Gründer-Spirit

Gründer-Spirit

Lesen, Zuhören, miteinander sprechen: 260.000 Besucher zog es 2016 zum Frühjahrsfest der Bücher nach Leipzig. In einer kleinen Serie blicken wir auf die Höhepunkte zurück. Teil 5: Neuland 2.0, das Startup-Village der Buchmesse.

Enhanced E-Books, Augmented-Reality-Apps, Transmedia-Storytelling: Die digitale Revolution hält die gern als konservativ gescholtene Buch- und Medienbranche weiter auf Trab. Mit dem Projekt Neuland 2.0, für das 14 Startups aus ganz Deutschland von einer unabhängigen Jury ausgewählt wurden, schaffte die Buchmesse erstmals einen herausgehobenen Auftritt für neue, innovative Ideen und Produkte. Das Spektrum reicht von alten Bekannten wie log.os bis zu Sensape, einem Startup, das an Lösungen im Bereich interaktiver Werbung arbeitet.

Frischzellenkur für die „old economy“

Das in eine Präsentations- und Vortragsfläche unterteilte Startup-Village überzeugte durch Funktionalität und eine frische, dem Geist der jungen Gründer entsprechende Optik – selbst der obligatorische Kickertisch fehlte nicht. Zudem erwies sich der Standort des digitalen Dorfs inmitten der trubeligen Belletristik-Halle 5 als sinnvoll; sowohl am Freitag als auch am Samstag herrschte auf der Fläche reger Andrang. „Ich bin absolut happy, dass wir ausgewählt wurden“, freute sich Karl-Ludwig von Wendt, dessen Hamburger Unternehmen Briends zur Messe Papego präsentierte – eine App, die das digitale Weiterlesen gedruckter Bücher auf Smartphone und Tablet ermöglicht. „Wir haben sehr gute Gespräche geführt – das hätten wir mit einem eigenen Stand nie hingekriegt.“ Die Heterogenität des Publikums – von Cosplayern, Buchhändlern, Journalisten, Bibliothekaren, Studenten und Professoren bis zu potenziellen Investoren – war für Wendt ein klares Plus: „Die interessantesten Entwicklungen ergeben sich aus Kontakten, die nicht geplant sind.“

Raus aus der Filterblase!

Auch log.os-Aktivist Volker Oppmann, der zur Frankfurter Buchmesse die Closed-Beta-Phase seiner Plattform eröffnet hatte und nun mit einem echten Prototyp nach Leipzig gekommen war, zog ein positives Fazit: „Bislang haben wir uns mit log.os in der klassischen Filterblase bewegt. Hier kommt die Idee zum ersten Mal mit echten Endkunden in Berührung.“ Echtes Neuland ist die Buchbranche für Matthias Freysoldt vom Leipziger Startup Sensape. Er bringt Computern mittels Bildsensoren und spezieller Algorithmen das Sehen und Verstehen bei – Prototypen sind bereits erfolgreich im Handel und auf Messen im Einsatz. Für Leipzig haben die jungen Tüftler einen „Bucherkenner“ gebaut, mit dem man über kleine Wisch-gesten kommunizieren kann – sehr zur Freude des Publikums, das vorm „Sensape Chimp“ posiert wie in der Karaoke Bar.

Ideen zum Fliegen bringen

„Mit unserer Technologie geben wir dem traditionellen Einzelhandel Werkzeuge an die Hand, um den nächsten Schritt in die Zukunft zu gehen. Die Verschmelzung von Netz und lokalem Laden kann gerade für den Buchhandel sehr interessant sein.“ Die beiden Messetage haben sich für Sensape gelohnt: Für Freysoldt ist das Startup Village genau der richtige Ansatz, um neue Ideen zum Fliegen zu bringen. Beim Publikumsvoting hatte am Ende Papego die Nase vorn. Ein rein ideeller Preis, für Karl-Ludwig von Wendt dennoch hoch willkommen: „Es geht darum, zu beweisen, dass die eigene Idee auf Resonanz stößt. Als Startup braucht man genau das am Dringendsten.“

Independence Days

Independence Days

Lesen, Zuhören, miteinander sprechen: 260.000 Besucher zog es 2016 zum Frühjahrsfest der Bücher nach Leipzig. In einer kleinen Serie blicken wir auf die Höhepunkte zurück. Teil 4: Leipzig liest unabhängig.

Zur Verleihung des Kurt-Wolff-Preises am Messefreitag ist das heuer zum zweiten Mal errichtete Forum Die Unabhägigen so proppenvoll wie sein Vorgänger, das „Berliner Zimmer“. Autoren, Verleger und Leser sitzen dicht an dicht, wer Pech hat, steht, selbst auf den Gängen bilden sich dicke Menschentrauben. Als „Wahrheitsverlag“ preist Laudator und Links-Autor Christoph Dieckmann das Haus in der Berliner Kulturbrauerei – und dessen Chef als „freiheitsbewussten Erbnießer des Mauerfalls“, obendrein als „herzensguten Intellektuellen mit paternalistischen Zügen“. Der Preisträger schmunzelt und ist fest entschlossen, das als Lob zu nehmen. Und wird in seiner Dankesrede eminent politisch. Weniger um Bücher geht es, als um die Bedingungen, unter denen diese entstehen. Christoph Links nutzt das Podium, um deutliche Worte Richtung Politik zu senden. Teilentwarnung gibt es beim ersten Entwurf zum Urhebervertragsrecht, bei der Auseinandersetzung um die Verwertungsgesellschaften und die Beteiligung der Verlage an deren Ausschüttungen gilt dies nicht: „Tun Sie alles dafür, dass die Bedingungen für uns Unabhängige nicht verschlechtert werden – damit die Vielfalt im Land erhalten bleibt.“ Applaus brandet da auf: „Der Knall“, so Siegmund Ehrmann, Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien im Bundestag, „ist in Berlin angekommen“.

Forever young

Das letztes Jahr eingeweihte, vom Designer Jakob Kirch gestaltete Forum ist ein echter Eye-Catcher. Dass es sich spartenübergreifend Die Unabhängigen nennt, hat gute Gründe: In Zeiten zunehmender Marktkonzentration stehen unabhängige Verlage und Buchhandlungen für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft. Ein Schulterschluss, der am Messefreitag beim Empfang für unabhängige Buchhändlerinnen und Buchhändler bekräftigt wird. Buchhandelstreff ist das Motto der Happy Hour, manche Kollegen, die sich bisher nur virtuell, auf den Seiten der gleichnamigen Facebook-Gruppe, begegnet sind, treffen nun erstmals im Offline-Modus aufeinander. Die Unabhängigen, das Gemeinschaftsprojekt von Buchmesse und Kurt-Wolff-Stiftung, ist in Leipzig so etwas wie das Herzstück des Indie-Aufgalopps. In mehr als 40 Veranstaltungen präsentiert das von Barbara Weidle kuratierte Programm Perlen aus den Frühjahrsprogrammen unabhängiger Verlage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Schöne, kluge, ach was: unwiderstehliche Bücher. An der Bar schenken Verlegerinnen und Verleger derweil duftenden Espresso und die KWS-Sonderabfüllung eines Mosel-Rieslings aus – die beste Chance für Gespräche über die Vorzüge der Unabhängigkeit. Im Leipzig liest-Reigen sind die Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Locations sowieso echte Publikums-Renner. Veranstaltungen wie UV – Die Lesung der unabhängigen Verlage im Lindenfels-Westflügel oder die Party der jungen Verlage im Schauspielhaus besitzen längst Kultstatus und haben Leipzig-Afficionados noch immer um den Schlaf gebracht. Wird es nächstes Jahr, wie ein Leipziger Dichter auf Facebook vorschlägt, parallel zur Fete der Jungen Wilden eine Seniorenvesper im Café Riquet geben? „Der bald legendäre Elefantentee. Zugang ab 50“? Wir sind gespannt.

Charme-Offensive auf Chinesisch

„Wer nicht scharf essen kann, ist kein Revolutionär“, so soll es einst der Große Vorsitzende dekretiert haben. Im Chinabrenner des Leipziger Gastronomen Thomas Wrobel hängt der Mao-Spruch prominent platziert über den Köpfen der Gäste. So vielfältig und stark gewürzt wie Wrobels Gerichte sind die Programme der feinen, kleinen Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die heuer zum vierten Mal Medien-Leute und Kulturnetzwerker zum „Independence Dinner“ einluden. Beim Preis der Leipziger Buchmesse duften unabhängige Verleger diesmal alle Glückskekse auswickeln – im Alltag geht der Lange Marsch der Independents weiter. Allerdings konnte SWIPS-Frontfrau Ursi Anna Aeschbacher (Verlag Die Brotsuppe) auch einen kleinen Sieg vermelden: Eidgenössische Verlage bekommen künftig rund 1,9 Millionen Franken Strukturförderung, die Zuschüsse sollen nach Umsatzgröße berechnet werden. Damit kleine Verlage hier nicht ganz durch den Rost fallen, hat SWIPS gekämpft – immerhin 200.000 Franken werden als spezielle Förderung an sie ausgereicht.

Ende einer Legende

ARGE-Sprecher Alexander Potyka (Picus Verlag, Wien) blieb es vorbehalten, mit der großen Legende des Abends aufzuräumen – der in schöner Regelmäßigkeit von allen drei Vereinen vorgebrachten Behauptung, man sei unabhängig. Das Gegenteil ist der Fall: „Wir sind extrem abhängig! Von unseren Lesern, Autoren, von Buchhändlerinnen und Buchhändlern.“ Und natürlich auch von den so zahlreich wie nie erschienenen Kritikerinnen und Kritikern. Im Chinabrenner passte zwischen Feuilletonisten und Indie-Verleger, für diesen einen Abend jedenfalls, kein Stück Esspapier.

Bildquellen: Franziska Frenzel, Nils Kahlefendt

„Raus aus der Flauschzone!“

„Raus aus der Flauschzone!“

Lesen, Zuhören, miteinander sprechen: 260.000 Besucher zog es 2016 zum Frühjahrsfest der Bücher nach Leipzig. In einer kleinen Serie blicken wir auf die Höhepunkte zurück. Teil 3: Literaturblogger verändern die Branche – und die Buchmesse.

„Alles ist begrüßenswert, was Bücher zu potenziellen Lesern bringt“, meinte „Welt“-Literaturchef Richard Kämmerlings unlängst, als ihn das Magazin „BuchMarkt“ zur neuen Kritiker-Konkurrenz im Netz befragte. „Aber diese neuen Felder des literarischen Diskurses“, so Kämmerlings weiter, „ersetzen nicht die professionelle Literaturkritik, deren Geltungsanspruch auf der Autorität und Kompetenz des einzelnen Kritikers und dem Ruf der Institution Feuilleton beruht“. Noch zur Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse hatte die neue Jury-Vorsitzende Kristina Maidt-Zinke angemahnt, dass Literaturkritiker keine „Kaufberater und Trendscouts“ seien. Die schnöde Wirklichkeit sieht anders aus: Der Literaturbetrieb ist durchlässiger geworden, der Raum, in dem über Bücher gesprochen wird, hat sich radikal erweitert. Heute sind auch Print-Redakteure auf Facebook und Twitter unterwegs. Warum von der Kanzel schreiben, wenn man miteinander ins Gespräch kommen kann?

Eure Meinung ist Gold wert!

Karla Paul, Programmleiterin der beiden Digital-Labels von Edel (Hamburg) und mit Buchkolumne selbst als reichweitenstarke Bloggerin unterwegs, ärgert sich über den Blick, der von den Höhenkämmen des Groß-Feuilletons auf die ach so possierliche Blogosphäre geworfen wird – handelt es sich tatsächlich um ein „herziges, kleines Ökosystem von lesenden Katzenbesitzern, die ihre Bücher nach Farbe sortieren und zum aktuellen Lieblingsbuch gleich noch den passenden Tee samt Nagellack empfehlen?“ Als Keynote-Speakerin auf der Bloggerkonferenz buchmesse:blogger sessions 16 am Messe-Sonntag forderte Paul ihre Blogger-KollegInnen in einer kämpferischen Rede auf, sich zunächst an die eigene Nase zu fassen, sprich: Sich der dringend benötigten Professionalisierung zu stellen: „Kommt raus aus der Flauschzone!“ Wo Mode- und Lifestyle-Blogs längst zu florierenden Unternehmen geworden seien, wären Mediadaten, Nutzer-Analysen oder Google-Optimierung für viele Buchblogger Fremdworte – von „Herzblut“ allein könne man keine Miete zahlen: „Eure Meinung ist Gold wert!“

Gemeinsam Reichweite aufbauen

Das gilt vielleicht nicht unbedingt für jedes Buch-Selfie und die mal gehobenen, mal gesenkten Daumen im Netz. Doch der Ruf nach Monetarisierung wird in der Szene lauter – auch wenn viele Blogger dabei noch Bauchschmerzen haben: Gesponserte Texte sind vielerorts verpönt und Unabhängigkeit gilt als hohes Gut. Modelle wie das Affiliate-Programm von Amazon, das die Nutzer an den durch Klicks über die Blogseite entstandenen Umsätzen beteiligt, werden durchaus kritisch gesehen, gerade von bloggenden Buchhändlerinnen. Die Konferenz bemühte sich ums Handwerkszeug; das Themenspektrum reichte dabei von rechtlichen Rahmenbedingungen über Blogger Relations bis zu Workshop-Angeboten für den redaktionellen Alltag. Dass, wenn von Professionalisierung im Verhältnis von Bloggern und Verlagen gesprochen wird, auch bei Letzteren noch viel Luft nach oben ist, betonte in einer abschließenden Podiumsdiskussion Ute Nöth, die seit März bei Carlsen für Social Influencer Relations verantwortlich ist – eine Jobbezeichnung, die nebenbei zeigt, dass hier ein Verlag dabei ist, weiter zu denken als bis zum Leseexemplar-Verteiler: „Wir können persönliche Beziehungen aufbauen, für transparente Regeln sorgen, versuchen, durch geteilte Blogbeiträge gemeinsam Reichweite aufzubauen, gemeinsame Marketing Aktionen anstoßen. Und vielleicht selbst Veranstaltungen wie diese organisieren.“ Die „Begegnung auf Augenhöhe“, die sich viele Blogger wünschen, ist noch längst nicht der Regelfall – mit dem neuen Konferenzformat, der Bloggerlounge und der rege genutzten Netzwerkfläche Read & Greet in Halle 5 ist man in Leipzig auf gutem Weg.

Die Buchbeschleuniger

Literaturblogs haben in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen – steht die klassische Literaturkritik damit gleichsam auf der Roten Liste der aussterbenden Arten? Vorhergesagt wird ihr baldiges Ableben ja in schöner Regelmäßigkeit: „Das wahre, das eigentliche Publikum, eine Minderheit von zehn- bis zwanzigtausend Leuten, die sich nichts vormachen lassen -, dieses Publikum hat sich vom Kasperltheater der großen Medien längst abgekoppelt; es bildet sich sein Urteil unabhängig vom Blabla der Rezensionen und der Talkshows, und die einzige Form der Reklame, an die es glaubt, ist die Mundpropaganda, die ebenso kostenlos wie unbezahlbar ist.“ – Das schrieb Hans Magnus Enzensberger schon 1986, vor 30 Jahren. Und heute? Rezensentendämmerung reloaded? Ist die Literaturkritik – mal wieder – in der Krise? Oder sind es nur die Medien, die sie verbreiten? Unter dem Titel „Die Buchbeschleuniger. Literatur zwischen Feuilleton und Blogosphäre“ diskutierte Andreas Platthaus (F.A.Z.) zum Messeauftakt auf dem bücher.macher-Podium mit einer hochkarätig besetzten Runde darüber, ob eine Kritik alten Stils noch gebraucht wird – und die Zukunft tatsächlich allein im Netz liegt.

Knappe Ressource Aufmerksamkeit

Während Thierry Chervel vom Online-Kulturmagazin „Perlentaucher“ schrumpfende Besprechungsseiten an einer notorisch unterversorgten Informationsökonomie festmachte, sieht „Zeit“-Literaturchef Ijoma Mangold einen anderen Ressourcen-Schwund: Die Knappheit an Aufmerksamkeit für Information. Je weniger Platz Literaturzeitschriften und Feuilletons böten, desto wichtiger die Erweiterung ins Digitale: „Ich kann keinen Grund erkennen, weshalb der nicht refinanzierte Gedanke der langweiligere sein soll.“ Dass die Grenzen zwischen Weblog, Onlinemagazin und Lesecommunity fließend werden, zeigen verschiedene aktuelle Projekte – so auch das von der Journalistin Sieglinde Geisel gestartete Literaturkritik-Magazin Tell, das am Messefreitag online ging: „Es gibt das Bedürfnis nach einem Raum, in dem es keine Unterscheidung zwischen Kritikern, Autoren und Bloggern gibt.“ Die Zeit der Literaturpäpste – sie scheint vorbei.

Bildquellen: Leipziger Messe, Monique Wüstenhagen

Erleben, Erlesen, Entdecken

Erleben, Erlesen, Entdecken

Lesen, Zuhören, miteinander sprechen: 260.000 Besucher zog es 2016 zum Frühjahrsfest der Bücher nach Leipzig. In einer kleinen Serie blicken wir auf die Höhepunkte zurück. Teil 2: Leipzig liest – und feiert.

Klar doch: Eröffnet wird die Buchmesse jedes Jahr im Gewandhaus. Ihren Spannungszenit erreicht sie jedoch verlässlich am Donnerstagnachmittag, pünktlich 16 Uhr: Unter der sonnenbeschienenen Glashallenkuppel schließen Verleger und Kritiker letzte Wetten ab, manch Lektor tupft sich unauffällig einen Schweißtropfen von der Stirn, Kameras werden in Position gebracht. Die Spannung ist mit Händen zu greifen: Wer wird ihn gewinnen, den Preis der Leipziger Buchmesse? Selbst alte Branchen-Hasen, die nichts so schnell aus der Fassung bringt, werden hier noch überrascht – so wie im letzten Jahr, als Jan Wagner mit einem Gedichtband („Regentonnenvariationen“) gewann, und dem zarten Pflänzchen Lyrik mit diesem unerwarteten Triumph einen regelrechten Boom bescherte. In diesem Jahr siegte in der Kategorie Belletristik mit dem Tausendseiter „Frohburg“ (Schöffling) das späte Roman-Debüt eines Autors, der schon bei der allerletzten Tagung der Gruppe 47 dabei gewesen war und im kommenden Mai 75 wird. „Herzlichen Dank, mehr kann ich nicht sagen“, freut sich der sichtlich gerührte Guntram Vesper, bevor er sich mit den beiden anderen Gewinnern zum traditionellen Gruppenfoto gesellt. Jürgen Goldstein, der in der Sachbuch-Sparte mit seiner Biografie „Georg Forster – zwischen Freiheit und Naturgewalt“ (Matthes & Seitz) den Sieg davonträgt, bedankt sich artig beim Gegenstand seiner akribischen Forscher-Arbeit („Ihm hätte ich gern einmal die Hand geschüttelt“). Mit Brigitte Döberts Übertragung von Bora Ćosićs Roman „Die Tutoren“ (ebenfalls Schöffling) gewinnt ein weiterer literarischer Achttausender, der bislang für „unübersetzbar“ gehaltenen wurde, den Übersetzungspreis. Freudestrahlend nimmt Döbert auch die Glückwünsche ihres aus Belgrad angereisten Autors entgegen.

Der Buchmesse-Joker

Der Preis der Leipziger Buchmesse will zum Lesen, zum Bücherkaufen, zur nachhaltigen Diskussion über Inhalte und Autoren anregen – wichtigster Motor dieser gelebten Literaturverführung ist Leipzig liest. In diesem Jahr feiert das „Woodstock der Bücher“ sein 25. Jubiläum – und verteidigt mit 3200 Mitwirkenden in mehr als 3000 Veranstaltungen an 410 Orten einmal mehr seinen Ruf als Europas größtes Lesefest. Ein Feuerwerk, bei dem Literatur-Prominenz aus dem In- und Ausland, Newcomer mit Potenzial, Schauspieler oder Pop-Größen das gesamte Spektrum des Buchmarkts abbilden. Gefeiert wurde der runde Geburtstag mit einem bunten Festabend an einem besonderen Ort, in der im letzten Jahr nach aufwändiger Sanierung wiedereröffneten Kongresshalle am Zoo. Es ist ein Abend, der gleichsam die Brücke schlägt zwischen lauten Büchern und stillen Worten, zwischen E und U, Tradition und Experiment – den Polen, zwischen denen der Literatur-Marathon seit 25 Jahren auf Erfolgskurs fährt. Den ersten Teil des Abends bestreiten Christoph Hein („Glückskind mit Vater“, Suhrkamp), Clemens Meyer und der frisch gekürte Belletristik-Preisträger Guntram Vesper, im zweiten Teil gibt’s Poetry Slam vom Feinsten. Umjubelte Gewinner sind am Ende Julius Fischer und der „Hypezig“-Erfinder André Herrmann vom „Team Totale Zerstörung“. Unkaputtbar ist indes die Verbindung der Messemacher zum jährlich wachsenden, begeistert lesend-lauschenden Leipziger Publikum. Buchmesse-Direktor Oliver Zille: „Sie sind für die Buchmesse und das Lesefest der Joker. Der Buchmesse-Joker.“

Flash-Mob mit Barbetrieb

Das Café der Galerie für Zeitgenössische Kunst wird in unregelmäßigen Abständen von Künstlern komplett neugestaltet – und bekommt dann auch einen neuen possierlichen Namen. Es hieß Weezie, Paris Syndrom, Kafic und zuletzt Bau Bau. Am Buchmesse-Donnerstag verwandelt sich der Würfel aus Glas und Beton für eine Nacht in den Club Tropicana, der „beliebtesten und verrauchtesten Party der Messewoche“ (F.A.S.). 20 Jahre Tropen müssen schließlich gefeiert werden. Die Versuchsanordnung der Aktionskünstler Tom Kraushaar und Michael Zöllner: Wie viel feierwütiges Branchen-Volk findet auf einer limitierten Anzahl von Quadratmetern Platz? Gegen Null Uhr kann man an der Tropicana-Bar beide Beine anziehen, ohne umzufallen, sehr praktisch. Der sprichwörtliche Absacker: unmöglich. „Als Feier ist das Quatsch, als Lebendinstallation großartig“ diktierte Joachim Otte (Literarischer Salon, Hannover) der Frau von „Zeit Online“ in den wahrscheinlich eher mühsam gezückten Notizblock. „Die Tropen-Party 2016 ist Kunst, ich bitte die documenta, das zu berücksichtigen“. Also doch: Die Literatur wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.

Hochkaräter im Literaturhaus

„Sagen was man denkt. Und vorher etwas gedacht haben.“ – Was sich Harry Rowohlt für Schriftsteller vor Mikrofonen wünschte, kann sehr gut als Leipzig-liest-Motto herhalten. Und als Geschäftsgrundlage für Abende in Literaturhäusern: Am Buchmesse-Freitag im Leipziger Haus des Buches wurde das Diktum jedenfalls aufs Schönste eingelöst: 15 Jahre Preis der Literaturhäuser galt es zu feiern – mit drei ehemaligen Preisträgern, dem frisch gekürten Gewinner sowie Rainer Moritz und Denis Scheck als blendend aufgelegtem Moderatoren-Duo, das das in der Fußball-Berichterstattung bewährte Prinzip „Netzer & Delling“ mühelos in die Sphäre des Literaturbetriebs transferierte. Kurzum: Unterhaltung auf hohem Niveau, eine opulente Geburtstags-Torte, die die leidige Frage nach E oder U gar nicht erst aufkommen ließ. Wie breit das Stimmen-Spektrum der in den letzten 15 Jahren Ausgezeichneten ist, konnte der Leipziger Abend nur anreißen: Es reicht vom lebenslang geführten poetisch-anarchischen Tagebuch Elke Erbs (Preisträgerin 2011), in dem sich Artifiziellstes und Alltäglichstes wundersam mischen, über die skurrilen Live-Performances des Comic-Künstlers Nicolas Mahler mit Laptop und Beamer (Preisträger 2015) bis zu den Lese-Sternstunden Feridun Zaimoglus (Preisträger 2012), die auch dann noch mitten ins Herz treffen, wenn der Autor, wie diesmal, an einer Erkältung laboriert. Ulf Stolterfoht, der aktuelle Preisträger, hat Lyrik auch für Zeitgenossen kommensurabel gemacht, die mit Versfüßen sonst nicht viel am Hut haben. Sein neuester Coup, möglich geworden durch ein kleines „Stückle“, vulgo Vorerbe: Die Gründung des eigenen Lyrikverlags Brueterich Press, dessen Werbe-Slogan („Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es Brueterich Press!“) wie eine Provokation anmutet. „Arme Studenten“, so der Dichter-Verleger, „bekommen allerdings schon mal 50 Prozent Rabatt“.

Bildquellen: Leipziger Messe, Café Bau Bau/Sebastian Schröder

Freiheit und Vielfalt

Freiheit und Vielfalt

Mozarts „Zauberflöte“, Verdi, Rossini, Puccini und eine „europäische“ Rede des Historikers Heinrich August Winkler. Alles wie immer? Die Eröffnung der Buchmesse im Gewandhaus war in diesem Jahr nicht nur ein Festakt, sie war eine Beschwörung des Geistes der Zivilgesellschaft, eine Manifestation der Freiheit und Vielfalt, für die ganz wesentlich auch Verlage und Buchhandlungen stehen. Ein starkes Zeichen für die Meinungsfreiheit wurde gesetzt, als Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller alle Gäste dazu aufforderte, vorbereitete Plakate mit dem Text „Für das Wort und die Freiheit“ hochzuhalten. Ein medienwirksames Bild, das an die Botschaft erinnerte, wie sie im vergangenen Jahr etwa mit „Je suis Charlie“ ausgesendet wurde.

„Ich bin ein Mensch – also bin ich frei“

Was manchem als wohlfeile Geste erscheinen mag, ist für den ägyptischen Verleger Mohamed Hashem ein herzwärmender Akt der Solidarität. Hashem, der 1998 in Kairo den unabhängigen Merit Verlag gründete, weiß, wie es – nur wenige Flugstunden von Leipzig entfernt – um die Freiheitsrechte steht. Als er 2011 für seine Verdienste um verfolgte Autoren den Hermann-Kesten-Preis des PEN erhielt, wurden seine Verlagsräume gestürmt, er selbst sollte verhaftet werden. Inzwischen werden kritische Geister wie er mit dubiosen „Steuernachzahlungen“ traktiert – ein neuer, subtiler Versuch, sie mundtot zu machen. Auch wenn sich Hashem zuweilen „wie in einem Irrenhaus“ fühlt -unterkriegen lassen will er sich nicht: Optimistisch stimmt ihn, dass es gelungen ist, eine Petition für die Freilassung des inhaftierten Autorenkollegen Ahmed Naji zu initiieren – mehr als 1000 Ägypter haben bereits unterschrieben. Dass die Apelle westlicher Regierungen und Organisationen etwas bewirken, zeigte der Fall des Dichters Ashraf Fayad. Dessen in Saudi-Arabien verhängtes Todesurteil wurde inzwischen in eine Haftstrafe umgewandelt. Für Sascha Feuchert, Vizepräsident des PEN-Zentrums Deutschland und Writers-in-Prison-Beauftragter, kein Grund zum Zurücklehnen: 2015 seien weltweit 800 Fälle von Autoren bekannt geworden, die verfolgt, gefoltert oder zum Tode verurteilt wurden. Und das, so Feuchert, sei „nur die Spitze des Eisbergs“. Die meisten Autoren sitzen derzeit nicht in China, sondern in der Türkei in Haft.

Denk-Raum statt Gastland

Bücher und Autoren rütteln auf, erklären, schlagen Brücken: Neben dem üblichen Geschäft war Leipzig in diesem Frühjahr eine pointiert politische Messe – von Anfang an. Der gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung initiierte, von der Frankfurter Literaturkritikerin Insa Wilke kuratierte Programmschwerpunkt Europa21 führte in sieben Diskussionsrunden auf dem Messegelände und im Neuen Rathaus Künstler, Intellektuelle, Journalisten und Wissenschaftler aus Syrien, Serbien, der Schweiz, Schweden, Russland, Polen und Deutschlandzusammen, um abseits von Talk-Show-Aufgeregtheiten über Zuwanderung und Integration zu diskutieren. Dazu widmete sich dem Komplex eine ganze Themenreihe mit rund 60 Lesungen und Diskussionen – nur konsequent angesichts der Flut an Neuerscheinungen, die sich in diesem Frühjahr, vor allem im Sach- und Kinderbuchsegment, mit Flucht, Migration, Willkommenskultur oder Fremdenangst beschäftigen. Dass das rechtspopulistische Magazin Compact seinen von Muskelmännern in eng sitzenden schwarzen Anzügen bewachten Stand auf der Buchmesse aufbauen konnte, war für viele eine Zumutung; am Samstag versammelten sich rund 200 Aussteller und Messebesucher zu einer kurzen, friedlichen Protest-Demo. Die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut – doch wo verläuft die rote Linie der Toleranz? Für „Zeit“-Politikchef Bernd Ulrich, Gast auf dem Europa21-Podium, ist sie dann erreicht, wenn Rassismus und Menschenverachtung propagiert werden: „Es gibt Dinge, die außerhalb des diskutablen Pluralismus stehen.“

Wer erzählt wie von wem?

Anders als wir haben die Länder Südosteuropas schon seit 30 Jahren erfahren müssen, welch unbeständiger und unsicherer Ort „Heimat“ geworden ist. Dass es einen Balkan auch jenseits der ominösen „Balkanroute“ der Flüchtenden gibt, zeigten die Veranstaltungen des Literaturnetzwerks TRADUKI, das 2016 bereits zum achten Mal in der Messestadt präsent war. Kein Zweifel: Flucht und Vertreibung, Exil und Fremde sind die Themen der Stunde, wenn es darum geht, Gegenwart zu beschreiben. Welche Möglichkeiten bietet die deutsche Sprache, und welche Fallstricke birgt sie, wenn es um den Raum des Asyls geht? Als Insa Wilke diese Fragen im Rahmen des Programmschwerpunkts „Europa21“ mit Shida Bazyar und Senthuran Varatharajah diskutiert, zwei jungen deutschen Autoren, die ihre Erfahrungen in genau diesem Raum gemacht haben, hat sie gelegentlich das Gefühl, „auf rohen Eiern zu laufen“. Wenn, so Varatharajah, über Geflüchtete in der Sprache von Naturkatastrophen verhandelt werde, sabotiere die Sprache noch das gutwilligste Anliegen. Wer erzählt wie von wem? In kreisrunden Hörstationen in der Glashalle kommen sechs Geflüchtete zu Wort, die noch vor Monaten in der Messehalle 4 kampierten. Ein 30jähriger Software-Programmierer aus dem irakischen Mossul berichtet, wie mitten auf dem Meer der Motor des überladenen Boots kaputtgeht und er seine drei Töchter angstvoll umklammert. Wo mögen sie jetzt sein?

Wie wir leben wollen

Kann Schreiben solidarisch sein? Für Matthias Jügler, der 2015 mit dem Roman „Raubfischen“ (Blumenbar) debütierte, lautet die Antwort: „Ja, unbedingt.“ Im letzten Hebst setzten dem in Halle/Saale geborenen Autor die zunehmend schärfer artikulierten fremdenfeindlichen Ressentiments in seiner allernächsten Umgebung so zu, dass er, wütend und ratlos, Schriftsteller-Kollegen um Texte bat, die sich mit Rassismus, Hass, Hoffnungen und Ängsten dieser Tage auseinandersetzen sollten. „Was soll ich meinen Enkeln sagen, wenn sie mich fragen, was ich getan habe?“ Binnen weniger Stunden bekam er ein Dutzend Zusagen; Suhrkamp brachte das Projekt in nur drei Monate zwischen Buchdeckel. In der Anthologie „Wie wir leben wollen“ zeichnen 25 junge Autoren eine so vielschichtige wie erhellende Karte unseres Landes. Ein Buch, das auch das Leben seines Herausgebers verändert hat: Die Arbeit am zweiten Roman liegt auf Eis. Lesungen wollen organisiert werden, das E-Mail-Postfach füllt sich rasant. Die Autorinnen und Autoren spenden einen Teil ihrer knappen Honorare an die Flüchtlingshilfe, „eine Herzensangelegenheit“, meint Jügler. Auf der Messe hastet der Autor, Medienprofi wieder Willen, von Termin zu Termin. Aber das geht in Ordnung: „Wie schlimm wäre es, wenn wir hier business-as-usual machen würden?“

Bildquellen: Leipziger Buchmesse, Monique Wüstenhagen, Nils Kahlefendt, Rainer Justen