Als Jürgen Schütz 2008 mit ein paar guten Ideen, einem Steuerberater und einem Laptop den Septime Verlag gründete, war der Rüdigerhof, ein Jugendstil-Kaffeehaus im 5. Wiener Bezirk, so etwas wie sein verlängertes Büro. Damals wurde die Oldtimer-Sammlung des gelernten Automechanikers, der es im Außendienst für Renault locker auf 70.000 Reise-Kilometer pro Jahr brachte, zur Anschub-Finanzierung. Dreizehn Jahre später ist der Rüdigerhof, indem man eh nicht mehr rauchen darf, wegen Lockdown geschlossen – und Septime einer jener großartigen Independent-Verlage, die immer wieder tolle Bücher aufstöbern, von denen wir bislang nicht wussten, dass sie uns fehlten. Von Anfang an brachte Schütz neben deutschsprachiger Literatur auch Übersetzungen; anfangs vor allem aus dem lateinamerikanischen Raum.
2013 machte ihn eine Journalistin auf einen der renommiertesten portugiesischen Autoren aufmerksam, der bislang noch nicht für den deutschen Sprachraum erschlossen war: José Luís Peixoto. Dessen Roman „Friedhof der Klaviere“, so Schütz’ Gewährsfrau, würde ideal zu Septime passen. Schütz besorgte sich die bei Bloomsbury erschienene englische Übersetzung („The Piano Cemetry“) und war begeistert: „Sehr experimentell und abgedreht.“ Das einzige, was nun noch fehlte, war die passende Übersetzerin. Nun nahm die Geschichte eine überraschende Wendung: Ilse Dick, die ihm vom Österreichischen Übersetzerverband empfohlen wurde, hatte auf eigene Faust bereits eine Übersetzungs-Probe eines anderen Romans von Peixoto angefertigt, die sie dem überraschten Septime-Verleger Anfang 2014 nun ihrerseits vorschlug. „Der ‚Friedhof der Klaviere’ ist unglaublich komplex“, erklärt Schütz. „Der Roman spielt auf drei Erzählebenen, alle drei Protagonisten heißen Francisco. Was auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Familien-Saga anmutet, sprengt durch Sprachgewalt Peixotos, durch die Aufhebung zeitlicher Grenzen, durch die Verschmelzung der Protagonisten jegliche Vorstellungskraft und lässt aus drei Generationen eine werden.“
So entschloss man sich, 2015 den eingängigeren Roman „Das Haus im Dunkel“ vorzuziehen. 2017 erschien dann „Der Friedhof der Klaviere“. Das Pech des Wiener Verlags: In einem bärenstarken Programm, in dem neben Peixoto auch der Norweger Jan Kjærstad und der Japaner Shusaku Endo (dessen Klassiker „Schweigen“ gerade von Martin Scorsese verfilmt wurde) erschienen, konnte sich der Portugiese nicht in erhoffter Weise durchsetzen. „Mit vier Spitzentiteln aus einem kleinen Verlag“, so Schütz ernüchtert, „waren Buchhandel und Presse überfordert. Wir haben damals viel gelernt. Wenn man viel Geld für eine Übersetzung in die Hand nimmt, kann man sie nicht im Schatten einer anderen teuren Übersetzung stehenlassen.“ Die Lesetour zum „Friedhof der Klaviere“ war gleichwohl großartig, der Autor, der Deutsch studiert hat und sich deshalb ohne Dolmetscher mit dem Publikum verständigen konnte, hatte sich viel Zeit für seine Leserinnen und Leser genommen. „Alle liebten Peixoto“, sagt Schütz lachend. „Für mich ist er einer der kreativsten unserer lebenden Autoren.“
„Jetzt oder nie!“, war sich Schütz sicher, als ihn die Kunde vom Gastlandauftritt Portugals in Leipzig erreichte. Und trat sofort in Verhandlungen über „Galveias“, den neuen Roman von José Luís Peixoto ein. Septime erhielt den Zuschlag, obwohl nun auch deutlich größere Verlage mitboten. Das titelgebende Galveias, das hier zum Mittelpunkt der Romanhandlung wird, ist eine tatsächlich existierende Kleinstadt im portugiesischen Alentejo und gleichzeitig der Geburtsort des Autors. Ausgangspunkt des Romans ist ein für die Dorfgemeinschaft einschneidendes Erlebnis. In einer eisigen Januarnacht rast ein geheimnisvoller Himmelskörper aus dem Universum zielsicher auf Galveias zu, schlägt mit ohrenbetäubendem Krach am Ortsrand ein und verbreitet von da an einen widerlich beißenden Schwefelgestank, der über allem hängt und in alles eindringt. Dieses Ereignis nimmt Peixoto zum Anlass, in den folgenden Kapiteln die einzelnen Bewohner zu porträtieren und ihre oft abgrundtiefen Geschichten zu erzählen. Wer Portugiesisch spricht, und José Luís Peixoto und das reale Galveias etwas besser kennenlernen möchte, sei auf einen spannenden Dokumentarfilm aus einer Serie über die „Erben Saramagos“ hingewiesen – dass er an herausragender Stelle zu ihnen gehört, gilt spätestens seit seiner Auszeichnung mit dem José-Saramago-Literaturpreis im Jahr 2001 als ausgemacht. „Wenn man einen Spitzenautor im Verlag hat, ist ein Gastland-Faktor das Schlagobers“, sagt Jürgen Schütz. Der Verleger freut sich schon jetzt auf den Gastlandauftritt von Portugal 2022. Und drückt die Daumen, dass José Luís Peixoto seinen Roman „Galveias“ schon jetzt im Mai persönlich in Leipzig vorstellen kann.
José Luís Peixoto, geboren 1974, studierte Moderne Sprachen und Literaturen (Englisch und Deutsch) an der Universidade Nova de Lisboa. Er ist Autor von Romanen, Gedichten, Theaterstücken sowie von Reiseliteratur und Kolumnen. Für seine Werke erhielt der portugiesische Autor zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem dem José-Saramago-Literaturpreis (2001). Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Wiener Septime Verlag erschien 2015 sein Roman „Das Haus im Dunkel“, 2017 folgte „Friedhof der Klaviere“. Im Frühjahr 2021 erscheint bei Septime der Roman „Galveias“.
Wie sind Sie durch die verrückten letzten 14 Monate gekommen?
Kat Menschik: Mein Freund und ich und unsere zwei Katzen haben das Jahr gut verbracht. Wir haben ein Häuschen in Dorfrandlage, rund 60 Kilometer von Berlin entfernt. Dazu können wir beide ohne Probleme von zu Hause aus arbeiten. Ein großes Glück, dessen sind wir uns bewusst.
Haben sie trotzdem etwas vermisst?
Menschik: Die Decke ist schön, aber jetzt beginnt sie, mir auf den Kopf zu fallen. Verstehen Sie? Der Input fehlt. Man braucht andere Bilder, andere Eindrücke. Die Freunde fehlen, die Möglichkeit, Kultur zu erleben. Ein wenig träumt man schon wieder vom Reisen: Neulich, an einem total grauen, verregneten Wochenende, haben wir uns ins Auto gesetzt und sind einfach losgefahren. Richtung Rheinsberg und wieder zurück – einfach so, um mal ein paar andere Dörfer zu sehen.
Was hat mehr geholfen – Ihr Garten oder das Lesen?
Menschik: Beides ist wichtig für mich. Der Garten hat natürlich Zeit beansprucht, daneben töpfere und tischlere ich einigermaßen regelmäßig. Aber ich bin tatsächlich wieder mehr zum Lesen gekommen in den letzten Monaten. Zumal ich mir verordnet habe, Netflix einfach mal bleiben zu lassen.
In welche Richtung geht Ihre Leselust? Gehören Sie zu denen, die jetzt endlich mal Prousts „Recherche“ durchgeackert haben?
Menschik: Im Gegenteil. Ich habe mich auf alle neuen Erzählungen und Romane gestürzt, die mir empfohlen wurden.
Wie haben Sie den Nachschub organisiert?
Menschik: Ich habe die Buchhandlungen meines Vertrauens angeschrieben, übergeniallokal. Das Ocelotund Pankebuch, da bestelle ich eigentlich am meisten.
Sie haben gesagt, dass Sie in Corona-Zeiten sehr konzentriert arbeiten konnten. Wie muss man sich Ihren Arbeitsprozess vorstellen?
Menschik: Ich bin sehr diszipliniert; vor 21 Jahren – mit der Geburt meiner Tochter – habe ich mir Nachtarbeit abgewöhnt. Wenn ich für die Zeitung arbeite, bekomme ich einen Anruf, dann wird kurzfristig eine Illustration zu einem ganz speziellen Thema angefragt. Bei den Büchern ist alles etwas anders…
Seit 2016 gestalten Sie für Galiani die Reihe „Lieblingsbücher“…
Menschik: Das ist ein großes Glück, ich weiß gar nicht, ob es das irgendwo auf der Welt noch einmal gibt: Ich kann mir aussuchen, welche literarischen Texte ich illustrieren möchte. Wenn ich mich mit dem Verleger Wolfgang Hörner auf einen Titel geeinigt habe, ist die gestalterische Grundidee das Wichtigste. Beim „Illustrierten Thierleben“ war es die Entscheidung, alle Zeichnungen auf schwarzem Grund auszuführen, dadurch leuchten die Tierfiguren regelrecht. Die Idee hat mit dem Autor zu tun: Da Mark Benecke stark tätowiert ist und nur schwarz trägt, war das auch eine kleine Hommage an ihn. Zwischen den Tieren habe ich immer mal Tattoo-Motive untergebracht… (lacht). Wenn die Grundidee gut ist, trägt sie mich durchs ganze Buch. Allerdings kann es mitunter Wochen dauern, bis der Knoten platzt; dann denke ich beim Joggen oder Autofahren nur noch an Farben oder mögliche Seiten-Aufteilungen.
Wie läuft der technische Arbeitsprozess?
Menschik: Ich lege zunächst fest, an welchen Stellen des Texts Illustrationen platziert werden sollen. Dann zeichne ich mit Feder und Tusche; ich benutze seit vielen Jahren normales Druckerpapier in A4 – dieses Format passt gut unter den Scanner. Dann habe ich die analoge Schwarz-Weiss-Zeichnung im Rechner. Alles, was danach kommt, was Sie in Farbe kennen, ist am Rechner entstanden.
Ich habe gehört, dass Sie für Ihr eben erschienenes „Lieblingsbuch“ Nummer 10, „Durch den wilden Kaukasus“, anders gearbeitet haben als üblich?
Menschik: Ich habe zum ersten Mal gemalt. Die Originale sind richtig groß, Acryl auf Karton, 50 mal 70 Zentimeter.
Wie kam es, dass Sie ihren lang geübten Arbeitsstil hier verändert haben?
Menschik: Zum einen möchten Sie sich, wenn Sie pro Jahr zwei Bücher herausbringen, hin und wieder selbst überraschen, etwas ganz Neues wagen. Dazu kommt, dass wir 2017 und 2019 im Kaukasus wandern waren, das waren ungelogen die schönsten Reisen meines Lebens. Diese Eindrücke, diese Pracht sollten in ein Buch! Ich dachte an alte Farbtafeln aus Lexika, das war diesmal die Grundidee. Und, was soll ich sagen? Es hat irrsinnig Spaß gemacht – und viel länger gedauert, als die bisherigen Bücher. Im Zeichnen bin ich ja recht fix…
Wie lange waren Sie beschäftigt?
Menschik: An den Bildern habe ich sicher ein Jahr gemalt. Dazu gibt es in dem Buch an die 50 vignetten-artig eingestreute Schwarz-Weiß-Zeichnungen, das hat sich auch gezogen. Zum Jahresende war ich fertig.
Gibt es nach dieser fordernden, aber doch weitgehend im Stillen ablaufenden Arbeitsphase nicht eine ungeheure Lust, mit dem Ergebnis nach draußen zu gehen?
Menschik: Das ist natürlich ein Jammer: Die Premiere für das Kaukasus-Buch hätte Mitte Mai stattfinden sollen. Geplant haben wir das Fest vor einem halben Jahr. Na ja, aufgrund der Pandemie-Entwicklung mussten wir absagen. Aber für den im Herbst erscheinenden Band 11, ein neues Buch mit Volker Kutscher, gehen wir wieder auf Los! „Mitte“, so der Titel, ist ein Pendant zum 2017 erschienen Band „Moabit“, der ebenfalls im Gereon-Rath-Kosmos angesiedelt ist Die Buchpremiere wird, das hoffen wir ganz fest, Mitte November sein – im Haus des Rundfunks an der Masurenallee, Hans Poelzig hat das Anfang der Dreißiger errichtet. Über die Arbeit am ersten Buch haben Volker und ich uns angefreundet – und das Schönste ist ja, wenn man Lesungen nicht allein machen muss! Wir sind also zusammen durchs Land gefahren: Ich habe über die Bilder erzählt, er über die Geschichte, dann haben wir gelesen. Und abends an der Hotelbar zusammen den letzten Gin Tonic genommen. Ich hoffe, das kommt wieder!
Kat Menschik ist freie Illustratorin in Berlin, lebt aber auch gern auf dem Land. Seit 2016 gestaltet sie ihre eigene Buchreihe, darunter Bestseller wie „Moabit“ von Volker Kutscher (2017) sowie „Kat Menschiks und des Diplom-Biologen Doctor Rerum Medicinalium Mark Beneckes Illustrirtes Thierleben“ (2020). Gerade ist „Durch den wilden Kaukasus – Geschichten über das Traumland Swanetien“ erschienen, dem das vorliegende Motiv entnommen und bearbeitet wurde.
Eine dokumentarische Sequenz am Beginn von Peter Catteanos Filmkomödie „The Full Monty“ („Ganz oder gar nicht“, 1997) zeigt das nordenglische Sheffield der frühen 70er Jahre als wirtschaftlich potente, blühende Stahlarbeiterstadt. 25 Jahre später – die Stahlwerke rosten vor sich hin, die Industrie ist zu großen Teilen stillgelegt – sieht man Gary „Gaz“ Schoefield und Dave Osborne, zwei der Protagonisten des Films, beim verzweifelten Versuch, Geld zu verdienen, indem sie Stahlträger aus den maroden Werken stehlen. Im Stadtviertel Firth Park, in dem Johny Pitts aufgewachsen ist, verloren durch die neoliberale Politik Margaret Thatchers besonders viele Arbeiter aus früheren Kolonien, aus Afrika, der Karibik oder dem Jemen ihre Jobs. Dieser Teil Sheffields kommt in den offiziellen Darstellungen der Stadt kaum vor; auch Catteanos Filmdebüt zeigt nur die weiße Arbeiterklasse. Pitts’ Community, zu der Jamaikaner, Somalis, Pakistanis oder Inder gehören, wird quasi aus der Geschichte herausgeschnitten. Kein Wunder also, dass Johny Pitts’ große Reise durch das schwarze Europa aus einer existenziellen „Einsamkeit“ heraus entstanden ist, sich über Jahre in einer intellektuellen, kulturellen und geografischen Peripherie vorbereitet hat.
Johny Pitts, geboren 1987 in Sheffield, ist im Stadtviertel Firth Park als Kind eines afroamerikanischen Jazzmusikers und einer weißen Arbeiterin aufgewachsen. Nach seinem College-Abschluss war er zunächst in der Jugendarbeit tätig; im Multiple Heritage Service, einem Pilotprojekt der Stadt Sheffield, betreute er multiethnisch aufwachsende Kinder und Jugendliche an verschiedenen Schulen in Nordengland. In den folgenden Jahren arbeitete Pitts vor allem als Autor und Moderator für Sender wie MTV, Sky One, Discovery Channel und die BBC. 2010 startete Johny Pitts auf Facebook die Seite Afropean Culture, die sich an Menschen mit einer spezifisch schwarzen europäischen Erfahrung wandte und rasch populär wurde. 2013 entwickelte sich daraus das Online-Journal Afropean. Adventures in Black Europe, das noch im selben Jahr von der ENAR Foundation (European Network Against Racism) ausgezeichnet wurde. Die erste größere Ausstellung von Pitts’ fotografischen Arbeiten fand 2020 unter dem Titel „Afropean. Travels in Black Europe“ im AmsterdamerFOAM statt. Sein Buch „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“, 2019 in Großbritannien erschienen, ist in mehrere Sprachen übersetzt und mit dem Jhalak Prize 2020 und dem Bread & Roses Award for Radical Publishing 2020 ausgezeichnet worden. Nun wird Johny Pitts für „Afropäisch“ mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt.
„Johny Pitts ist ein Bricoleur, ein erleuchteter, menschenfreundlicher Bastler im Lévi-Strauss’schen Sinne, einer, dessen Wahrnehmung nicht von Auftrag und Ideologie geprägt ist, einer, der im besten Sinne kontinuierlich an seinem Weltbild bastelt“, heißt es in der Begründung der Jury. „Mit wenig Geld und einem Interrail-Ticket hat er sich aus den industriellen Brachen Nordenglands auf den Weg gemacht, um in den Metropolen Europas jener Lebenserfahrung nachzuspüren, die er gleichsam versuchsweise als ‚afropäisch‘ bezeichnet. Es ist eine Reise in die schwarze Diaspora, eine Reise ins ‚inoffizielle‘ Europa, unter Menschen, deren unsicherer, harter Alltag meist unbemerkt bleibt.“
Die afropäische Erfahrung sei nicht monolithisch, sie sei vielfältig, widersprüchlich und schwer zu greifen, sie sei stets unsichtbar und unklar, ein notdürftig mit Bindestrichen zusammengehaltenes postkoloniales Phänomen. „Johny Pitts‘ Versuch, aus dem Disparaten ein kohärentes Bild zusammenzusetzen, ist eine von Hoffnung und Melancholie getragene Bricolage. Der Blick, mit dem er die Menschen und ihre Lebensgeschichten aufnimmt, macht sie sichtbar und schenkt ihnen Würde. ‚Afropäisch‘ ist ein großes, auf fruchtbare Weise unfertiges Werk, das sein Autor, so ist es zu hoffen, fortsetzen wird. Es wäre uns allen, und Europa, zu wünschen“, schreibt die Jury weiter.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung wird am 26. Mai um 19 Uhr in der Nikolaikirche verliehen. Eine Besonderheit des Abends ist neben der Wahl des Veranstaltungsortes die Ehrung gleich zweier Preisträger: Neben Johny Pitts wird nachträglich auch László F. Földényi, Preisträger des Jahres 2020, ausgezeichnet. Die Laudatio hält die Lektorin, Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge. Um ein trotz anhaltender Pandemie ein möglichst breites Publikum zu erreichen, wird die Veranstaltung live im Internet unter www.leipziger-buchmesse.de übertragen.
Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
Aus dem Portugiesischen, Spanischen und Katalanischen hat Frank Henseleit, Jahrgang 1964, unter anderem Fernando Pessoa, Jorge Luis Borges und Ernesto Sábato übersetzt. 2019 gründete er in Köln den Kupido Literaturverlag; im Corona-Jahr kamen die ersten Bücher. Was hat ihn dazu gebracht, mit Mitte 50 noch einmal die Schreibtischseite zu wechseln? Vor allem wohl der Umstand, dass sich für das großangelegte „iberische Panorama“, das ihm vorschwebt, kein verlegerischer Hafen finden wollte. „Ich habe in den letzten Jahrzehnten so viele literarische Projekte pflückreif vorbereitet, dass es mich immer stärker drängte, das endlich umzusetzen.“ Beispielhaft dafür stehen zwei großangelegte Werkausgaben: Die des Spaniers Manuel Chavez Nogales soll es auf 11 Bände bringen, chronologisch angelegt von 1928 bis 1944. Im Frühjahr 2022 wird der Briefwechsel des Bohème-Dichters Mário de Sá-Carnairo mit Fernando Pessoa eine neunbändige Sá-Carnairo-Ausgabe eröffnen. Dieser spannende Briefwechsel lag bereits im Vorfeld des portugiesischen Gastland-Auftritts in Frankfurt 1997 bei renommierten deutschsprachigen Verlagen wie Hanser oder Wagenbach – allein, die Zeit war wohl noch nicht reif. Nun hat Frank Henseleit den aufwändigen Band selbst gestemmt und noch einmal um ein Jahr verschoben – um ihm im Rahmen des Leipziger Portugal-Auftritts „Unerwartete Begegnungen“ die ihm gebührende Beachtung zu sichern.
Der todessehnsüchtige Mário de Sá-Carneiro, 1890 in Lissabon geboren und 1916 durch Selbstmord aus dem Leben geschieden, war Dramatiker und Prosaist, zu dichten begann er erst unter dem Einfluss seines Freundes Pessoa in Paris. Nach dem für die Werkausgabe wichtigen Briefwechsel wird man die portugiesische Literaturgeschichte nicht neu schreiben müssen. Doch auch der große Nationaldichter erscheint hier in neuer Akzentuierung: „Wären die Briefe Pessoas an Mário de Sá-Carneiro erhalten und zusammen mit denen von Sá-Carneiro an Pessoa herausgegeben worden, wäre auch die Agenda der Entdeckung Pessoas als großer Dichter Portugals eine andere gewesen“, ist Henseleit überzeugt. Sá-Carneiro jedenfalls winkte schon mal mit dem Zaunpfahl in Richtung Nachwelt, wenn er im Juli 1914 an Pessoa schreibt: „Sie haben ja so recht; die sensationelle literarische Neuigkeit im Jahr 1970, das Erscheinen des unveröffentlichten Briefwechsels zwischen Fernando Pessoa und Mário de Sá-Carneiro – herausgegeben und kommentiert von … (Rauschen im Mysterium!)“
Da trifft es sich gut, dass Übersetzer Henseleit mit dem für Mai geplanten Erzählband „In Evaristos Apotheke“ noch drei Preziosen von Pessoa selbst ausgegraben hat. Die Titelerzählung und „Die Stunde des Teufels“, zwei Extreme zwischen Tagespolitik und Religion, werden von einer späten Version des „Bankiers als Anarchist“ aus dem Jahr 1935 zusammengehalten, Pessoas letztem Lebensjahr. „Ich habe das nicht nur deshalb herausgesucht, weil es ein interessantes Zeitdokument ist“, erklärt Henseleit. „Es ist auch gleichsam ein Kommentar zu unserer Gegenwart, wo die Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte zumindest diskutiert wird.“
Und wie schätzt der Verleger Frank Henseleit die aktuelle Präsenz portugiesischer Literatur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ein, fast 25 Jahre nach der Ehrengast-Präsenz in Frankfurt und mit Blick auf den pandemiebedingt nach 2022 verschobenen Gastlandauftritt zur Leipziger Buchmesse? Fernando Pessoas spät entdecktes Meisterwerk „Buch der Unruhe“, 1985 zuerst auf Deutsch erschienen, gehört längst zur Weltliteratur und ist in aller Munde – ebenso wie José Saramago, der 1998 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. „Wir haben jetzt die Chance, eine neue Schriftstellergeneration zu entdecken, die sich vom Mythos der ganz Großen – Fernando Pessoa, José Saramago, António Lobo Antunes – befreit hat.“ Gonçalo M. Tavares, 1970 als Sohn eines Bauarbeiters in Angola geboren, gilt – spätestens nach der Ehrung mit dem José Saramago Preis im Jahr 2005 – als eine der großen Überraschungen der jüngeren portugiesischen Literatur. Mit seinem zehnbändigen Zyklus „Das Viertel“ hat Gonçalo M. Tavares ein einzigartiges Werk in Form eines literarischen Chiado erschaffen, den er sukzessive mit illustren Persönlichkeiten bevölkert hat. In der Edition Korrespondenzenkonnten deutschsprachige Leser bisher die Bekanntschaft mit den Herren Brecht, Valéry, Juarroz, Henri und Kraus machen – jeder von ihnen ist der Bewohner eines eigenen kleinen Buches. Für seine Reihe mit Reiseberichten, die unter dem Label „Travelogue“ erscheint, macht uns Henseleit mit einer anderen Facette von Tavares bekannt: 2016 war der Portugiese mit seinem Begleiter, Jonathan, zu einer Entdeckungsfahrt in die USA aufgebrochen – mit einem naiv gemalten Porträt von Franz Kafka im Gepäck. „In Amerika, sagte Jonathan“ ist eine schräge Parabel auf das Land aller Verschollenen, dass man, wie der Verleger in seiner Vorschau schreibt, „am besten über Cape Canaveral verlässt“.
Obwohl Henseleit sein Startprogramm wegen Corona umstellen musste, glückte ihm letztes Jahr gleich ein Überraschungs-Coup: Jaime Begazos experimenteller Kurzroman „Die Zeugen“ brachte es auf die „Weltempfänger“-Bestenliste von Litprom. Dass die Barsortimente seine vom Feuilleton gefeierten ersten Bücher anfangs nicht listeten, ärgerte den Neu-Verleger; seine Auslieferung LKG sprang mit dem Online-Marktplatz buchwasgutes.de immerhin in die Bresche. Eigentlich wollte Frank Henseleit in seinem zum Verlagsatelier umgebauten Ladenlokal in der Kölner Südstadt Veranstaltungen präsentieren. Corona bremste diese Pläne ebenso aus wie die Agenda zur inzwischen pandemiebedingt abgesagten Leipziger Buchmesse. Für Leipzig hatte Henseleit mit seiner Übersetzer-Kollegin Monika Lustig-van Diesen von der Edition Converso bereits einen kleinen Doppelstand gebucht. Wer, wie diese beiden Mittelmeer-Aficionados, die Wirklichkeit des Übersetzerberufs aus dem Effeff kennt, kann womöglich ein fairerer Verleger sein. Dass die nur ein Jahr vor Kupido gegründete Edition Converso nun den Förderpreis zum Kurt Wolff Preis erhält, begreift Verleger Frank Henseleit auch als Ansport für die eigene Arbeit: Nur unter guten Rahmenbedingungen, davon ist er überzeugt, kann literarische Arbeit auch zu guten Ergebnissen führen.
Fotos: Michael Bause (Porträt Frank Henseleit), Kupido Literaturverlag
Ist es ein schicksalhafter Zufall, dass die Zeilen aus Heinrich Heines „Nachtgedanken“ („Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht“) zu den ersten Erinnerungen gehören, die László Földényi mit Deutschland verbinden? Mitte der Sechziger, als Junge von zehn, zwölf Jahren, so schildert er es in seiner Dankrede zum Friedrich-Gundolf-Preis („Deutschland – so nah, so fern“), musste er es Woche für Woche einer älteren, aus Siebenbürgen stammenden Dame vorlesen. In den stillen Mittwochnachmittagen der Kindheit verspürt er eine rätselhafte Rührung – und so begegnet ihm zum ersten Mal die deutsche Kultur. Das „Gerührtsein durch das Rätselhafte“ – diese Erfahrung hat Földényi seither nicht mehr verlassen: „Es hat sich vielmehr vertieft, eine größere Allgemeingültigkeit erlangt. Und es erregt mich noch immer. Dabei handelt es sich nicht einfach um intellektuelle Neugierde, sondern vielmehr um das Erlebnis, dass diese eigenartige, für einen Fremden vielleicht nie ganz lösbare Rätselhaftigkeit der deutschen Kultur einen schwindelig machen, verführen kann.“
Der Blick des Ungarn László Földényi auf die deutsche Kultur ist also ein besonderer, stark subjektiv geprägter. Földényi, ein, wenn man so will, „melancholischer Metaphysiker“, dem die beschränkte Ideenwelt des von János Kádár regierten Ungarn kaum geistige Nahrung bot, fand bei den Deutschen das, was er eine seltene „Sensibilität für die Transzendenz“ nennt, idealtypisch verkörpert in Figuren wie Caspar David Friedrich oder Heinrich von Kleist. Das Thema der Melancholie beschäftigt Földényi dabei seit Jahrzehnten. Mit „Melancholie“, von Axel Matthes noch in München verlegt, erschien bereits 1988 eine historische Studie zum Bedeutungswandel des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. In den Jahren darauf hat László Földényi die Fäden der melancholischen Geistesverfassung und Wahrnehmung stets weiterverfolgt: In seinen großen Studien über Caspar David Friedrich (1993), über Goya (1994) und über Heinrich von Kleist (1999).
Földényi, der „Seismograph des Krisenhaften“ (Ilma Rakusa), interessiert sich für „Die Nachtseite der Malerei“ (so der Untertitel des Buchs über Friedrich), für den „Abgrund der Seele“ (so der Titel des Goya-Buchs), und bei Kleist für die unerträgliche Spannung zwischen Seinsbejahung und Seinsverneinung, die sich schließlich negativ entlud. Hinter solch obsessiver Recherche, so Ilma Rakusa, die Laudatorin zum nach Friedrich Gundolf benannten Preis für die Vermittung deutscher Kultur im Ausland, steckt mehr als nur Forschungsinteresse: „Földényi ist stets auch sich selber auf der Spur, als ein unentwegt Suchender und Fragender, als ein Essayist im besten Sinne des Wortes… Földényis Ideologieresistenz lässt sich unschwer als Reaktion auf das kommunistisch indoktrinierte Leben in Ungarn deuten, die Ungeschütztheit jedoch, mit der er seine Studien betreibt, die in summa als ungeschriebene Autobiographie gelesen werden könnten, zeugt von einem existenziellen Ernst, der immer aufs Neue beeindruckt und berührt.“
Fast drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seiner klassisch gewordenen Studie kehrt László Földényi mit „Lob der Melancholie“ zu seinem Lebensthema zurück. Er zeigt, wie sich im Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter unsere Wahrnehmung auf allen Gebieten des täglichen Lebens radikal verändert – und stellt die Frage, welche Bedeutung Melancholie in der heutigen Vergnügungsgesellschaft noch haben kann. „Melancholie“, so Földényi, „erinnert an die Unzuverlässigkeit der Gefühle und an die Vergeblichkeit sogenannten letzten Wissens – und daran, auf zerbrechlichen und wackligen Säulen steht.“ Aus diesem Paradox schöpfen vor allem Künstler ihre Themen. In seinen Streifzügen durch Bildende Kunst, Literatur, Film und Architektur zeigt der Autor, dass große Kunst fast immer aus der Spannung um das Nicht-Wissen, Nicht-Sehen und Nicht-Erklären-Können entsteht. Vom rätselhaften Polyeder in Albrecht Dürers „Melancholia“-Stich bis zu Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, von Francis Bacon bis zu Anselm Kiefer, von Peter Zumthors Bruder-Klaus-Feldkapelle bis zum Kölner Dom, von der skizzenhaften Alltagsbeobachtung bis zu Momenten tiefster Versunkenheit in die Natur reicht der Kosmos dieses „wilden Abenteuerbuch des Geistes“ (Darmstädter Jury Buch des Monats, Juli 2019).
Földényi betrachtet das Verhältnis von menschlicher Sehnsucht nach Erlösung und der rationalen Entzauberung der Welt. Die Melancholie offenbart er uns dabei in einer wunderbaren Paradoxie als produktiven Zustand, als zutiefst lebensbejahende Haltung zu einer Welt, die nicht von Vornherein von Gewissheit erfüllt ist. In einem Interview wurde László Földényi einmal gefragt, ob es womöglich die Melancholie sei, die seinen Erkenntnisbemühungen die notwendige Schärfe verleihe? „Ich habe schon so viel über Melancholie geschrieben, dass ich selbst gar nicht definieren könnte, was Melancholie sei“, antwortete Földényi. „Aber ob ich ein Melancholiker bin, könnte ich nicht sagen – wenn nur dieses Zögern selbst nicht schon ein Zeichen der Melancholie ist.“
Foto: imago / gezett
László F. Földényi, 1952 in Debrecen (Ungarn) geboren, ist Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Essayist. Er zählt zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Er ist Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und unter anderem Träger des Friedrich-Gundolf-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der er seit 2009 angehört. Für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ (Matthes & Seitz Berlin) wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2020 ausgezeichnet. Im Mai 2021 erscheint „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“ bei Matthes & Seitz Berlin.
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