Warum Melancholie und Wissen Geschwister sind: Ungehaltene Dankesrede zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
Es gibt vielerlei Themen, die man loben und zu deren Lob auch Bücher schreiben könnte. Und die könnten sich mit gleichem Recht um diesen Leipziger Buchpreis bewerben wie jenes, das von dem Lob der Melancholie handelt und dessen Verfasser jetzt hier vor Ihnen steht.
Was könnte man alles loben? Auf Anhieb fällt mir da ein: Das Lob der freien Rede. Das Lob der offenen Gesellschaft. Das Lob des Umweltschutzes. Das Lob des Liberalismus. Das Lob des Dialogs. Das Lob der Einsicht. Das Lob einer Politik, die sich dem entfesselten Kapital widersetzt. Und so weiter. Ein Thema aktueller als das andere, zumal in unserer von Krisen geprägten Zeit. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine Krise der Wirtschaft und des Finanzwesens, deren Auswirkungen seit geraumer Zeit weltweit spürbar sind. Das, was im Bereich der Wirtschaft und des Geldmarktes passiert ist, hatte nicht nur wirtschaftliche Ursachen. Die auslösende Ursache der Krise war in Wahrheit etwas, was ich als den zunehmenden Verlust der menschlichen Werte bezeichnen möchte. Und siehe da, schon nähern wir uns dem Thema der Melancholie.
Schon lange vor dem Herbst 2008 war zu beobachten, dass Geld, Profit und schneller Erfolg zum fast alleinigen Maßstab geworden waren. Nicht nur im Finanzsektor und im Wirtschaftsleben, sondern auch auf dem Gebiet der Kultur. Dieser Prozess setzte im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts ein, und zum letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts beschleunigte sich der beispiellose, fast perverse Siegeszug der von ihren politischen Schranken befreiten Wirtschaft. Seitdem setzt das, was man in Finanzkreisen als „Marktfundamentalismus“ bezeichnet, seinen Siegeszug fort.
Als wäre nichts geschehen. Der gegenwärtige Lauf der Welt wird von den gleichen Prozessen bestimmt, die schon den Ausbruch der Krise von 2008 ausgelöst hatten. Halten wir uns vor Augen, dass die Beschleunigung der Klimakatastrophe durch nichts mehr aufzuhalten ist. Die traditionellen, großen Parteien von vor 1989 brechen heute weltweit endgültig ein, sind in der Krise. Der globale Kapitalismus erschwert zunehmend das demokratische Funktionieren der Nationalstaaten, was vor allem in der östlichen Hälfte Europas offenkundig wird, wo die demokratische Tradition ohnehin wenig ausgeprägt ist oder gar nicht existiert. Heute triumphiert der Marktfundamentalismus, und in seinem Schlepptau wuchern immer mehr jene politischen Fundamentalismen, die dem Fundamentalismus des Kapitals den Kampf ansagen. Hinter den Kulissen jedoch gehen Marktfundamentalismus und politischer Fundamentalismus allen scheinbaren Unterschieden zum Trotz Hand in Hand miteinander und bestärken sich gegenseitig. Beider Hauptfeind ist der Liberalismus. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich komme aus einem Land, in dem die illiberale Demokratie, diese widersinnige Quadratur des Kreises, erfunden wurde. Der Markt und das unkontrollierte Geld werden angebetet, alle Manifestationen des Liberalismus zugleich angegriffen.
Hier möchte ich aber nicht über die gegenwärtige Politik meines Heimatlandes sprechen; ich möchte meine Freude über den Preis davon nicht trüben lassen. Lassen Sie mich lieber zu den vorhin skizzierten Buchtiteln zurückkehren. Würde also jemand die Bücher schreiben, wären sie alle aktuell und im Geiste der europäischen Verständigung würdige Bewerber um den Leipziger Buchpreis.
Doch was hat ein Buch mit dem Titel Lob der Melancholie unter ihnen zu suchen?
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich erst erläutern, was ich unter Melancholie verstehe. Was ist Melancholie? Mir ergeht es damit wie dem heiligen Augustinus mit der Zeit, als er schrieb: „Was ist Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht.“ Dasselbe lässt sich auch über die Melancholie sagen. Es ist einer der ältesten Begriffe der europäischen Kultur, an dem im Laufe der Jahrhunderte die widersprüchlichsten Vorstellungen hafteten. Beim Durchblättern medizinischer Bücher aus dem neunzehnten Jahrhundert fällt auf, wie der Begriff der Melancholie gerade wegen seiner Vieldeutigkeit zunehmend von dem der Depression verdrängt wurde, dessen weltweite Expansion bis in unsere Tage fortdauert. Den Begriff der Melancholie zu eliminieren, gelang jedoch nicht. Wo auch immer wir das Wort hören, spitzen wir sofort die Ohren.
Die Melancholie wurde von Epoche zu Epoche anders gedeutet; das Wort selbst hielt sich dennoch hartnäckig. Was dafür spricht, dass es einen gemeinsamen Nenner, einen gemeinsamen Grundzug geben muss. Die herausragenden Heroen der Antike, die verrückten Gottesleugner des Mittelalters, die Künstler der Renaissance mit ihren weit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, später die gelangweilten Müßiggänger, die in sich gekehrt nach innen lauschen oder tagaus, tagein über die Vergeblichkeit aller Dinge sinnieren – denn sie alle wurden von ihren jeweiligen Zeitgenossen als Melancholiker beurteilt – : sie alle sind sich darin ähnlich, dass sie sich von der Welt abwenden, wie es auch der Melancholiker Jaques in Shakespeares Wie es euch gefällt tut. Sie wenden sich ab, verlieren die Welt aber nicht aus dem Blick. Sie betrachten sie vielmehr aus einem anderen Blickwinkel und sehen sie in einem anderen Licht.
Wo auch immer die Melancholie auftaucht und wie auch immer sie definiert wird, in der Regel deutet sich in ihr der dunkle Schatten der jeweiligen Welt an. Vergessen wir nicht: ursprünglich steht das Wort mit der Farbe Schwarz im Zusammenhang. Dem Melancholiker erscheint die Welt in einer Projektion, die den gewohnten Lauf der Dinge verwirrt. In welcher Zeit auch immer sie gelebt haben, nie vermochten die Melancholiker die jeweilige Einrichtung der Welt als eine endgültige zu sehen. Die Melancholie wirft den Schatten des Zweifels auf jede noch so selbstsicher anmutende Erklärung. Dabei versucht gerade unsere Zivilisation ständig, uns mit endgültigen Erklärungen zu blenden. Sie ist felsenfest überzeugt, dass sich früher oder später für alles eine Erklärung wird finden lassen und alles zu lösen sein wird, sogar eine Verlängerung des Lebens. Der Melancholiker teilt diese universelle Selbstsicherheit nicht. Für ihn ist das Unbekannte nicht etwas, was sich bei entsprechenden Kenntnissen früher oder später entschleiern lassen wird, sondern das innerste Zentrum des menschlichen Daseins und Denkens. Und was ist dieses Unbekannte? Etwas, worin jedes Leben eingebettet ist. Niemals sind wir vollständig Herr unseres Lebens; es gibt etwas, was stets über uns hinausgeht.
Der Mensch ist dadurch Mensch, dass er um die bruchstückhafte Natur seines Daseins weiß: er wird durch seine Geburt aus etwas herausgerissen und durch seinen Tod abermals aus etwas herausgerissen. Die Erkenntnis dieser Splitterhaftigkeit erst hat den Menschen zum Menschen werden lassen. Es ist nichts anderes, als unser Wissen um unsere Ausnahmesituation in der Welt – unser Wissen um Geburt und Tod. Und das ist auch schon der Augenblick der Geburt der Melancholie. Wissen und Melancholie sind untrennbar miteinander verbunden. So war es bereits bei den Menschen der Steinzeit und so ist es auch heute, da sich eine neue Zivilisation zu entfalten beginnt, die auch unsere verwegensten Vorstellungen überflügeln wird.
Dieses Wissen wollte ich im heute prämierten Buch Lob der Melancholie umreißen. Mich beschäftigte dabei die Krise unserer Zeit, zu deren Hauptmerkmalen für mich das Vergessen gehört. Wenn eine gegebene Zivilisation vergisst, wie zerbrechlich ihr Sein ist, wie außergewöhnlich, wie einmalig ihre Situation nicht nur innerhalb der Menschheitsgeschichte, sondern auch im Universum ist, wie verschwindend gering die ihr zugemessene Zeit im Vergleich zur universellen Zeitlosigkeit ist, wenn sie das also vergisst, bemächtigt sich ihrer der Hochmut, die Hybris, und sie nimmt auf nichts mehr Rücksicht. Bei Terroristen pflegen wir an einsam handelnde, fanatische Täter zu denken. Indessen leben wir alle, ohne dass wir uns dessen bewusst wären, inmitten einer gewaltigen, terroristischen Verschwörung, ja sind daran selbst beteiligt, gehören zu den Tätern. Wir alle, ohne Ausnahme. Auch ich. Wir alle, die wir Teil der heutigen Zivilisation sind. Einer Zivilisation, die unter Berufung auf den immer größer werdenden Reichtum die Bewegungen von Kapital und Geld entfesselt hat, gerade so als hätte sie sich verschworen. Und das Ziel hat kosmische Dimensionen. Einige Generationen noch, und das Ergebnis wird die Vernichtung allen menschlichen Lebens auf diesem Planeten sein.
Und hier meldet sich und mahnt die Melancholie. Sie verhilft uns zu etwas, was man allzu leicht verliert: die Offenheit. Sie hilft uns zu erkennen, dass es etwas gibt, was über uns hinausgeht, dass wir nicht allmächtig sind, dass wir trotz unserer Macht und unserer Errungenschaften von etwas abhängig sind, worauf wir keinen Einfluss haben. Eine Krise tritt dann ein, wenn diese Offenheit nachlässt oder aufhört. Dann wähnt man sich ungeheuer stark, hält sich dank seines materiellen Reichtums, seiner instrumentellen Vernunft, seiner politischen Macht zu allem fähig. Dabei erinnert man an Baron Münchhausen, wenn er sich an seinem eigenen Zopf emporheben will. Es hat in der Geschichte vermutlich noch nie einen solchen Überfluss an materiellen und kulturellen Gütern gegeben wie heute. Und doch spüren wir alle, dass etwas unwiederbringlich zu Ende gegangen ist, und wir vor einer unabsehbaren Zukunft stehen. Wie diese aussehen wird, davon haben wir keine Ahnung. Lob der Melancholie? Ja, man kann sie gar nicht genug loben.
Ich sprach zu Beginn meiner Rede vom Verlust der menschlichen Werte. Man bemüht sich, etwas dagegen zu unternehmen – mit Taten, mit Worten. Oder mit Büchern. Dieser Leipziger Buchpreis zeigt – wirft man einen Blick auf die Liste der bisherigen Preisträger –, dass es noch Inseln gibt, wo man versucht, dem allgemeinen Zeitgeist wirksam entgegenzutreten, gerade im Namen der menschlichen Werte. Dass es dieses Jahr auch mir gegeben ist, Aufnahme auf dieser Insel zu finden –, darüber freue ich mich aufrichtig und danke der Jury aus ganzem Herzen, und Ihnen danke ich, dass Sie mir zugehört haben.
Eine Woche und einen Tag vor der feierlichen Eröffnung im Gewandhaus musste die Leipziger Buchmesse 2020, bedingt durch die Corona-Krise, abgesagt werden. Anfang März war das die gravierendste organisatorische Folge der Krankheit in Deutschland, inzwischen sind auch die London Book Fair und Bologna abgesagt. So eine Entscheidung musste die Messe-Leitung in den letzten sieben Jahrzehnten noch nicht treffen – sie ist bitter für die Messe, ihre Mitarbeiter und natürlich für die gesamte Branche. Entsprechend groß war das Echo in den Feuilletons, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in den sozialen Medien; dazu erreichte das Buchmesse-Team unzählige Mails von Ausstellern, Programmpartnern oder Besuchern. Tenor: Wir brauchen euch, nächstes Jahr wird das Frühlingsfest der Bücher noch bunter, noch vielfältiger. Zusammen packen wir das. In drei Folgen haben wir hier noch einmal einige der auffälligsten, witzigsten, zu Herzen gehendsten Fundstücke zusammengetragen. Eine digitale Pinnwand, deren Botschaft lautet: Feiern wir zusammen das Buch, jetzt erst recht! Und lasst uns schon auf dem Weg zum März 2021 gemeinsam die ein oder andere spannende Aktion anschieben. Wir sehen uns! Darauf einen Knuff mit dem Ellenbogen.
Was nun zu tun ist | Jo Lendle, Schriftsteller und Verleger des Carl Hanser Verlages, Facebook, 14. März
[…] Es wird jetzt ein bisschen stiller. Versuchen wir es als eine Art Advent zu betrachten. Als Zeit zwischen den Jahren, auch wenn es sich in diesem Fall wohl um die Zeit zwischen den Jahren 2019 und 2021 handelt. Seltsam, so plötzlich ausgebremst zu werden und im Aufprall fliegt alles andere zunächst noch weiter – Termine, Kalender, Gedanken. Stattdessen also Besinnlichkeit. Gelegenheit, den kleinen Dingen zu lauschen, dem Frühlingszwitschern der Vögel (das diesmal besonders schön klingt). Dem Knistern der Klopapierpackungen. […]
Bücher sind Lebensmittel | Monika Osberghaus, Schriftstellerin und Verlegerin von Klett Kinderbuch, Facebook, 13. März
[…] Nächstes Jahr wird unsere gute alte Leipziger Buchmesse wieder so sein wie immer. Das werden wir dann alle noch mehr zu schätzen wissen. […] Ich mag es, wie viele Ideen überall sprudeln, das Beste draus zu machen. Bücher sind Lebensmittel, gerade jetzt wird das so klar wie die Brühe von Thomas‘ Markklößchen-Kinderbuchstabensuppe. […]
Stille | Clemens Meyer, Schriftsteller, Der Spiegel, 7. März
[…] Und es wird sein eine stille am abend, / dass durch die wand man das rascheln / der kakerlaken, der nachbarn / immerwährendes schweigen hört.“ Und ja, so still liegen die Hallen der Leipziger Messe, wie der Leipziger Dichter Andreas Reimann es in einem seiner Gedichte beschreibt, still liegt auch die Stadt L., im Morgenlicht, im Abendlicht. Ich glaube ja, dass der Stein konserviert und bewahrt, dass er Leben und Stimmen bannt, so wie wir, wenn wir genau hinhören, auch Wolfgang Hilbigs „Stimme Stimme“ auf dem Leipziger Hauptbahnhof vernehmen, sei es in der Bierbar Gleis 8 oder im alten Wartesaal, der nun ein Starbucks beherbergt. […]
Auerbachs Keller | Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 3. März
[…] Die Leipziger Buchmesse lebt nicht vom Handel mit Lizenzen, sie ist das größte Literaturfestival der Bundesrepublik. Sie hat als Messe die Jahre nach 1989/90 überlebt, weil sie auf die physische Präsenz, auf das performative Potenzial der Literatur gesetzt hat, auf dem Messegelände, in der Stadt.
[…]
Die Lieferketten sind nicht unterbrochen, die Bücher, die in Leipzig ihren Auftritt gehabt hätten, liegen auch in den Buchhandlungen. Man kann sie mit nach Hause nehmen. Auch dort gibt es Wein. Die Leipziger Buchmesse aber ist Auerbachs Keller, sie verwandelt Bücher in Literatur live, Ausschank und Gasthaus ist sie näher als dem einsamen Leser, Geist ohne Körper gibt es hier nicht. Schade, dass sie eben deshalb abgesagt werden musste. […]
Als wäre mir die Luft rausgelassen worden | Holger Ehling, Holger Ehling Media, per Mail
[…] auch von der schönen Algarve aus habe ich mit Euch gehofft und gebangt, und fühle mich jetzt, als wäre mir die Luft rausgelassen worden. Ihr habt die Situation m.E. genau richtig behandelt, ohne Panik, sehr professionell und konsequent. Mir hat gefallen, dass Ihr Euch nicht in irgendwelche Debatten habt treiben lassen – da hättet ihr erstens nichts ausrichten und zweitens nichts gewinnen können. […] Ich weiß, dass ihr jetzt mit den Aufräumarbeiten ein paar heftige Wochen vor Euch habt und wünsche Euch dafür viel Kraft und gute Nerven. Ihr wisst, dass ich an Euch denke…[…]
Feiern wir, jetzt erst recht! | Karin Schmidt-Friderichs, Verlegerin und Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Börsenblatt, 12. März
[…] „Machen ist wie Wollen, nur krasser“, schreibt man sich in Kreativkreisen auf Buttons. Die Leipziger Buchmesse hätte in diesen Tagen abermals die Kraft des Machens erlebbar werden lassen. Sie wurde ein Lesefest, das seinesgleichen sucht. Sie wurde zum niederschwelligen Angebot an alle, die Bücher lieben und an die Zukunft des Buches glauben. Sie wurde der Treffpunkt der Leserinnen und Leser mit den Autorinnen und Autoren. Leipzig lockt mit niedrigen Eintrittspreisen junge Menschen. Selten ist – wo es ums Buch geht – das Publikum so jung, so dynamisch, so durchmischt, so identifiziert. Bis in die Kneipen der Stadt. Bis in die Nacht. […] So geht Leseförderung. So geht Leselust. So geht Buchbegeis¬terung. Lesen ist nicht nur der vordergründig private Akt entschleunigter Ich-Zeit, Lesen ist nicht nur Co-Kreation beim Schreiben des Drehbuchs für das Kino im eigenen Kopf, Lesen ist nicht nur Bildung. Lesen ist eine Erweiterung des eigenen Lebensentwurfs. […]
Sonderpreis der Leipziger Buchmesse geht an: die Vernunft | Margarethe Stokowski, Autorin und Kolumnistin, Die Tageszeitung, 3. März
[…] Nun ist die Messe wegen Coronagefahr abgesagt und die Menge gespalten. War es richtig, war es falsch? Meine Meinung: Es ist natürlich wahnsinnig traurig für die Veranstaltungen, die geplant waren, für die Autor:innen und ihre Bücher, die Cosplay-Kids und ihre Kostüme. Und trotzdem richtig und gut und vernünftig. […]
Besonders katastrophal für Debütanten | Constanze Neumann, Chefin des Aufbau-Verlags im Interview mit Spiegel Kultur am 9. März 2020
[…] Besonders katastrophal ist der Ausfall für Debütantinnen und Debütanten. Leipzig bemüht sich besonders um sie; und auch um die osteuropäische Literatur. Aber für jede Autorin, jeden Autor, der nach Leipzig fahren sollte, ist die abgesagte Messe ein Verlust und eine Chance weniger. […]
Die Unruhe der Bücher | Dirk Knipphals, Redakteur, Die Tageszeitung, 15. März
[…] Vielleicht sieht man in dieser Situation, in der sie fehlt, überhaupt erst so richtig, was eine Buchmesse leistet. Es ist weit mehr, als Sichtbarkeit herzustellen für Themen, Autorinnen und Bücher bis weit in die Gesamtgesellschaft hinein. Es geht auch um etwas Prinzipielles: Die deutschen Buchmessen machen nämlich anschaulich deutlich, dass es keineswegs ein Rückzug ist, wenn man liest. Vielmehr steht man als Leserin und Leser mittendrin in den gesellschaftlichen Debatten und symbolischen Verschiebungen, die mit diesen Debatten einhergehen. Gerade in Deutschland mit seinen Innerlichkeitsfantasien rund ums Lesen sind solche Diskursmaschinen wie die Buchmessen eigentlich unverzichtbar, denn sie arbeiten gegen die romantisierenden Klischees an, die in der deutschen Buchbranche so gerne über das Lesen verbreitet werden. […]
Eine Generation umspannt üblicherweise drei Jahrzehnte. Nun, da das Jahr 1989 historisch gealtert ist, ist es vielleicht sinnvoll, noch einmal auf die Positionen und Erinnerungen zurückzublicken, die seine Jugendzeit prägten. Erstaunlich ist, dass diese drei Jahrzehnte keine aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen darstellen, sondern drei separate Zeitabschnitte, die von unterschiedlichen Interpretationen und Erinnerungen bestimmt sind.
Das erste Jahrzehnt nach 1989 wurde von der Frage beherrscht, ob das, was da stattgefunden hatte, tatsächlich eine Revolution war. Bemerkenswerterweise wurde nur in Rumänien sofort der Begriff der Revolution verwendet, da das Jahr 1989 dort von Gewalt gekennzeichnet war, doch selbst das wurde infrage gestellt. Die euphemistische bulgarische Bezeichnung die Veränderungen oder der Deutsche Begriff der Wende legen nahe, dass die unmittelbaren Erwartungen nicht so sehr auf eine drastische Veränderung, sondern auf eine allmähliche Verbesserung, vor allem der Wirtschaft, gerichtet waren. „Refolution“ war da das treffende Oxymoron. Tatsächlich war es aber – ob nun samten oder nicht – eine radikale Revolution. Mit dem Ende des Jahrzehnts war der sogenannte „Übergang“ offiziell abgeschlossen. In ganz Osteuropa war er eigentlich mit dem Ende des Privatisierungsprozesses und der Legitimation der neuen Eigentumsklasse vorbei. Das Jahrzehnt nach 1989 brachte eine tiefgreifende Umwälzung der früheren Ordnung mit drastischen, ja revolutionären Veränderungen des Güterstands und der sozialen Struktur. Es war das Jahrzehnt des „Endes der Geschichte“.
Das zweite Jahrzehnt musste sich mit dem Preis für diese Revolution auseinandersetzen. Man konnte beobachten, wie sich ein Phänomen ausbreitete, das unter dem Oberbegriff der „postkommunistischen Nostalgie“ bekannt wurde. Die Nostalgie kam zu einer Zeit, in der Versuche, den Sozialismus aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben, nicht mehr tragfähig waren. Die Nostalgie wurde zum Ventil für Gesellschafts- und Kulturkritik sowie (die) für eine Sehnsucht nach Stabilität, und sie diente der sogenannten „verlorenen Generation“ gleichzeitig dazu, die eigene Würde zu wahren. Auf der anderen Seite ignorierte dieses Konzept nicht nur die Not der Entrechteten, sondern die Kommerzialisierung der Nostalgie trug auch zu einer Etablierung des neoliberalen Kapitalismus bei. In der Wissenschaft fielen die Erwartungen, die man in die Theorie vom Totalitarismus gesetzt hatte, bei empirischer Überprüfung praktisch in sich zusammen, es geht aber viel eher um Aporien, Antinomien und Paradoxien als um die starren Konturen einer Regimestruktur.
Nach dem Finanzcrash von 2008 und der globalen Rezession brach im letzten Jahrzehnt der neoliberale Sozialpakt auseinander. Die Debatten über Nostalgie sind inzwischen anachronistisch. Immer weniger Menschen haben unmittelbare Erinnerungen an den Kommunismus, und die Inseln positiver Erinnerungen – unter den Älteren und Ärmeren – werden immer kleiner oder verschwinden ganz. Diese Zeit brachte soziale Unruhen mit sich, die sich gegen die Korruption der politischen Klasse, die Arroganz der Neureichen und die bittere Armut richteten – eigentlich ein globales Phänomen, das sich nicht auf die Region beschränkte. Der Status osteuropäischer Länder als solche zweiter Klasse innerhalb der immer noch begehrten Europäischen Union führte dort zum Aufstieg des Nationalismus und „illiberal-demokratischer“ Regime, die von Kritikern unter dem bedeutungslosen Begriff des „Populismus“ zusammengefasst wurden. Aber auch hier gilt, dass die Auseinandersetzung mit der Hybris des Neoliberalismus kein osteuropäisches Monopol ist.
Zugegebenermaßen ist das historische Gedächtnis nie universell, und bei einer richtigen Analyse kommt es darauf an zu untersuchen, wer erinnert und was erinnert wird. Es liegt mir fern, mich in die Erinnerungskriege zu stürzen, die hauptsächlich geführt werden, weil man allen eine universelle Zwangserinnerung aufdrängen will. Und falls meine Analyse (und meine Erinnerung) allzu düster erscheint, möchte ich eine positive Errungenschaft von 1989 hinzufügen, von der ich persönlich profitiert habe: die Emanzipation der Intellektuellen. Sie waren befreit von der Angst, von den Unterdrückungsmechanismen eines willkürlichen Regimes; sie hatten die Freiheit zu reisen und ungehindert durch Vorschriften ihre Ambitionen zu verfolgen. Doch Emanzipation ist ein kniffliger Begriff. Die Intellektuellen wurden auch von ihrer erhabenen Rolle als Wächter*innen der Kultur entbunden, sie sind randständig und bedeutungslos geworden. Ich erinnere mich, wie ich erstmals in die USA kam und Kolleg*innen an den Universitäten sagten: „Zumindest hatten Sie eine gewisse Bedeutung, wir sind hier völlig irrelevant.“ Manchmal gibt einem diese Bedeutungslosigkeit die begehrte Ruhe, und ich habe sie eine Zeit lang genossen, aber sie hat enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Kultur – Sprache, Literatur, Kunst und Bildung – in Strukturen eingebettet ist, um sie zu Geld zu machen. Es mag immerhin ein Trost sein, dass die Intellektuellen in Osteuropa mit ihrem Lamento nicht mehr auf ihre Region beschränkt sind. Ihr Lamento ist globalisiert.
Die Bundeszentrale für politische Bildung lädt zur Leipziger Buchmesse vom 12. bis 15. März 2020 zum Mitdenken und -reden in vier Programmen zur internationalen und nationalen Demokratieförderung ein. In Kooperation mit der Leipziger Buchmesse veranstaltet die bpb den dreijährigen Programmschwerpunkt „The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“ – in diesem Jahr mit dem Fokus auf dem Baltikum, Rumänien und Bulgarien. Die bpb unterstützt zudem die Vorstellung des Preisträgers des „Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung“ und führt im Bildungsbereich der Buchmesse „Leipzig diskutiert“ und „Leipzig streamt“ durch.
Im Mittelpunkt des Programmschwerpunkts „The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“ steht die Frage, wie sich die Staaten und Gesellschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa seit den Umbrüchen in den Jahren 1989-1991 entwickelt haben. Der Programmschwerpunkt findet vom 12. bis zum 14. März im Café Europa (Halle 4) und am Abend des 12. März in der Schaubühne Lindenfels statt. In elf Veranstaltungen kommen Autor*innen, Aktivist*innen und Expert*innen aus Estland, Lettland, Litauen, Deutschland, Großbritannien, Rumänien, Bulgarien und den USA mit dem Publikum ins Gespräch. „Imagining Future“ – zum Abschluss der zweiten Ausgabe des Programmschwerpunkts spricht die bulgarische Historikerin Maria Todorova gemeinsam mit Moderator Lothar Müller am 14. März, 16 Uhr, im Café Europa, darüber, wie wir mit den historischen Lasten und gegenwärtiger Entdemokratisierung die Zukunft in Europa gestalten können. Alle Veranstaltungen werden in Deutsch und Englisch mit simultaner Übersetzung angeboten.
Wer kommt nach Leipzig – und wie haben Sie die Expertinnen und Experten gefunden?
Claudia Amthor-Croft: Wir haben diese Reise durch die Goethe-Institute vor Ort in den zehn südosteuropäischen TRADUKI-Ländern ausgeschrieben. Gesucht wurde pro Land ein*e Vertreter*in der jeweiligen Literaturszene. Dazu wurde eine Jury aus den Partnerinstitutionen gebildet, in der Kolleg*innen der Leipziger Buchmesse, der S. Fischer Stiftung, des Auswärtigen Amts und des Goethe-Instituts saßen.
Hannah Brennhäußer: Eingeladen sind nun unterschiedliche Vertreter*innen der Literaturbranche (fünf Frauen, fünf Männer) mit einem breiten beruflichen Hintergrund: Autor*innen, Übersetzer*innen und Verlagsmitarbeiter*innen, zum Teil aus dem Foreign-Rights-Gebiet, zum Teil aus der Programmarbeit; aber auch Verleger*innen von kleinen Independent-Verlagen. Dazu auch Literaturvermittler*innen, die Festivals oder Veranstaltungen organisieren. Also sehr viel Know-how aus dem aktuellen Literaturbetrieb dieser Länder. Das besondere an den Teilnehmer*innen ist, dass die meisten gleich mehrere Funktionen innehaben und sehr gut in den jeweiligen Szenen vernetzt sind.
Was sind die Ziele dieses Programms?
Amthor-Croft: Wir möchten, dass sich die Teilnehmer*innen der Reise persönlich kennenlernen und die Gelegenheit erhalten, sich direkt auszutauschen. Natürlich sind die offiziellen Netzwerke wichtig, aber es geht nichts über individuelle, vertrauensvolle Kontakte. Wir möchten damit einen Grundstein legen für mittel- und längerfristige zukünftige Zusammenarbeit – innerhalb dieser Länder, und natürlich auch mit den deutschsprachigen Ländern. Sie sehen: Netzwerkarbeit in alle Richtungen!
Was haben Sie vom 11. bis 14. März vor?
Brennhäußer: Das Programm beginnt mit der offiziellen Buchmessen-Eröffnung im Gewandhaus. Anschließend wird es zwei Schwerpunkte geben: Am Donnerstag und Freitag werden sich die Teilnehmer*innen auf der Messe aufhalten. Der erste Tag wird die Aktivitäten der Leipziger Buchmesse mit einer ganzen Reihe von Veranstaltungen und thematischen Rundgängen in den Mittelpunkt rücken. Auch an der offiziellen Eröffnung des Common-Ground-Programms am Donnerstag (12.00 Uhr, Schwerpunktregion 2020-2022: Common Ground. Literatur aus Südosteuropa – Common Ground TRADUKI Forum, Halle 4, D507) werden unsere Gäste teilnehmen. Am Messefreitag stehen der deutschsprachige Buchmarkt und die Literaturvermittlung in und aus den deutschsprachigen Ländern auf der Agenda. Daneben liegt der Fokus auch auf deutschsprachiger Literatur, die sich für Übersetzungen nach Südosteuropa anbietet. Hier wird es ein Speed Dating mit deutschsprachigen Verlagen geben. Dabei wird man individuell und gegenseitig ausloten können, welche Titel für den jeweiligen Gesprächspartner*innen spannend sein könnten.
Gibt es ein kulturelles Rahmenprogramm?
Brennhäußer: Am Donnerstagabend besuchen wir mit unseren Gästen im Kaiserbad in Leipzig-Plagwitz die Veranstaltung „Zugezogen. Feminin“ mit fünf Autorinnen aus fünf Ländern – oder entdecken spannende junge deutsche Autor*innen bei der „Langen Leipziger Lesenacht“ in der Moritzbastei. Am Freitagabend sind wir im Literaturhaus Leipzig bei „Die guten Tage“, einem „Casinoabend“ mit Drago Jančar und weiteren Autor*innen. Es sind zweieinhalb sehr, sehr vollgepackte Tage.
Amthor-Croft: Für uns ist einerseits die Vermittlung der deutschsprachigen Literatur in die südosteuropäischen Länder wichtig. Aber selbstverständlich braucht es auch den Literatur-Transfer aus den TRADUKI-Ländern, so wie auch der Austausch der Länder untereinander gefördert werden soll. Es ist ein Dreiklang im besten Sinn des Wortes.
Heute spricht man allenthalben von „Nachhaltigkeit“, auch Netzwerke müssen gepflegt werden. Wie geht es weiter?
Amthor-Croft: Nachhaltigkeit ist auch für das Goethe-Institut ein Schwerpunkt bei der Planung und Durchführung der kulturellen Programme. Wir werden die Reise im Nachgang mit unseren Partnerinstitutionen evaluieren und uns dann überlegen, wie wir das Projekt fortsetzen. In gewisser Weise ist die Buchmesse ein Zukunfts-Labor, in dem sich viele kreative Ideen ausprobieren lassen.
Claudia Amthor-Croft studierte in Münster, Paris und Köln Romanistik, Geschichte und vergleichende Literaturwissenschaft. Sie arbeitet seit 1988 am Goethe-Institut und war im Ausland in der kulturellen Programmarbeit in Sao Paulo, Mailand, Wellington, Paris und London tätig und leitet nun in der Zentrale des Goethe-Instituts in München den Bereich Literatur und Übersetzungsförderung.
Hannah Brennhäußer hat nach ihrem Studium der Interkulturellen Germanistik und der Medienwissenschaft an den Universitäten Tübingen, Bayreuth und Niterói für das Goethe-Institut in Rio de Janeiro, Berlin und München gearbeitet. Seit 2018 ist sie als Projektleitung für verschiedene literarische Sonderprojekte im Bereich Literatur und Übersetzungsförderung zuständig, so auch für das Einladungsprogramm zur Leipziger Buchmesse 2020.
Dass die Leipziger Buchmesse ein ausgezeichneter Ort für Gespräche über politische und mentale Grenzen hinweg ist, gilt mittlerweile fast schon als Gemeinplatz. Das Netzwerk Traduki, 2008 am Rande der Leipziger Buchmesse gegründet, steht exemplarisch dafür. Seit 2010 sind Sie mit eigenem Stand und einem sich entwickelnden literarischen Programm präsent, nun kooperieren erstmals alle Länder Südosteuropas auf der Basis der Literatur. Was ist die neue Qualität von „Common Ground“?
Antje Contius: Unter diesem Motto stellen ab diesem Jahr zehn Länder Südosteuropas erstmals gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse ihre Literatur, ihre Autorinnen und Autoren vor. Wir haben uns entschlossen, einen „Common Ground“ auch ganz physisch als Gemeinschaftsstand zu bauen. Dort werden nicht nur die acht südosteuropäischen Länder präsent sein, die schon bei Traduki Mitglieder sind – Albanien, Bulgarien, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Rumänien, Serbien und Slowenien – sondern darüber hinaus auch Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Wir wollen die vielgestaltige Literaturlandschaft Südosteuropas in Leipzig abbilden – und damit auch die Länder, in denen Traduki jenseits von Mitgliedschaften aktiv ist. Der deutschsprachige Raum, aus dem die Initiative zur Gründung von Traduki kam, ist natürlich auch am Stand vertreten.
Apropos Stand – was erwartet uns da?
Hana Stojić: Zunächst eine erfrischende Vielfalt. Das Stand-Design hat – zu unserer großen Freude – Bojana Marković, eine junge Architektin aus Belgrad, entwickelt, die auch den mehrfach ausgezeichneten Stand des von Traduki initiierten Programms „Vier Länder eine Sprache“ der vier deutschsprachigen Länder auf der Belgrader Buchmesse 2017 verantwortete. Die Grafik für den Stand und unsere Programmbroschüre stammt von einer jungen Slowenin, Lea Zupančič. Wenn Sie jetzt noch hören, dass Marija Katalinić, die unsere schon ab 2. März im UT Connewitz laufende Balkan Film Week kuratiert, aus dem kroatischen Rijeka stammt, ich selbst in Sarajevo aufgewachsene Bosnierin bin – dann merken Sie, dass wir schon in der Vorbereitung von „Common Ground“ sehr grenzüberschreitend aufgestellt sind.
„Common Ground“ möchte das Verbindende in den Vordergrund stellen, unabhängig von historischen oder aktuellen Konflikten. Wie ist es Ihnen gelungen, alle Partner unter einen Hut zu bekommen?
Contius: Für die Vorbereitung spielt die Existenz von Traduki eine wichtige Rolle: In der gemeinsamen Arbeit hat sich da über Jahre eine wirkliche Gemeinschaft geformt. Das schafft Vertrauen. Wir können uns, ohne dass sich jemand verbiegen müsste, aufeinander verlassen. So sind Dinge möglich, die für gewöhnlich nicht funktionieren, etwa ein gemeinsamer Auftritt des kosovarischen Botschafters mit dem früheren serbischen Botschafter in Österreich – auf einer Bühne! Traduki ist ein multilaterales privat-öffentliches Miteinander, die S. Fischer Stiftung, bei der die Fäden zusammenlaufen und die die Geschäftsstelle des Netzwerkes innehat, ist eine private Stiftung – und damit unabhängig und flexibel.
Sie machen manches möglich, was auf klassischem diplomatischen Parkett schwieriger wäre?
Contius: Genau. Über unser umfangreiches Residenz-Programm in zehn südosteuropäischen Städten können wir es zum Beispiel organisieren, dass kosovarische Autoren in Belgrad, serbische Autoren in Pristina, Bosnier in Bukarest arbeiten, dass einfach Bewegung in diese Gegend kommt. Und dass es normal wird, dass man sich begegnet. Es gibt ja in vielen der Länder ein historisches Gepäck mit einer pikanten Mischung aus Totalitarismus, Kommunismus und Isolation. Das aufzubrechen, ist immer auch ein Stück weit Abenteuer.
Die Schwerpunktregion ist auf drei Jahre, bis 2022 angesetzt. Was wollen Sie mit „Common Ground“ erreichen?
Contius: Wir haben seit 2008 die Übersetzung von mehr als 1.000 Büchern gefördert. Den Löwenanteil machen Titel aus der deutschsprachigen Literatur aus, und auch der Transfer zwischen den südosteuropäischen Literaturen ist sehr erfolgreich. Dagegen fallen die mehr als 100 Übersetzungen aus den Sprachen Südosteuropas in Deutsche etwas ab – und natürlich würden wir uns freuen, wenn noch mehr Übersetzungen von großartigen Autoren auf Deutsch erscheinen würden! Ein weiteres wichtiges Anliegen ist es, diese Weltgegend Südosteuropa – nennen wir sie Balkan, nennen wir sie West-Balkan, wie auch immer – aus einer gewissen, mit Vorurteilen und Klischees behafteten Nische herauszuholen. Es ist ein Teil Europas, in dem trotz der immer wieder von Kriegen und Vertreibung gezeichneten Geschichte über mehrere Generationen hinweg ein ganz normales pulsierendes kulturelles Leben ist. Es lohnt sich, da genauer hinzuschauen! Wir würden uns freuen, wenn der Funke von Leipzig weiter zünden könnte. Gleichzeitig wissen wir, dass das Zeit brauchen wird. Wir sind alle Marathonläufer hier im Team, keine Sprinter (lacht).
In diesem Jahr lautet das Thema „Herkunft und Zugehörigkeit“. Was erwartet uns im Programm?
Stojić: Es wird auf dem Messegelände und in der Stadt rund 20 Veranstaltungen mit mehr als 50 Autorinnen und Autoren aus allen zehn teilnehmenden Ländern geben; rechnet man Musiker, Moderatoren und Übersetzer dazu, sind es an die 100 Mitwirkende. Ein Großteil von ihnen sind Newcomer, die es in Deutschland noch zu entdecken gilt: Da ist etwa Julijana Adamović, geboren 1969 in der Vojvodina, eine preisgekrönte kroatische Schriftstellerin, die für ihren Roman „Die Wildgänse“ gefeiert wurde. Oder die aus Moldawien stammende, heute in Paris lebende Tatiana Ţîbuleac die für ihren Roman „Der Glasgarten“ 2019 den Literaturpreis der Europäischen Union bekommen hat.
Auf welche großen Namen dürfen wir uns freuen?
Stojić: Daneben kommen natürlich auch längst etablierte Autoren wie die lebenden Klassiker Drago Jančar aus Slowenien oder Mircea Cărtărescu aus Rumänien. Wir denken ja an unser Publikum (lacht) – wer kennt Cărtărescu besser als die Leipziger? Es wird spannende politische Diskussionsrunden im Café Europa geben. Dazu Round Tables zu Themen wie „Kindheit in der Literatur“ und „Sprache als neue Heimat“. Die Auftaktveranstaltung am Messedonnerstag ist, passend zu Traduki, dem literarischen Übersetzen gewidmet: Der bulgarische Autor Georgi Gospodinov, dessen Bücher in mehr als 20 Sprachen übertragen wurden, trifft auf zwei seiner Übersetzer. Und natürlich wird es am Samstagabend unseren Klassiker geben – die Balkannacht im UT Connewitz. Wie immer mit jeder Menge toller Literatur, einem Oscar-nominierten Animationsfilm und heißer Musik vom „Teufelsgeiger“ Félix Lajkó, der mit seinem Trio einen betörenden Mix aus Klassik, Jazz, Punkrock und Klezmer aufs Parkett legen wird. Das sollten Sie nicht verpassen!
Antje Contius geboren 1966, hat seit 2008 die Geschäftsleitung der S. Fischer Stiftung inne. Sie studierte Slawistik in Münster, Freiburg, Frankfurt/Main, Moskau, Warschau und Sofia. Als freie Lektorin war sie für Verlage in Österreich, Deutschland und der Schweiz tätig und besonders für osteuropäische Literaturen engagiert. Diesen Schwerpunkt verfolgte sie auch als Osteuropa- und Nahostreferentin in der Auslandsabteilung der Leipziger Messe und von 1995-1998 als Leiterin dieser Abteilung. 2002 kam sie zur S. Fischer Stiftung.
Hana Stojić, geboren 1982 in Sarajevo, studierte an der Fakultät für Translationswissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als Übersetzerin und Kulturmittlerin. Seit 2008 arbeitet sie für das Projekt Traduki, das sie seit 2014 leitet.
Die Leipziger Buchmesse ist Mitglied des europäischen Netzwerkes für Literatur und Bücher Traduki. An diesem Netzwerk sind Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Kosovo, Kroatien, Liechtenstein, Nordmazedonien, Montenegro, Österreich, Rumänien, die Schweiz, Serbien und Slowenien beteiligt. Aus dem Kreis der Traduki-Mitglieder kam die Initiative für den Auftritt als Schwerpunktregion Südosteuropa, um für mehr Sicht- und Hörbarkeit der literarischen Stimmen Südosteuropas im deutschsprachigen Raum zu sorgen und nachhaltige Strukturen für die Literarturvermittlung in den Ländern aufzubauen. Um letzteres zu unterstützen, laden das Goethe-Institut in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse, dem Auswärtigen Amt sowie der S. Fischer Stiftung zudem zehn Verleger, Übersetzer, Autoren und Organisatoren von Literaturveranstaltungen der Literaturbranche aus Südosteuropa auf die Leipziger Buchmesse 2020 ein.
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