Buchmesse, Leipzig

Buchmesse, Leipzig

Buchmesse, Leipzig

Nach anderthalb Tagen hatte ich das Gefühl,
als würde mir SpongeBob den Mund verstopfen,
und meine Stiefel passten zwar zu meiner Eitelkeit,
aber eigentlich besser ins Marlboro Country.

Als ich mir hinten in der Lobby des Hotels
Pflaster auf die großen Zehen klebte,
roch es auf einmal nach Pferdemist,
und ein ostdeutscher Autor, der mich ertappte,

lachte so laut, dass sich die Frau an der Rezeption
vor Schreck mit dem Stift in den Finger stach
(Schreiben tut weh). „Lieber Mann“, zischte ich,
„wir sind als Autoren zwar nett zueinander,

aber Wadenbeißer sind wir trotzdem.“ Die Verlage
schenkten allerdings Sekt aus, und deshalb
war man schon gegen Mittag so heiter
dass der Smalltalk perlte wie Schaumwein.

Alle waren innig miteinander verbrüdert
und verschwanden kurz mal irgendwohin,
um ihre Frauen oder Männer zu betrügen,
je nachdem, denn das Leben ist kurz,

und deshalb ist Abwechslung angeraten.
Vermutlich wurden viele Romane gezeugt,
doch ich erlebte ihre Geburt nicht mehr mit,
weil ich mit wunden Füßen in den Zug stieg.

Im Bordbistro saß ein Verlagsleiter,
dem auf der Messe alle Haare ausgefallen waren.
Er öffnete sein Bier mit dem Feuerzeug, und ich
schwor meinen Cowboystiefeln ab – für immer.

Dieser Text entstand 2007. Damals schlug ich in vielen Gedichten einen Ton an, den Karl Krolow wohl als „Parlando“ bezeichnet hätte – vergleichsweise leichtfüßig und plaudernd, selbstironisch oder wenigstens augenzwinkernd, ohne schweres Metapherngeschütz und stärker an die Realität gebunden. Eine sehr angenehme Art, Erlebtes und Beobachtetes zu verarbeiten, aber auch eine Art, auf die man fast alles zum Ausdruck bringen, die also zur Masche werden kann. Deshalb beschloss ich irgendwann, umzuschwenken, ein Prozess, der dummerweise auf halber Strecke stockte und in dem ich bis heute festsitze.

Ich bin gern auf Buchmessen, denn ich mag es, „meinen“ Leuten zu begegnen und von Gleichgesinnten und Büchern umgeben zu sein, sogar dem Smalltalk kann ich etwas abgewinnen, er ist eine Kleinkunst für sich. Nach zwei Tagen habe ich jedoch stets das Gefühl, Fusseln im Mund zu haben, verspüre obendrein Fluchtimpulse, will wieder allein oder bei meiner Freundin oder am Schreibtisch sein.

Die Messe an sich ist trotzdem ein großartiges Ereignis, das die verzettelte Welt der Literatur vorübergehend vereint, und das Völkchen, das sich da versammelt, ist mir grundsympathisch: Durch eine bestimmte Leidenschaft verbundene, kluge Menschen aus aller Welt, dem Feiern und Tanzen zugeneigt, ebenso einem Glas Wein, und Raucher gibt es auch noch. Im vorliegenden Gedicht habe ich versucht, diesen kurzen Rausch Revue passieren zu lassen; festhalten kann man ihn leider nicht.

Henning Ahrens, November 2015

Einige von tausend Toden

Einige von tausend Toden

In Leipzig haben wir nicht das erste Mal aus dem versionierten E-Book „Tausend Tode schreiben“ gelesen, aber das erste Mal in einem offiziell literarischen Rahmen. „Wir“ ist im Falle dieses Projekts mit mittlerweile mehreren Hundert Autorinnen und Autoren eine sehr bewegliche Größe, nicht mal ich, die Verlegerin und Herausgeberin, bin zwingend in allen Kontexten Teil davon. Auch im Telegraph blieb bis zum Schluss offen, wer von den Mitwirkenden anwesend sein und wer darüber hinaus lesen würde. Es ist immer ein bisschen merkwürdig, wenn sich Netzmenschen das erste Mal „draußen“ begegnen, es dauert einen Moment, bis man die virtuelle Vertrautheit mit der physisch realen Fremdheit vermittelt hat, und weil #1000Tode mehr noch als Twitter- und Facebook-Freundschaften eine große virtuelle Nähe unter den Beteiligten erzeugt, spürte ich das in Leipzig besonders deutlich, ja, war sogar ein bisschen überfordert, konnte ich in den meisten Fällen doch Personen erst identifizieren, indem ich ihren Namen laut aussprach und sie auf die Bühne bat, Personen, von denen ich durch ihre Texte doch Dinge wusste, die ich von Menschen, die ich gut kenne, nicht weiß. So begann ein bisschen geisterhaft ein Abend, der von uns allen, die wir anwesend waren, als sehr lebendig erinnert wird. Nicht unpassend für eine E-Book-Lesung.

Christiane Frohmann, Jahrgang 1969, arbeitet als Digitalverlegerin, Autorin und Veranstaltungsorganisatorin in Berlin. 2011 war sie Mitbegründerin des E-Book-Verlags eriginals berlin, 2012 startete sie den Frohmann Verlag.

See you soon!

See you soon!

Erster Textabschnitt fehlt: „Merkwürdiger Weise freue ich mich immer wieder auf die Buchmesse. Das gilt insbesondere für Leipzig, weil es dann schon März ist, fast Frühling, kurz vor Ostern, der Glasbau suggeriert einen Jahrmarkt im Sonnenlicht. Außerdem ist in Leipzig jede Lesung gut besucht.

Doch schon bei der Ankunft spüre ich meine Gesichtsmuskeln. Die Begrüßungen begannen auf dem Bahnsteig in Berlin, setzten sich im Zug auf der Suche nach einem Platz fort und kulminierten als aufgekratztes Geplauder im Mitropa-Wagen (Bordrestaurant). In der überfüllten Straßenbahn zum Messegelände sehe ich zwischen und über vielen Köpfen eine Bekannte aus Frankfurt, wir winken uns zu, gestikulieren. Nach dem Aussteigen warte ich, sie aber ist in Begleitung, ich begrüße auch die beiden Herrn, ich laufe neben ihnen her, sie haben etwas zu besprechen. Ich winke ihnen zum Abschied etwas linkisch zu und laufe schneller, aber so sehr ich mich auch bemühe, sie halten Schritt, sie lassen mich nicht entkommen. Vor der Drehtür der Eingangshalle warten wir nebeneinander. Ich tue so, als würde ich sie nicht sehen. An der Garderobe treffe ich zwei Frauen aus der Presseabteilung meines Verlags, wir begrüßen uns herzlich, mit ihnen zusammen wird alles leichter.

Jemand hält mir ein Buch unter die Nase. Ich bin erfreut, sehr gern, sehr gern signiere ich, sage ich. Wo ist meine Messekarte, ach, ich brauche noch mal den Mantel. Da sehe ich K. Mensch K.! Wie schön, dein letzter Geburtstag… Der Moderator P. steht plötzlich zwischen uns, ob ich nicht heute noch mal fünf Minuten Zeit hätte. Klar, kein Problem, fünf Minuten. Wo? Sie können den Mantel wieder aufhängen. Jemand drückt seine Hände auf meine Schultern. Ach, Du, Glückwunsch zum neuen Buch, sage ich. Ich habe noch nicht mal sein letztes gelesen, obwohl es eine freundschaftliche Widmung trägt. Wann liest Du? Ja, ich habe nichts vor, ich komme, bis dann. Geht mal lieber, sage ich und mache eine blöde Handbewegung, als wollte ich meine Verlagsfrauen fortscheuchen. Wenigstens vorstellen hätte ich sie können.

Ich grüße jemanden, ich kenne sie, sie nickt kurz und sieht weg, woher kenne ich sie… Kennt ihr Euch? fragt K. Ich überlege. Mist, das war die heute-Moderatorin. Hallo Ingo, hallo. Ich habe Recht behalten, nicht wahr, sagt sie. Keine Ahnung, wer das ist, was sie will. Ich bin Beate. Sie können auch mal zu uns kommen, sagt Beate zu K, so wie Ingo. Na nach Münster. Erinnerst du dich nicht? Ich grüße den Kollegen F., er hat kalte Hände, der Buchpreis, sagt er, drückt mir die Daumen, sagt er. Ich drücke dir die Daumen, sage ich. Wieso drückst du dem denn die Daumen? fragt mich K. Kalte Hände und gute Literatur sind zwei verschiedene Sachen! Ich beteuere meiner Freundin K., dass ich ihre Sachen wirklich gut finde, kein Vergleich mit den Sachen von F., natürlich meine ich das ernst, für wen hältst du mich denn? Ich gebe D. die Hand, eigentlich haben wir uns sonst herzlicher begrüßt, das tut mir leid, D. wirkt verstimmt. Bei P., die ich umarmen will, spüre ich, wie sie mich mit ausgestrecktem Arm auf Distanz hält. Sie hat Recht, dieses Geknutsche überall.

Während ich versuche, K. zuzuhören, fällt mir wieder ein, wie man sich eigentlich auf Messen verhalten sollte: Keinesfalls den Kopf heben, schon gar nicht mit dem Blick eines neugierigen Hundes herumirren, sondern immer schön nach unten geschaut, knapp vor die Fußspitzen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich eine Gruppe von Kollegen, sie sehen zu uns, sie winken, K. winkt zurück, ich will aber jetzt K. zuhören, ich sehe die Kollegen nicht, soll K. winken, ich bin ganz auf sie konzentriert. Hast Du was gegen M.? fragt K. Nee, wieso? Ich dachte, sagt K.

Als ich zehn Minuten später in entgegensetzter Richtung eile, der Moderator P. sagte, ich solle pünktlich sein, eine live-Schaltung, stehen die Kollegen immer noch da. Ich begrüße sie überrascht und aufgeräumt. Zu meiner eigenen Verwunderung sage ich: How are you, good to see you. Niemand lächelt. Ich bleibe stehen. Warum tue ich das? Ich habe keine Zeit, aber ich will zeigen, dass ich auch ganz ruhig sein und zuhören kann. Aber selbst das missglückt. Ich irre noch keine halbe Stunde auf der Messe herum und habe bereits fünf bis zehn Leute entweder unhöflich behandelt oder vor den Kopf gestoßen. Mir steht der Schweiß auf der Stirn.

Na?, fragt I. schnippisch und wendet sich halb zu mir. Plötzlich so aufgeschlossen? Wieso nicht?, frage ich viel zu erschrocken. Letztes Jahr wolltest du ja nichts von mir wissen, sagt er. Das sitzt. Fassungslos sehe ich ihn an. Ich kann ihn nicht leiden, das stimmt. Er hat kleine Augen, die Arme verschränkt. Mir fällt nichts ein. Die anderen schweigen. Letztes Jahr? frage ich endlich. Er nickt und wendet sich maliziös lächelnd ab.

Plötzlich weicht die Anspannung. Zum ersten Mal seit dem Morgen atme ich durch. Letztes Jahr? wiederhole ich. Da war ich doch gar nicht auf der Messe, sage ich so bedauernd wie möglich.

See you soon, sage ich dann und tippe mir unverschämt vergnügt an eine imaginäre Mütze, während ich schon davon eile, den Blick wie ein Fährtenleser starr auf den Boden gerichtet.

Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, arbeitete nach dem Studium der klassischen Philologie zunächst als Schauspieldramaturg und Zeitungsredakteur in Altenburg und St. Petersburg. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Sein erstes Buch „33 Augenblicke des Glücks“ erschien 1995. Es folgten die Romane „Simple Storys“ (1998), „Neue Leben“ (2005) und „Adam und Evelyn“ (2008). Für den Erzählungsband „Handy“ (Berlin Verlag) erhielt er 2007 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik. Im selben Jahr ist Ingo Schulzes Text entstanden: Für das „Buchmesse-Alphabet“, das anlässlich der ersten zehn Buchmesse-Jahre auf dem Neuen Messegelände erschienen war. Wir machen ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors wieder zugänglich.

Eisbein nach Art des Dichters

Eisbein nach Art des Dichters

Schon lange gab es die Idee eines großen Presseempfangs der unabhängigen Verlage, und hier war nun zu sehen, wie es gemacht werden muss, wenn man unbekannte Menschen miteinander ins gute Gespräch bringen will. Der Haupttrick ist eigentlich nur die Platzierung: Gruppen, Paare etc. müssen auseinandergerissen und kleine neue Gruppen gebildet werden, die dann in lockerer und gleichzeitig gehobener Grundatmosphäre „gezwungen“ sind, sich miteinander am Tisch bekannt zu machen. Aber wo diese Frankfurter Grundatmosphäre finden, ohne Frau von Metzlers Haus nachbauen zu müssen? Beste Antwort: In Leipzig. Unsere dortige Hotlist-Geheimagentin Irina Kramp gab schließlich den entscheidenden Tipp, die Verbände der unabhängigen Verlage aus Österreich, der Schweiz und Deutschland taten sich zusammen, um das „Independence Dinner“ ins Leben zu rufen, ein Sponsor wurde gefunden (inzwischen ist es die charmante Druckerei Theiss aus Kärnten) und – unbedingt wichtig – die Leipziger Buchmesse stellte zwei Shuttlebusse zur Verfügung. Aus diesen steigen die Teilnehmer nun immer am Messedonnerstagabend wegen des endlich überstandenen Nachmessestaus in einer Verbrüderungsstimmung wie nach langer, abenteuerlicher Klassenfahrt am Ort des Geschehens aus, werden nach einem ersten Stabilisierungsgetränk streng platziert und es beginnt: das Bankett an den runden Tischen des Chinabrenners, einem der besten chinesischen Restaurants Deutschlands (das ist trockene Tatsache, keine Lobhudelei). Für mich auf ewig unvergesslich zum Beispiel das „Eisbein nach Art des Dichters“. Bei derartig poetischen Genüssen habe ich inzwischen schon dreimal um die 90 Presse-, Verlags- und andere Buchmenschen gemeinsam glücklich völlern und intensiv plaudern sehen. Ja, ich muss also leider feststellen: Diebstahl lohnt sich manchmal.

Axel von Ernst ist Autor, Verleger und Moderator und lebt in Düsseldorf. Als Vorsitzender des Vereins der Hotlist engagiert er sich für die Belange der deutschsprachigen unabhängigen Verlage. Er selbst ist zusammen mit Viola Eckelt Gründer des Lilienfeld Verlages, der 2007 mit einem auf literarische Wiederentdeckungen spezialisierten Programm gestartet ist und u. a. 2011 den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung erhielt. www.lilienfeld-verlag.de

Wie das Busenwunder auf die Welt kam

Wie das Busenwunder auf die Welt kam

„Regina Moths rief von der Buchmesse aus bei uns an und fragte, ob sie zum Abendessen einen Mann mitbringen dürfte; er hätte Hunger, wäre sehr nett und außerdem würde sie einen kleinen Anschlag auf ihn planen.“ Münchens schönste Buchhändlerin und Chefin des interessantesten (und mehrfach preisgekrönten!) Buchladens der Stadt war jener Tage in Leipzig unser Gast.

Keine 20 Minuten später kamen sie: Regina, eine ihrer Mitarbeiterinnen und ein großer, schmaler Mann mit langem Haar, welches ihm bei jeder Kopfbewegung ins Gesicht fiel. Er sah aus wie jemand, der am liebsten in Ruhe gelassen werden wollte. „Das ist der Christian“, sagte Regina und schubste ihn in mein Atelier, an den runden Tisch, unter die große Lampe. Er trug eine imposante Brille, das sah ich, als das Lampenlicht sein Gesicht für einen Augenblick, während er die Haare zu verscheuchen suchte, erhellte. Sympathisch sah er aus, und auch so, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen und nur sehr wenig gegessen. Reginas Freunde waren auch unsere Freunde, unbesehen! Dieser aber war es wert, genauer betrachtet zu werden. Er hatte etwas an sich, das auch das scheueste Tier aus dessen Versteck hervorlocken konnte, so wunderte ich mich nicht, als Becks Kater wie aus dem Nichts auf der Fensterbank erschien. Sogar unser Sohn, der seinerzeit nur mit Tieren zu reden pflegte, kam aus seiner Höhle und setzte sich zu uns an den Tisch. Auch er hatte Haare, die das Gesicht versteckten.

„Bevor du dich an Becks Risotto labst, musst du einen Blick in dieses Buch werfen“ sagte Regina zu Christian und legte auf seinen Teller mein Busenwunder-Dummy. So war das. Ein Jahr darauf kam das Buch im Secession Verlag auf die Welt 🙂

Yvonne Kuschel, geboren 1958 in Danzig, ist Zeichnerin, Illustratorin, Autorin und Fotografin. Seit 2003 lebt sie mit ihrer Familie in Leipzig. www.yvonne-kuschel.de