunkt „The Years of Change 1989 – 1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“, den die Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse veranstaltet, wird in den kommenden beiden Jahren fortgesetzt.

Haltungsfragen: Soll man Bücher mit rechten Positionen moderiert im Laden anbieten – oder erst gar nicht sichtbar machen? Ist die Weigerung, solche Titel im Laden zu haben, tatsächlich eine Art von „Zensur“? Im letzten Jahr kochten nach einer Lesungs-Absage von Margarete Stokowski bei Lehmkuhl in München die Gemüter hoch; ein Panel im Rahmen der von der Initiative #verlagegegenrechts organisierten rund ein Dutzend Veranstaltungen quer durch die Messe-Foren nahm das Dauerbrenner-Thema noch einmal auf. Steffen Ille von Lehmanns in Leipzig, einer 2000-Quadratmeter-Fläche in 1-A-City-Lage, hat Thilo Sarrazin im Regal, Sieferles „Finis Germania“ nicht. „Dezidierte Nazi-Literatur gibt es bei uns nicht. Allerdings müssen am Ende des Tages die Zahlen stimmen – man macht sich etwas vor, wenn man diesen Aspekt außer Acht lässt.“ Im Übrigen warnt Ille davor, die Gatekeeper-Funktion des Buchhandels zu überschätzen: „Großflächen bilden eher einen Diskurs ab, als dass sie ihn steuern.“ Annekatrin Grimm von der Buchhandlung Montag im Prenzlauer Berg hält dagegen: „Wenn ich Bücher neurechter Autoren in den Laden stelle, bewerbe ich sie, gebe ihnen Raum, unterstütze letztlich den Verlag. Es kann doch nicht nur um Geld gehen. Das ist eine Frage der Haltung!“ Vermittelbar sind die Positionen wohl nicht – kultiviert streiten kann man in Leipzig über sie allemal.

Engagierte Kinder- und Jugendliteratur: Raja, Thorben und Moritz von der Jugendliteratur-Jury der Leipziger Stadtbibliothek sind sehr wortgewandte und höfliche Teenager. Doch dass sie Tomi Adeyemis „Children of Blood and Bone“ (S. Fischer), eine Fantasy-Geschichte mit ausschließlich schwarzen Protagonisten, nicht so cool finden, wird rasch deutlich. Dabei räumt das Buch, das 52 Wochen auf der New-York-Times-Bestsellerliste stand, endlich mal ordentlich divers mit dem euro-zentristischen Blick auf. Der Auftritt der jungen Experten war Teil des traditionellen AKJ-Symposion, das diesmal unter dem Motto Politisch positioniert! Engagement und Zeitbezug in aktueller Kinder- und Jugendliteratur stand. Spannend war eine abschließende Diskussionsrunde, die nachfragte, inwieweit Engagement und kritischer Zeitbezug auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt durchdringen. „Wenn ich Sachen von Manja Präkels oder Birgit Weyhe lese“, so der 3sat-Redakteur Michael Schmitt, „häuft sich ein immenser Reichtum an Details an – da brauche ich keine These mehr. Bücher sollten nicht Trends nachlaufen, sondern selber Themen setzen!“

Holocaust-Comic: Auf der Bühne des Ariowitsch-Hauses bläst Walter Famler „Bandiera rossa“ in die Mundharmonika; gemeinsam mit Rudi Gradnitzer vom Wiener Verlag bahoe books stellt er in der Reihe „Jüdische Lebenswelten“ eine Graphic Novel vor, die das Leben von Primo Levi erzählt, jenes italienischen Juden, Widerstandskämpfers und Holocaust-Überlebenden, der am 31. Juli dieses Jahres 100 geworden wäre. Darf man den Holocaust im Comic darstellen? Spätestens seit Art Spiegelmans „Maus“ eine rhetorische Frage, könnte man meinen. Doch noch immer erfordert es Mut, scheinbare Konventionen aufzukündigen.

Wettkampf der Worte: Heißt „Respect the Poets“ nun „Rettet die Polarklappen“, wie die flapsigen Moderatoren und Profi-Slammer Dominik Erhard und Malte Roßkopf nahelegten? Egal, im Forum Politik und Medienbildung ging am Messefreitag das Finale des von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und der Leipziger Buchmesse initiierten Democracy Slam über die Bühne. Die Vorbereitungen für das bei Jugendlichen beliebte Format, das sich vom Poetry Slam ableitet, liefen 2019 im Vorfeld der Buchmesse an verschiedenen Schulen und Bildungseinrichtungen. Unter Anleitung erfahrener Slammer entwickeln Kinder und Jugendliche in Workshops eigene Texte, die sich um Gerechtigkeit, Diversität, aber auch Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit drehen. Die zehn besten Texte wurden dann live auf der Buchmesse vorgetragen.

Medien-Kompetenz: Initiiert von der European Learning Industry Group (ELIG), Ausrichter des „Klassenzimmers der Zukunft“, wurde in Halle 2 der Messe die Werkstatt+ ins Leben gerufen. Ebenfalls mit im Boot: Der Verband Bibliotheken und Organisation Deutschland (BID) und die Westermann Gruppe als großer Schulbuchverlag. Gemeinsam mit Partnern und Initiativen aus Bildung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurde über die Messewoche hinweg mit unterschiedlichen Schulklassen-Gruppen an gemeinsamen Projekten gearbeitet: So produzierten die Jugendlichen etwa Programm für die Social-Media-Kanäle der Buchmesse, lernten ihre eigenen Debatten zu moderieren oder erarbeiteten mit Medien-Profis ein Kriminal-Hörspiel. Die Message: Lernen passiert nicht nur in der Schule – sondern eigentlich auf Schritt und Tritt. Über alle Workshops und Mitmachangebote hinweg zog sich das Thema Medienbildung: Es ging um Fake News und Kinderrechte ebenso wie um Copyright oder Community Building. „Nur wer kompetent mit den Medien umgehen kann, kann sich in der Gesellschaft engagieren und ein selbstbestimmtes Leben führen“, so Buchmesse-Direktor Oliver Zille. In der Werkstatt+ gab es dafür jede Menge Anregungen.

Gefragte Interviewpartnerin: Die New Yorker Autorin Masha Gessen, die zur Buchmesse-Eröffnung mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde (Stefan Hoyer/punctum) | Rappelvoll: Years-of-Change-Podium zur Sprache in einer erosionsgefährdeten Demokratie mit Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß und Marcel Beyer (Tobias Bohm) | Wie politisch ist der Buchhandel: Podium mit Karla Kutzner (Buchhandlung Interkontinental), Steffen Ille (Buchhandlung Lehmanns, Leipzig), Moderatorin Sophie Sumburane sowie Annekatrin Grimm und Daniela Weiß (Buchhandlung Montag), eine Veranstaltung im Rahmen von #verlagegegenrechts (Nils Kahlefendt) | Spezialisten aufs Podium: Die Leipziger Jugendliteratur-Jury zu Gast auf dem AKJ-Symposion (AKJ/Matthias Knoch) | Holocaust als Comic? Aber ja: Walter Famler und Rudi Gradnitzer stellen eine Graphic Novel vor, die das Leben von Primo Levi in Bilder übersetzt (Nils Kahlefendt/bahoe books) | Wettkampf der Worte: Im Forum Politik und Medienbildung ging der Democracy Slam der bpb ins Finale (Leipziger Messe/Tom Schulze) | Medienkompetenz als Voraussetzung für gesellschaftliches Engagement: Impressionen von der Werkstatt+ auf der Buchmesse (Leipziger Messe/Tom Schulze).

Literarische Hochspannung

Literarische Hochspannung

Bei Leipzig liest halten sich Vorfreude und Qual der Wahl regelmäßig die Waage – auch für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Buchmesse-Teams. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie die spannendsten Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Krimi oder Spionage-Thriller, eine anrührende ‚family memoir’, ein Liebesroman mit Tiefgang oder starke osteuropäische Frauen – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns!

Mordsgedanken | Von Petra Krämer, Projektassistentin Fachbesucherservice, Sekretariat

Ingrid Noll war Arztfrau, Hausfrau und Mutter von drei Kindern, hatte in der Praxis ihres Mannes ausgeholfen, Gutachten, Rechnungen und Briefe getippt, gekocht, eingekauft, gewaschen, gebügelt. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, begann sie Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt zu Bestsellern wurden. Und ich habe sie gelesen – alle! „Der Hahn ist tot“, „Die Häupter meiner Lieben“, „Die Apothekerin“… Nun hat uns die inzwischen vierfache Großmutter Ingrid Noll wieder ein Buch geschenkt. „Goldschatz“ (Diogenes) ist eine liebevoll-ironische Krimi-Tragödie über fünf junge Leute, die Tante Emmas altes Bauernhaus in eine alternative Studenten-WG verwandeln wollen – und deren Idealismus mächtig auf die Probe gestellt wird. Ingrid Noll wird im Großen Lesesaal der Deutschen Bücherei lesen, Sie wissen schon, der mit den grünen Tischlampenschirmen. Wir sehen uns! (Ingrid Noll: Goldschatz. 21. März, 19 Uhr, Deutsche Nationalbibliothek).

Vater, Sohn und Homers Epos | Von Anja Kösler, Programmkoordination Leipzig liest

Daniel Mendelsohns Buch „Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen“ hat mich 2010 schwer beeindruckt. Wir kennen die Metaphern von der Bürokratie des Todes, vom Mord im industriellen Maßstab – aber der Autor schaffte es auf beklemmende Weise, den Mord an den europäischen Juden wieder in den Singular zurückzuübersetzen, zum Mord an Großonkel Schmiel, seiner Frau und ihren vier Töchtern. Nun hat Mendelsohn mit „Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich“ etwas vorgelegt, was man neudeutsch ein „family memoir“ nennt. Die Geschichte fängt unspektakulär an, indem Jay Mendelsohn, pensionierter Mathematiker und 81 Jahre alt, spontan beschließt, den Uni-Grundkurs seines Sohnes Daniel zur „Odyssee“ zu besuchen. Vater und Sohn folgen den Spuren des homerischen Epos – und überwinden im Angesicht der eigenen Sterblichkeit ihr gegenseitiges Schweigen. Ein Buch, in dem es um Familie, Identität und Heimat geht. Also eigentlich ums Ganze. Besser als jede Selbsthilfegruppe! (Daniel Mendelsohn: Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich. Vorgestellt im Gespräch mit Margarete von Schwarzkopf. 22. März, 20 Uhr, Bibliotheca Albertina).

Das Leben der Anderen | Sandro Gärtner, Kommunikationsreferent Online

Jede Familiengeschichte hat ihre dunklen Geheimnisse, doch nicht in jeder werden die eigenen Eltern als Spione enttarnt. Martin Schmidt, dem Helden in Dirk Brauns neuem Roman „Die Unscheinbaren“ (Galiani), passiert genau das: Der Achtzehnjährige muss miterleben, wie die Stasi Vater und Mutter als BND-Spione verhaftet. Nach der Wende holen ihn die traumatischen Erlebnisse ein… Wenn ich selbst auch 1989 erst neun Jahre alt war, beschäftige ich mich doch seit Jahren mit der Geschichte des Landes, in das ich hineingeboren wurde. Wenn das Ganze in eine spannende Romanhandlung verpackt ist, in der ganz nebenbei auch die kleinen Details des DDR-Alltags erzählt werden – umso besser! Bücher wie „Krokodil im Nacken“ von Klaus Kordon, „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge oder Uwe Tellkamps „Turm“ habe ich verschlungen. Das Spionage-Thema in Dirk Brauns Roman verspricht zusätzliche Spannung. Autor und Buch in der „Runden Ecke“, der ehemaligen Stasi-Zentrale, zu präsentieren, ist eine Super-Idee: So mögen wir „Leipzig liest“. (Dirk Brauns: Die Unscheinbaren. 23. März, 19.30 Uhr, BStU-Außenstelle Leipzig).

Erinnerungspolitik | Von Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse

„Nach dem Gedächtnis“ hat die Übersetzerin Olga Radetzkaja das im Suhrkamp Verlag erschienene Buch der russischen Lyrikerin und Essayistin Maria Stepanova (*1972) genannt. Das russische Original heißt „Pamjati pamjati“, also so viel wie „Erinnerung an die Erinnerung“ – Stepanova hat auf den Spuren ihrer Familiengeschichte einen langen Essay über das Verhältnis der Toten und der Lebenden geschrieben, über die kollektiven Traumata des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts. Die polnisch-ukrainische Journalistin und Übersetzerin Zanna Sloniowska (*1978) erzählt in „Das Licht der Frauen“ (Kampa) vor dem Hintergrund der Geschichte der Stadt Lemberg von vier starken Frauen aus vier Generationen, von Müttern und Töchtern, von privaten und gesellschaftlichen Revolten. Wenn die beiden am Samstagabend in der Schaubühne Lindenfels in Lesung und Gespräch aufeinandertreffen, wird es auch darum gehen, was das „Recht auf Erinnern“ und das „Recht auf Vergessen“ aus Menschen macht, und wie man mit Selbstverleugnung und Anpassung umgeht. Der Abend ist Teil unseres Programmschwerpunkts „The Years of Change 1989 -1991. Mittel- Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“, den wir gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalten. Ich bin auf ihn besonders gespannt, weil die starken Geschichten von Stepanova und Sloniowska zeigen, dass das Private noch immer politisch ist – und umgekehrt. (Da-Zwischen. Identitäten und Erinnern in hybriden Räumen. 23. März, 19 Uhr, Schaubühne Lindenfels).

Unsere Mütter, unsere Väter | Inka Kirste, Projektmanagerin Fachbuch/Sachbuch/Wissenschaft, Religion, Reisen und Österreichische + Schweizer Aussteller sowie Projektleitung Leipzig liest

Hartmut Zwahr, der 1936 in Bautzen geborene Historiker, lehrte bis 2001 an der Universität Leipzig Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – und war in den 1990er Jahren, als ich dort studierte, „mein“ Professor. Dass er gut und packend erzählen kann, zeigte er bereits mit vielen Büchern. Selbst die wissenschaftlichen Bücher, wie zum Beispiel das leider in der turbulenten Wendezeit nicht so wahrgenommene „Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte“ ist spannend erzählt und Geschichte wird lebendig. Inzwischen hat der emeritierte Historiker schon den zweiten Band seines Lebens-Romans vorgelegt: Nach „Abschiednehmen“, dem, wie es im Untertitel heißt, „Lausitzroman“, folgt mit nun „Leipzig“ (Sax Verlag) ein „Studentenroman“, der uns in die Messe- und Universitätsstadt der 50er Jahre führt. Ein Kaleidoskop der Lebensgeschichten unserer Eltern, der Groß- und Urgroßeltern. So geht Geschichte! (22. März, 19 Uhr, Rechtsanwälte Viehweger, Hartmann und Partner).

Von Göttern und Hexen | Dorothea Tiedke, Praktikantin

Phantastik aus Deutschland? Starke und liebenswerte Protagonistinnen, mit denen man sofort auf Reisen gehen möchte? Lange musste ich im Fantasy-Genre darauf verzichten. Umso glücklicher bin ich, wenn mir Bücher einer Autorin wie Laura Labas in die Hände fallen. Laura entwickelte schon früh eigene Geschichten, mit 14 beendete sie ihren ersten Roman. Angefangen hat sie als Selfpublisherin, die Mystery-Novel „The Lie She Never Told“ ist bereits ihr siebter Roman im Drachenmondverlag. Außerdem erscheint bald der dritte Band von Lauras aktueller Fantasy-Reihe „Von Göttern und Hexen“; für uns liest sie aus Band eins, „Der verwunschene Gott“ (2017). (Laura Labas liest. 22. März, 19 Uhr, HTWK-Campusbuchhandlung BuMerang).

Treuer Begleiter | Von Nora Furchner, Projektmanagerin Kinder- und Jugendbuch, Phantastik, MCC

Die Auftritte des Mannes sind legendär, dazu gilt Ingo Siegner als der Mann mit den drei Berufen: Kinderbuchautor, Zeichner, Vorleser. Sein „kleiner Drache Kokosnuss“ (cbj), dessen Abenteuer inzwischen auch für die Bühne adaptiert und verfilmt wurden, begleitet mich seit meinem Studium. Ich schrieb zu dieser beliebten Kinderbuchfigur meine Masterarbeit und freute mich riesig, als an meinem ersten Arbeitstag im Team der Leipziger Buchmesse eine Kokosnuss-Zeichnung auf mich wartete. Wie das? Eine meiner neuen Kolleginnen war vor Jahren bei einer Ingo-Siegner-Lesung auf der Messe gewesen und hatte eine Zeichnung erhalten, die sie mir an diesem Tag schenkte. Seitdem begleitet mich der kleine Drache Kokosnuss jeden Tag am Arbeitsplatz – und es ist mir eine ganz besondere Freude, dass der Lesekünstler Ingo Siegner dieses Jahr den Familiensonntag auf der Leipziger Buchmesse mit einer Live-Lesung bereichern wird. (Ingo Siegner: Der kleine Drache Kokosnuss. 24. März, 11 Uhr, CCL, Saal 2).

Familien-Aufstellung nach Goldammer | Von Kerstin Scholz, Projektassistentin Ausstellerservice

Frank Goldammer, 1975 in Dresden geboren, ist gelernter Maler- und Lackierermeister. Er entdeckte das Schreiben quasi neben seinem Beruf. Als erklärter Fan von Stephen King begann er mit Grusel-Romanen. Lief nicht sooo gut… Doch mit „Der Angstmann“, einem Krimi, der im zerstörten Nachkriegs-Dresden spielt, kam schließlich der Durchbruch. Es folgten mit „Tausend Teufel“ und „Vergessene Seelen“ zwei weitere Fälle für Ermittler Max Heller. Mit „Großes Sommertheater“ (dtv) hat Frank Goldammer nun das Fach gewechselt: von der Nachkriegszeit in die Gegenwart, vom historischen Thriller zur schwarzen Krimi-Komödie. Ein alter, stinkstiefliger, aber steinreicher Patriarch lädt seine seit Jahren zerstrittenen Söhne samt Anhang in die Villa an die Ostsee ein – und dort nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Solange man bei diesem ziemlich schrägen Theater nur zuschauen braucht und nicht mitspielen muss: Herrlich! (Frank Goldammer: Großes Sommertheater. 21. März, 19 Uhr, Chocolate).

Spektakulärer Fund | Von Gesine Neuhof, Projektleiterin Leipzig liest in Elternzeit

Stellen Sie sich vor, es ist Buchmesse – und alle lesen mit! So oder so ähnlich muss man sich wohl den Gedanken-Blitz der Kollegen vom Stadtmarketing Halle/Saale vorstellen, als sie der Leipziger Buchmesse die Reihe „Halle liest mit“ zur Seite stellten. Die Reihe bringt spannende Autoren und Autorinnen in 25 Veranstaltungen im Rahmen einer größeren Kooperation zwischen beiden Institutionen in meiner Heimatstadt Halle. Zahlreiche Veranstaltungsorte öffnen ihre Pforten für Lesungen und Gespräche – von der Literaturhaus-Villa in der Bernburger Straße bis zum Landgericht. Ich möchte eine Lesung im Volkspark Halle empfehlen, einem 1907 eröffneten, eindrucksvollen Jugendstil-Gebäude, das am Messefreitag zwei literarische Schwergewichte zu Gast hat: Michael Köhlmeier (*1949) und Raoul Schrott (*1964). Die beiden haben einen Schatz gehoben: Den einzigen und ziemlich großartigen Roman des 2009 verstorbenen Autors Martin Schneitewind. „An den Mauern des Paradieses“ (dtv) spannt einen weiten Bogen von den uralten Mythen der Menschheit bis zu den großen Fragen der Gegenwart – das Aufkommen autoritärer Strukturen, Migrationsbewegungen, Abschottung und Mauerbau. Hatte der Mann prophetische Fähigkeiten? Fast scheint es so. (Martin Schneitewind: An den Mauern des Paradieses. Vorgestellt von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott. 22. März, 20 Uhr, Volkspark Halle/Saale). Das gesamte Programm finden Sie hier.

The First Cut Is The Deepest | Von Vanessa Koch, Praktikantin

Dem 1965 in Köln geborenen Gregor Hens, gelang gleich mit seinem Roman-Debüt „Himmelssturz“ ein kleines Kunstwerk über die Vergänglichkeit der Liebe: Die Geschichte des Paares Skye und Farald, denen ein befreundeter Architekt ein ihre Beziehung genau widerspiegelndes Haus bauen soll und deren Verbindung am Auftauchen der Studentin Helene zerbricht, ist ganz großes Kino. Nun ist Gregor Hens mit seinem neuen Roman „Missouri“ (Aufbau) in das Amerika der späten 80er Jahre zurückgekehrt – und wieder geht es bei der Geschichte vom Assistant Teacher Karl und seiner Studentin Stella um eine jener ersten Lieben, die ein ganzes Leben prägen können. Ich lese sehr gern romantische Titel, auch wenn sie vom Scheitern erzählen – so spielt das Leben ja und Märchen liest man oft genug. Somit freue mich auf Gregor Hens (Gregor Hens: Missouri. 21. März, 21 Uhr, Museum der bildenden Künste).

Literatur-Flashmob

Literatur-Flashmob

Bei Leipzig liest halten sich Vorfreude und Qual der Wahl regelmäßig die Waage – auch für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Buchmesse-Teams. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie die spannendsten Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Alexander von Humboldts funkelnde Texte, eine Fantasy-Kneipenwanderung, Künstliche Intelligenz, tschechischer Pop oder lyrisches Vorglühen fürs 2021er Gastland Portugal – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns!

Die ganze Welt in einem Buch | Christin Hofmann, Projektassistentin Fachausstellung 7. Bibliothekskongress Leipzig 2019″

Alexander von Humboldts Schriften erschienen vor über 70 Jahre in mehr als einem Dutzend Sprachen auf fünf Kontinenten. Allerdings sind 97 Prozent dieser Texte seit seinem Tod nie ediert und gedruckt worden. Die im Sommer erscheinende Berner Ausgabe hebt diesen Schatz. In einer Welt, die zunehmend an dem Stellenwert des Buches zweifelt, wollen die Kollegen von dtv hiermit ein Zeichen: Zehn Bände, 12 Millionen Zeichen, zehn Kilo! Bereits zur Buchmesse bringt „Der andere Kosmos“ eine Auswahl von 70 Texten aus 70 Jahren von 70 Orten, die Humboldts Werk und Leben exemplarisch abbildet. Verlegerin Claudia Baumhöver, die beiden Herausgeber Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich sowie Gert Scobel als Moderator sind dabei, wenn die Mammut-Edition im Völkerkundemuseum multimedial vorgestellt wird – großes Kino! (Alexander von Humboldt: Der andere Kosmos. Buchpräsentation und Empfang. 23. März, 20.30 Uhr, Museum für Völkerkunde zu Leipzig).

Der Körper als Schlachtfeld | Von Bilyana Miková, Praktikantin

Die Romane von Radka Denemarková, die die dunklen Flecken europäischer Geschichte ausleuchten, wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Als einzige tschechische Autorin wurde sie drei Mal mit dem renommierten Literaturpreis Magnesia Litera ausgezeichnet. Bereits ihr Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ (2009), war inhaltlich und stilistisch provokant, ohne in konventionellen Urteilen stecken zu bleiben. Er handelt von Gita, einer jungen Frau, die aus dem Konzentrationslager in ihr böhmisches Dorf zurückkehrt, von den Dorfbewohnern verjagt, nach 60 Jahren wiederkommt und abermals auf Hass und Ablehnung stößt. Provozierend irreführend ist bereits der Titel ihres aktuellen Romans „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“. Was als Kriminalroman beginnt, führt bald in ein von drei älteren Damen geführtes Archiv, in dem tausende Fälle von Misshandlung und Vergewaltigung protokolliert sind – Dokumente aus der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart. „Wir haben kein Gedächtnis – wir sind das Gedächtnis“, schreibt Denemarková über ihre Heldinnen. Ein Buch, das in Tschechien bereits 2014 erschien – und durch die #MeToo-Debatte brandaktuell ist. (Radka Denemarková: Ein Beitrag zur Geschichte der Freude. 22. März, 19 Uhr, Alte Nikolaischule, Richard-Wagner-Aula).

Phantastische Bierwesen | Lea Peterknecht, Projektassistentin Ausstellerservice

Ich kann mir keine bessere Kombination vorstellen, als phantastische Geschichten plus gutes Bier in zwei Leipziger Lokalitäten – und dazu die Möglichkeit, die Kalorien direkt wieder bei einer Kneipenwanderung entlang der KarLi abzubauen. Wir begleiten die Autoren Simona Turini, Torsten Scheib und Carolin Gmyrek. Los geht’s in der Getränkefeinkost in der Härtelstraße, Endstation ist das Dr. Hops – Leipzigs Craft Beer Kneipe, die die legendäre Wärmehalle Süd abgelöst hat. (Phantastische Bierwesen. Lesung und Kneipenwanderung mit Simona Turini, Torsten Scheib und Carolin Gmyrek. Start 23. März, 20.15 Uhr, Getränkefeinkost. Eintritt 15.- Euro, inklusive drei Bier und Snacks).

In Schlumpfhausen | Sassette Scheinhuber, Projektassistentin MCC

Für die Schlümpfe zog der spanische Zeichner Miguel Diaz Vizoso im Jahr 2000 eigens nach Belgien. Seitdem führt er das Werk des großen Meisters Peyo kongenial fort und hat den verspielt-knuffigen Stil der blauen Zwerge perfektioniert. Mit Díaz Vizoso, der aufgrund optischer Ähnlichkeiten manchmal liebevoll Gargamel gerufen wird, holt der Splitter Verlag zum wiederholten Mal einen der wenigen offiziellen Zeichner der „Schlumpf“-Comics nach Leipzig. Nicht nur bei Kindern sind die oft eng am Zeitgeist orientierten Geschichten der Schlümpfe beliebt – aber Miguel lässt generell niemanden am Stand vorbei, ohne dass er ihm eine persönliche Zeichnung geschlumpft hat. Mir hat Miguel eine Sassette gezeichnet – denn ja, genau von der Kinder-Fernsehserie sind meine Eltern bei der Wahl meines Vornamens inspiriert worden. Vertraut also jemandem, dem die Arbeit für die Manga-Comic-Con buchstäblich in die Wiege gelegt wurde! (Miguel Diaz Vizoso: Zeichenstunde – Wie zeichne ich einen Schlumpf? 22. März, 11 Uhr, Lesebude 2).

Vorglühen für Portugal | Kerstin Grüner, Projektmanagerin International, Musik, Buchkunst und Grafik

Was für ein schöner Name: „niemerlang“! Dabei handelt sich’s um eine Lesereihe, die das ganze Jahr über in Leipzig stattfindet: Alle zwei Monate lesen, kuratiert von einer dreiköpfigen Redaktion, im Café Tunichtgut in der Kolonnadenstraße Autorinnen und Autoren Lyrik, Prosa und dramatische Texte. Wichtige Bestandteile einer „niemerlang“-Lesung sind ein kurzes Autoren-Gespräch und die Einladung eines musikalischen Gastes, zumeist Singer-Songwriter*innen. Was mich als Leserin mit einem Faible für übersetzte Dichtung besonders freut: Zur Leipziger Buchmesse findet jedes Jahr ein Lyrik-Spezial der Reihe statt, wo neben deutschsprachigen Neuerscheinungen auch internationale Dichterinnen und Dichter vorgestellt werden. Am Buchmesse-Samstag sind das – in Kooperation mit der Botschaft von Portugal – die portugiesischen Lyriker Raquel Nobre Guerra und João Luís Barreto Guimarães. Ein wunderbarer Vorgeschmack auf unser Gastland im März 2021! (niemerlang-Lyrik-Spezial. Mit Tom Schulz, Alexander Graeff, Raquel Nobre Guerra, João Luís Barreto Guimarães u. a. 23. März, 19 Uhr, Café Tunichtgut).

Spiegel der Vielfalt | Von Leonie Höffner, Praktikantin

Was für ein tolles Projekt: Seit zehn Jahren bieten die „Stimmen Afrikas“ Autorinnen und Autoren vom afrikanischen Kontinent und aus der afrikanischen Diaspora eine Bühne in Köln. Die Gäste stellen ihre auf Deutsch erschienenen Romane, Geschichten und Gedichte vor, anschließend wird mit dem Publikum diskutiert: Ein gescheiter Gegenentwurf zu dem immer noch verbreiteten Stereotyp des entweder bedürftigen oder übermäßig romantisierten Kontinents. Mit Okwiri Oduor wird eine von zehn Autorinnen, deren Texte in der Jubiläums-Anthologie „Imagine Africa 2060“ (Peter Hammer Verlag) versammelt sind, nach Leipzig kommen. Oduor, 1988 in Nairobi (Kenia) geboren, gewann 2014 den einflussreichen Caine Prize for African Writing und studiert derzeit kreatives Schreiben an der Universität Iowa (USA). Mit der Kölner Kulturmanagerin Christa Morgenrath, Begründerin von „Stimmen Afrikas“, spricht Oduor über ihr literarisches Schaffen – und die Bedeutung, die afrikanischer Literatur heute zukommt (Imagine Africa 2060: Okwiri Oduor im Gespräch mit Christa Morgenrath. 21. März, 19 Uhr, naTo).

Chor der Stimmen | Von Michiko Wemmje, Projektmanagerin Fokus Bildung, Manga-Comic-Con

Zwei Ziffern nur, von denen uns 100 Jahre Geschichte trennen: „1919“. So hat der Hörspielmacher und Autor Herbert Kapfer sein neuestes, im Münchner Kunstmann Verlag erschienenes Buch genannt. Obwohl aus unzähligen dokumentarischen Texten montiert und aus fotografischen, literarischen, politischen und privaten Quellen gespeist, klingt dieser in 123 Kapitel untergliederte Erzählstrom eher wie ein Roman. Aus der Sicht von Soldaten, Rückkehrern, Gymnasiasten und Zeitungsverkäufern blicken wir in eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Mit diesem Kaleidoskop an Gedanken und Ideen zeigt uns der Autor Strömungen, die oft nur im Rückblick zu erkennen sind. Ich bin gespannt, wie uns Kapfer in seiner umfassenden Schilderung eine Zeit im Umbruch nahebringt, die in ihrer rastlosen Gedankenwelt ein wenig an unser Heute erinnert – und vielleicht auch etwas darüber verrät? (Herbert Kapfer: 1919. 21. März, 19 Uhr, Sächsische Akademie der Wissenschaften).

Franz, Jaroslav & Autotune | Von Julia Lücke, Referentin Presse

In Tschechien genießt die Kafka Band um Sänger und Zeichner Jaromír 99 (bürgerlich: Jaromír Švejdík) und Autor Jaroslav Rudiš längst Kultstatus. Die beiden, bekannt geworden durch ihre Graphic Novel „Alois Nebel“ und deren Verfilmung, haben hier einige der renommiertesten tschechischen Musiker um sich geschart, Mitglieder von Bands wie „Priessnitz“ oder „Tata Bojs“. Die Kafka Band ist zusammengekommen, um Literatur in Klang und Rhythmus zu verwandeln. Nach „Das Schloss“ ist „Amerika“ das zweite Romanfragment Kafkas, das die Band vertonte. Ursprünglich entstand die Musik erneut für eine Inszenierung am Theater Bremen unter Regisseur Alexander Riemenschneider, die zwei Spielzeiten lang erfolgreich lief. Der Sound der siebenköpfigen Band hat sich seit ihrer „Schloss“-Adaption deutlich verändert: Der Ton ist kühler, maschineller geworden, synthetische Klänge, Vocoder und elektronisches Schlagzeug bekommen mehr Raum. Wenn Jaroslav und seine Jungs die Regler nach rechts drehen, wird die Schaubühne Lindenfels wackeln. Rockiger, so viel steht fest, wurde ein Gastlandauftritt noch nie eröffnet (Kafka Band: Amerika. 20 März, 21 Uhr, Schaubühne Lindenfels).

Das nächste große Ding | Von Doreen Rothmann, Programmkoordination Leipzig liest

Wenn es um Künstliche Intelligenz geht, wird mit Superlativen nicht gespart. KI ist in aller Munde und umfasst verschiedene Dinge: Maschinelles Lernen, den Nachbau neuronaler Netze, Spracherkennungsprogramme, autonomes Fahren, Big Data in der Medizin oder das Durchleuchten von Schuldnern. Ein Trendthema also. Die einen entwerfen Schreckensszenarien und prognostizieren den Wegfall von mindestens 40 Prozent der aktuellen Jobs in den nächsten 20 Jahren. Die anderen feiern KI als die lang ersehnte Schlüsseltechnologie für mehr Wachstum – und Arbeitsplätze. Werden Roboter zukünftig Geld verdienen? Und wie erwirtschaftet das Individuum sein für das kapitalistische Gesellschaftssystem notweniges Eigenkapital? Dem IT-Experten Timo Daum geht es in seiner Flugschrift „Die Künstliche Intelligenz des Kapitals“ (Edition Natilus) nicht um Panikmache, sondern um eine gültige linke Kritik der KI auf dem aktuellen Stand der Forschung. Ein interessantes Buch für diejenigen, die bereit sind, über die Notwendigkeit alternativer Wirtschaftssysteme und Reformen im Sozialwesen nachzudenken (Timo Daum: Die Künstliche Intelligenz des Kapitals. 21. März, 19 Uhr, Telegraph Club).

Ein Haus, ein Jahrhundert | Von Kristin Naumann, Projektassistentin Ausstellerservice

Ein Gespür für zeithistorische Themen und Menschen mit bewegenden Schicksalen hat die gebürtige Berlinerin Regina Scheer (*1950) schon entwickelt, als sie in der „Spandauer Vorstadt“ in Mitte zur Schule ging. Später schrieb sie ein Buch über die vergessene Geschichte ihres Schulhauses. Als Journalistin, Lektorin und Buchautorin hat sie immer wieder lebendige Geschichte erforscht und literarisch beschrieben. Nach mehreren Büchern zur deutsch-jüdischen Geschichte legte sie 2014 mit „Machandel“ ihren ersten Roman vor. Für dieses gekonnt gewobene multiperspektivische Zeitmosaik, das deutsch-deutsche Geschichte von den 30er bis in die 90er Jahre verarbeitet, erhielt sie den Mara-Cassens-Preis 2014. Mit „Gott wohnt im Wedding“ (Penguin) wendet sich Scheer nun dem Stadtteil zu, in dem sie seit 2009 selbst lebt: dem ehemals roten, inzwischen schon mal als „Problem-Kiez“ verrufenen Wedding. Lange hat sie hier das Erzählcafé im Bürgersaal Malplaquetstraße geleitet – gut möglich, dass ihr dabei die ein oder andere Lebensgeschichte zugefallen ist? (Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. 21. März, 19.30 Uhr, Buchhandlung Südvorstadt).

Klang der Stille

Klang der Stille

Einmal im Jahr, an vier Buchmessetagen im März, swingt die Stadt im Takt der Literatur: Seit 20 Jahren feiern Einheimische und ihre Gäste dann mit Leipzig liest ein hinreißendes Fest der Bücher. Tagsüber in den Hallen des Messegeländes, abends in Cafés und Bars, Museen und Szene-Clubs, im Rathaus, im Zoo. Ein wenig Ausnahmezustand, eine Art Woodstock der Literatur – und zugleich die vermutlich beste Chance, Leipzig und seine Potenziale zu erkunden. Bei Leipzig liest halten sich Vorfreude und Qual der Wahl regelmäßig die Waage – auch für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Buchmesse-Teams. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie die spannendsten Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Sockenfresser, Bauhaus, Insta-Lyrik, Ausflüge in die dunklen Winkel der Geschichte oder nach Kalmückien – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns!

Zwischentöne | Von Gritt Philipp, Projektmanagerin Belletristik/Sachbuch, Independent-Verlage

Katharina Mevissen (*1991) erzählt in ihrem Debütroman „Ich kann dich hören“ (Wagenbach) vom Sound des Alltags und vom Zauber der Sprache. Sie überzeugt nicht nur mit sehr poetischen Beschreibungen für alles Akustische, sondern auch mit der sensiblen Zeichnung ihres Ich-Erzählers Osman, dem im Ruhrgebiet aufgewachsenen Sohn eines erfolgreichen Geigers mit türkischen Wurzeln. Um Osmans Migrationserfahrungen geht es jedoch nur am Rande. Im Vordergrund steht das Hören (und nicht hören können) – nicht zuletzt als Symbol für die Fähigkeit zu Dialog und gegenseitigem Verstehen. Katharina Mevissen ist unter anderem im Forum Die Unabhängigen in Halle 5 auf dem Messegelände und im Literaturhaus Leipzig zu erleben – ich empfehle ihren Auftritt in der Auftakt-Session der diesjährigen UV-Lesung, zusammen mit Daniel Faßbender und Dilek Güngör. (Katharina Mevissen: Ich kann dich hören. UV – Lesung der unabhängigen Verlage. 22. März, 20 Uhr, Lindenfels Westflügel).

Vaterland | Von Anna-Lena Schmidt, Praktikantin

Der junge Äthiopier, der im Hochsommer 2010 plötzlich bei Ilaria Profeti läutet, ist ein Flüchtling, der es in seiner Heimat knapp aus einem Foltergefängnis geschafft hat. Bald aber wird der römischen Lehrerin klar, dass der Junge auch ihr Neffe ist, der Sohn ihres ältesten Bruders. Ihr Vater, längst über 90, hat seinen afrikanischen Sohn stets verschwiegen. Es ist ein Paukenschlag, mit dem dieser Roman beginnt, der die letzten 120 Jahre italienischer Geschichte in den Blick nimmt. Die Verwicklungen zwischen Libyen und Italien unter Berlusconi kommen ebenso vor wie Mussolinis martialischer äthiopischer Eroberungskrieg mit Giftgas von 1935. Nach „Eva schläft“ und „Über Meereshöhe“ bildet „Alle, außer mir“ (Wagenbach) den Abschluss ihrer „Trilogie der Väter“ über die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Feder von Francesca Melandri (*1964). In Leipzig wird Melandri von der Kritikerin Maike Albath, einer der profundesten Kennerinnen der modernen italienischen Literatur, vorgestellt. Es muss nicht immer Elena Ferrante sein! Melandris Familiengeschichten erklären besser als jedes Politik-Oberseminar, was die sogenannte „Flüchtlingskrise“ mit europäischer Geschichte zu tun hat. (Trilogie der Väter. Francesca Melandri im Gespräch mit Maike Albath. 22. März, 19 Uhr, Kunstkraftwerk)

Quo vadis, Europa? | Von Martin Buhl-Wagner, Geschäftsführer der Leipziger Messe und Sprecher der Geschäftsführung

„Die friedlichen Revolutionen“, so das vernichtende Urteil des jüdischen ungarischen Philosophen Gáspár Miklós Tamás, „sind ganz und gar gescheitert“. Als Zeitzeuge der Friedlichen Revolution möchte ich dieser These widersprechen. Die Revolution und ihre Gestalter haben in den vergangenen 30 Jahren das Verständnis von Demokratie in Deutschland und anderen europäischen Ländern nachhaltig geprägt und gestärkt. Dennoch kam es zu Fehlentwicklungen, müssen Korrekturen durchgeführt werden, um die Demokratie gegen nationalistische und populistische Angriffe zu verteidigen, wie sie zum Beispiel Tamás erlebte. Der Philosoph konnte in den Achtzigern nur im Untergrund publizieren. In den Nullerjahren begründete er die ungarische Attac-Bewegung mit und wurde schließlich 2011 von der Orbán-Regierung aus der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gedrängt. Mit Spannung erwarte ich daher die Diskussion mit ihm und dem polnischen Journalisten und Autor Piotr Buras sowie Jáchym Topol, einem der bedeutendsten Schriftsteller Tschechiens vor der Samtenen Revolution. Die Diskussion über die Bedeutung Europas für Polen, Ungarn und Tschechien sowie die Lehren aus den Revolutionen kann aus meiner Sicht einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Ausgestaltung unserer Länder leisten. Ähnliches erhoffe ich mir von den weiteren Veranstaltungen im Rahmen unseres neuen Programmschwerpunkts „The Years of Change 1989 – 1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“, den wir gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalten. (Am Ende – Europa! Die Bedeutung Europas für Polen, Ungarn und Tschechien. 22. März, 13 Uhr, Café Europa, Halle 4).

Geht ein Schriftsteller zum Arbeitsamt | Von Ruth Justen, Presseteam Leipziger Buchmesse

Kommt ein Schriftsteller zum Arbeitsamt und will sich arbeitslos melden. Doch wie soll das gehen, wenn man gar keinen Beruf ausübt – weil der Sachbearbeiter auf der anderen Seite des Schreibtischs überzeugt ist: „So einen Beruf gibt es nicht, Schriftsteller.“ Da bleibt dem Autor nur, den Beamten vom Gegenteil zu überzeugen – und quasi um seinen „Lebensunterhalt“ zu erzählen. Ein Witz? Nein: Ein Roman. Ein ziemlich witziger und kluger. Tomer Gardi, 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa geboren und inzwischen in Berlin lebend, hat mit „Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück“ (Droschl) eine moderne Scheherezade-Geschichte im heutigen Israel geschrieben. Seit ich vor einigen Jahren den Israel-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse als Pressesprecherin begleitet habe, verfolge ich die literarische Entwicklung dort mit wachen Augen. Tomer Gardi, der mit einem Auszug aus seinem Debütroman „Broken German“ beim 40. Bachmannpreis in Klagenfurt aufgetreten war, ist ohne Zweifel eine der eigenwilligsten zeitgenössischen hebräischen Stimmen. Ich wünsche ihm viele neue Leserinnen und Leser. (Tomer Gardi: Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück. 22. März, 15 Uhr, Forum Die Unabhängigen).

Sockenanarchie | Von Constanze Hilsebein, Referentin Werbung

Das oberste Sockenfresser-Gesetz scheint weltweit zu gelten: Es ist nicht die Waschmaschine, sondern es sind die Sockenfresser, die immer nur eine Socke eines Paars verspeisen. Der Autor Pavel Srut (1940 – 2018) und die Illustratorin Galina Miklínová erhielten für „Lichozrouti“ („Die Sockenfresser“) 2009 den bedeutendsten tschechischen Buchpreis Magnesia Litera in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur. Nun ist die Cartoon- und Animationszeichnerin Miklinová, die auch bei der filmischen Umsetzung des Bestsellers mit Hand anlegte, im Rahmen von Ahoj Leipzig für einige seltene Workshops bei uns zu Gast. Unter ihrer fachkundigen Anleitung können Jungs und Mädchen einen eigenen Sockenfresser basteln – nötig sind dazu nur ein paar Knöpfe, Zwirn und, klar doch: eine gefräßige Socke. Am Ende kann man sich sogar noch eine Geburtsurkunde für seinen Sockenfresser signieren lassen. Wenn das Professor Krausekopf wüsste! (Galina Miklínová: Sockenfresser. Ein Workshop. 22. März, 10 Uhr, Bibliothek Reudnitz).

Das Vergangene ist nicht tot | Von Katharina Wilhelm, Praktikantin

In ihrem zweiten Roman „Schwedenreiter“ (Otto Müller Verlag) behandelt Hanna Sukare die Ereignisse um den sogenannten „Goldegger Sturm“ in Salzburg im Jahr 1944 – damals machte die SS Jagd auf Wehrmachtsdeserteure, insgesamt 14 Menschen wurden umgebracht. Aufgearbeitet ist die Geschichte bis heute nicht, im Gegenteil: In der Goldegger Ortschronik werden die Deserteure bis heute als „gefährliche Landplage“ bezeichnet. Im Roman wehrt sich die fiktive Figur Paul Schwedenreiter, dessen Großvater einer der Deserteure war und dessen Großmutter deshalb ins KZ kam, gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit – er will Rehabilitation für seine Familie und Frieden für sich selbst. Heilt die Zeit doch nicht alle Wunden? Hanna Sukare lässt ihre Leser spüren, wie nahe uns der Krieg auch nach 70 Jahren noch ist. Erschreckend: Kurz nach Erscheinen des Romans im letzten Jahr wurde das Goldegger Deserteursdenkmal von Unbekannten geschändet. (Hanna Sukare: Schwedenreiter. 23. März, 19 Uhr, Galerie Stritz).

Auf nach Kalmückien! | Von Laura Büching, Projektmanagerin autoren@leipzig, Hörfunk/Fernsehen, Zeitungen/Zeitschriften, Branchen-Dienstleister

Die Touristik-Branche boomt, China überholt Deutschland als Reiseweltmeister, und immer mehr Menschen fahren immer häufiger zu immer weiter entfernteren Orten. Ist es da nicht faszinierend, in diesen Zeiten einen weißen Fleck auf der Landkarte zu entdecken? Zugegeben, als ich das erste Mal von „Kalmückien“ las, habe ich kurz an „Molwanîen“, das „Land des schadhaften Lächelns“ denken müssen, diese Reiseführer-Parodie, die zum internationalen Bestseller wurde. Vielleicht ist es eine Bildungslücke, aber ich persönlich habe noch nie etwas von dem Land gehört, das nun in der „Bibliothek der unbekannten Länder“ (Achter Verlag) vorgestellt wird. Und ich bin sehr neugierig, welche kulturellen, naturellen, gesellschaftlichen und kulinarischen Abenteuer es im einzigen buddhistischen Land Europas zu entdecken gibt. Die Autoren Wolfgang Orians und Andreas Salewski stellen das unbekannte Land Kalmückien mit Bildern, Filmen und Texten aus ihrem neuen Buch vor (Bibliothek der unbekannten Länder: Kalmückien. 23. März, 19.30 Uhr, First Reisebüro).

Follow me! | Von Luise Neubert, Projektassistentin Leipzig liest

„Ich lass dich in mein Herz, aber streif dir vor der Tür die Füße ab.“ Mit seiner Ehrlichkeit und seinem Blick für das Wesentliche hat sich Atticus auf seinem Instagram-Account @atticuspoetry in die Herzen von mehr als 900.000 Followern geschrieben. Für seinen ersten Fotogedichtband hat der Singer-Songwriter Kilian Unger alias Liann die Texte des gebürtigen Kanadiers, der heute in Kalifornien lebt, ins Deutsche übersetzt. Erschienen ist „Love. Her. Wild.“ bei bold, dem neuen jungen Label von dtv, was sich an Digital Natives ab 20 aufwärts wendet. Unter dem Titel #boldbooksandbeer lädt der Verlag die Generation Y zur Buchparty mit InstaPoet Atticus und Kilian Unger an die Karli: „Chase your stars fool, life is short!“ (#boldbooksandbeer. 22. März, 20 Uhr, Café Puschkin)

Rumble in the Jungle | Von Silvana Deckwerth, Referentin Werbung

Die Schwarz-Weiß-Bilder im TV, Ali gegen Foreman, 30. Oktober 1974, morgens um vier Uhr Ortszeit in Kinshasa. Später der Wiederstand gegen die Startbahn West… Freddy Wohn, 51, blickt am Tag seiner Haftentlassung Jahrzehnte zurück – in eine Zeit, in der Freundschaften, Konflikte, freie Liebe und der Hunger nach Anerkennung sein Leben bestimmten. Mit dem Roman „Alleingang“, für den der Autor mit dem Martha-Saalfeld-Preis 2018 ausgezeichnet wurde, gelingt Stefan Moster (*1964) das Porträt einer Generation, einer Freundschaft, eines Außenseiters, der seinen Platz im links-alternativen Spektrum sucht. Einer, der lieber handelt als redet – und schließlich bereit ist, aus Freundschaft das Äußerste zu tun. (Stefan Moster: Alleingang. 23. März, 19 Uhr, Café Puschkin).

Moderne in Sachsen | Von Elisabeth Buschmann-Berthold, Projektmanagerin Hörbuch, Gemeinschaftsstände kleinere Verlage

Alle reden vom Bauhaus? Ich auch. Schließlich war das Bauhaus eins der Schwerpunktthemen meiner Abschlussprüfung in Kunstgeschichte. Deshalb empfehle ich euch auch die Vorstellung des Bands „Modernes Sachsen. Gestaltung in der experimentellen Tradition des Bauhauses“ (Spector Books). Normalerweise ist Sachsen ja nicht besonders bekannt für avantgardistische Modernität. Dass sich das Hinschauen aber lohnt und man nicht nur im Urbanen fündig wird, zeigt der toll gestaltete Bild-Text-Band sehr gut: Orte der Moderne sind die Fabriken, in denen nach den Vorgaben von Bauhäuslern seriell produziert wurde und wird: Leuchten aus Leipzig, Gläser aus Weißwasser, Möbel aus Hellerau, Textilien aus dem Erzgebirge. Dann natürlich auch die Kunstvereine und Museen in Dresden, Leipzig, Chemnitz oder Zwickau, die mit Ausstellungen von Bauhaus-Künstlern die kulturellen Milieus ihrer Städte mitprägten. Und, natürlich, die Stadtarchitekturen, die – wie in der Leipziger Kolonnadenstraße – in den 60er und 70er Jahren Bezüge zu den Formexperimenten der 20er herstellten. Und sagen wir so: Die Hochschulbibliothek der HTWK, in der das Ganze stattfindet, ist architektonisch durchaus ansprechend geraten (Annette Menting, Walter Prigge, Anne König (Moderation): Modernes Sachsen. 21. März, 20 Uhr, HTWK, Hochschulbibliothek).

Fragen Sie Frau Krämer!

Fragen Sie Frau Krämer!

„Wer zum Chef will“, sagt Petra Krämer lachend, „muss an mir vorbei.“ Und das, könnte man ergänzen, schon ziemlich lange. Seit 27 Jahren, um genau zu sein: 1992 stieß Krämer als Sekretärin und Projektassistentin zur Mannschaft um Oliver Zille, damit ist sie nach dem Buchmesse-Direktor die Dienstälteste im Team. Eine Berufsbiografie, wie sie in unseren heutigen, schnelllebigen Zeiten kaum noch geschrieben wird – und eine mit ungewöhnlichem Beginn. Eigentlich ist Petra Krämer Facharbeiterin für chemische Produktion; ihre Lehre absolvierte sie, als ans Ende der DDR noch längst nicht zu denken war, im Leipziger Arzneimittelwerk. Doch im „Pillendrehen“, wie sie es scherzhaft nennt, sah sie keine Perspektive. Nach Ende der Ausbildung wechselte sie relativ rasch als „Werkstattschreiberin“ zum VEB Kombinat GISAG (Gießereianlagen und Gusserzeugnisse) in Leipzig. Als die Sekretärin des stellvertretenden Betriebsleiters ausfiel, übernahm Krämer ihren Job – und blieb, nachdem sie, berufsbegleitend, in der Abendschule noch Schreibmaschine und Steno gepaukt hatte. Ende 1982 dann der – im Rückblick entscheidende Tipp der Schwiegermutter, die im Leipziger Messeamt arbeitete: „Herbert Simon, Hauptbuchhalter der Messe und einer unserer stellvertretenden Generaldirektoren, sucht händeringend eine Sekretärin – das wäre doch was für dich?“

Wer schreibt, der bleibt?

Petra Krämer kam, sah – und siegte. Seit 1983 arbeitet sie für die Firma unterm Doppel-M. 1985 kommt ihre Tochter zur Welt, 1987 sitzt sie dann im zentralen „Schreibzimmer“ des Messeamts. Wer schreibt, der bleibt – auch diese zentrale Weisheit erweist sich in den Wende-Wirren als trügerisch; das „Schreibzimmer“ wird aufgelöst, die Damen finden sich in allen möglichen Abteilungen der auf Marktwirtschaftskurs gebrachten Messegesellschaft wieder. Eines Tages schneit Oliver Zille vorbei: „Hätten sie Lust, zu uns zu kommen?“ Seitdem ist Petra Krämer der gute Geist des Buchmesse-Teams. Und sie ist weit mehr als das: Als Projektassistentin ist sie unter anderem für die Routinen der Fachbesucherbetreuung zuständig, von Mailings bis zu hartnäckigen Nachfragen in der Hotline. Überhaupt: Fragen – es gibt wohl keine, die Petra Krämer in den zurückliegenden 27 Messe-Jahren noch nicht gestellt wurde: „Wie komm’ ich denn zum Messegelände?“ – „Wo kriege ich denn einen Ausstellerausweis?“ – „Können sie mir für heute Abend eine interessante Veranstaltung empfehlen?“ Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man in Leipzig keinen Arbeitskreis – sondern fragt Petra Krämer, die lebende Auskunftei. Bei ihr gilt: Geht nicht gibt’s nicht!

Nach der Messe ist vor der Messe

Eine weitere dieser ewigen Wahrheiten: „Nach der Messe ist vor der Messe.“ Schon bald nach dem letzten Gong beginnt die Neuplanung, Budgets werden abgerechnet, Statistiken erstellt. Kärrnerarbeit. „Es muss alles seriös zu Ende gebracht werden, ehe man, teilweise fast zeitgleich, mit dem Neuen beginnt.“ Wie bewahrt Krämer im Auge des Messe-Orkans Gelassenheit und Übersicht? „Ich mache den Job schon zu lange, um wirklich aus der Ruhe zu kommen“, sagt sie. „Und wenn ich abends aus dem Haus gehe, lasse ich die Arbeit hier. Das war nicht immer so.“ Unerwartetes passiert während der vier tollen Tage von ganz allein. Wenn etwa auf dem Massen-Event Buchmesse doch mal ein Kind abhandenkommt, wird Petra Krämer zur temporären Ersatz-Mama, bis die Eltern aufgetrieben sind. „Die meisten Such-Fälle sitzen allerdings mit heißen Ohren in ein Buch versunken, ohne Gefühl für Zeit und Raum“, weiß Krämer. Für die eigene Lektüre nutzte die Grünauerin lange Zeit die rund 50minütige Straßenbahnfahrt zur Arbeit. Seit drei Jahren kurvt sie im eigenen PKW und auf Schleichwegen zum Messegelände. Daran wird sich auch zu ihrer 28. Buchmesse im kommenden März nichts ändern – egal, ob es nun stürmt und schneit, oder die Sommerkleider aus dem Schrank geholt werden.

Petra Krämer absolvierte von 1977 bis 1978 eine Lehre im Leipziger Arzneimittelwerk, qualifizierte sich berufsbegleitend zur Sekretärin und arbeitete in dieser Position von 1978 bis 1982 im VEB Kombinat GISAG Leipzig und seit 1983 bei der Leipziger Messe. Seit 1992 ist sie Sekretärin und Projektassistentin im Buchmesse-Team. Petra Krämer ist verwitwet und hat eine erwachsene Tochter.