Mit einem lachenden und einem weinenden Auge verabschieden sich die Organisatoren des eigentlich schon für 2021 geplanten portugiesischen Gastlandauftritts von Leipzig. Angesichts der nach pandemiebedingt zweijährigem Warten doch noch zustande gekommenen „Unerwarteten Begegnungen“ ist Patrícia Barreto, Kulturrätin der Botschaft von Portugal in Berlin und Kuratorin für den Gastland-Auftritt überzeugt, dass die mehr als 50 übersetzten Bücher ihren Weg machen. „Wir haben die große Begeisterung des Publikums für die neu ins Deutsche übersetzten Werke gespürt“, sagt Barreto. „Die Tatsache, dass zehn Millionen Portugiesen ihre Sprache mit 260 Millionen Menschen in vielen weiteren Ländern in der Welt teilen, hat die Sprache und die in ihr verfasste Literatur immens bereichert – das haben wir in Leipzig unter Beweis gestellt.“
Auf dem Programm im Haus des Buches und in der Schaubühne Lindenfels standen zum einen Würdigungen von literarischen Größen: So wurden etwa die Dichterin Sophia de Mello Breyner Andresen sowie Literaturnobelpreisträger José Saramago geehrt, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Genauso wichtig waren zeitgenössische Autorinnen und Autoren wie Dulce Maria Cardoso, José Luís Peixoto oder Margarida Vale de Gato. Um den Wahrnehmungen unterschiedlicher Realitäten und unterschiedlicher Visionen von der Welt in Afrika, Brasilien, Europa und Ozeanien gerecht zu werden, kamen viele neue Stimmen aus dem lusophonen Raum zu Gehör, darunter Djamilia Pereira de Almeida und Yara Monteiro. In Leipzig zeigte sich nicht nur die zunehmende Stärke der weiblichen Stimmen, sondern auch die besondere Bedeutung von Themen wie Postkolonialismus, Sozialkritik oder die Suche nach dem Ich in der aktuellen portugiesischsprachigen Literatur.
Transporteure dieser Literatur wie die Übersetzerin Marianne Gareis oder ihr Kollege Michael Kegler werden einfach weiterarbeiten – ebenso wie das Netzwerk Traduki, das es, nach drei Jahren des überwiegend virtuell gelaufenen Südosteuropa-Messe-Schwerpunkts „Common Ground“, noch einmal bei der Balkan-Nacht im UT Connewitz krachen lässt. „Wir und sie – vom Verbindenden im Anderssein“ ist das Programm im dritten Jahr überschrieben. „Wir versammeln Autorinnen und Autoren, in deren Büchern Menschen darauf bestehen, einen eigenen Lebensweg zu wählen, wo Kinder die für sie vorgesehenen Rollen nicht zu spielen bereit sind und gängige Zuschreibungen nicht einfach übernommen werden“, erklärt Programmkuratorin Hana Stojić. „Es sind Bücher über Menschen, die weitreichende Konsequenzen kurzsichtiger Entscheidungen politischer Machthaber zu tragen haben, aber auch Bücher über Träume, Hoffnungen und Ängste, wie wir alle sie kennen bei dem Versuch, das Leben zu meistern.“ Man wird sich wiedersehen: Auf dem Youtube-Kanal von Traduki, auf der Buch Wien – und selbstverständlich der nächsten Leipziger Buchmesse.
Preis der Leipziger Buchmesse für Tomer Gardi („Eine runde Sache“), tags zuvor den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für Karl-Markus Gauß: Im Fußballjargon würde man sagen, dass die Österreicher momentan so etwas wie einen Lauf haben. In der Schaubühne Lindenfels, schon jetzt so etwas wie der „inoffizielle Österreich-Pavillon“, präsentieren sich unsere alpenländischen Nachbarn als Gastland der Leipziger Buchmesse 2023. „Meaoiswiamia“ (mehr als wie wir) lautet die offizielle Wortbildmarke – ein Gegenkonzept zum krachledernen „Mia san mia“ bajuwarischer Prägung, eine Sprachskulptur und eine poetologische Setzung gleichermaßen, wie Katja Gasser, künstlerische Leiterin des Gastlandprojekts, betont. Wie wichtig Österreich den Aufschlag nimmt, zeigt der Umstand, dass Andrea Mayer, Staatssekretärin für Kunst und Kultur, trotz Messe-Absage persönlich vor Ort ist. Rund zwei Millionen werden für den bereits am 18. Mai im Österreichischen Kulturforum Berlin startenden und mit der Buch Wien 2023 endenden Gastland-Auftritt in die Hand genommen.
„In Leipzig können wir uns auf Augenhöhe mit den großen Konzernverlagen zeigen“, sagt Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels. Auch für Oliver Zille macht der lang anvisierte Ösi-Booster Sinn – nicht nur, weil es im Österreichischen Kaffeehaus auf der Messe eh’ den besten Verlängerten gibt: Die Nähe der österreichischen Verlagsszene zu den Sprachen in Südosteuropa ist sprichwörtlich. Wie ernst es unsere Nachbarn mit ihrem Claim meinen, zeigen sie beim langen Länder-Abend in der Schaubühne („Wildes Österreich“): Wenn das Erste Wiener Heimorgelorchester auf den im Kongo gebürtigen Grazer Fiston Mwanza Mujila oder Stefanie Sargnagel trifft, bleibt wirklich kein Auge trocken.
Als die niederländischsprachige Literatur 1993 erstmals im Fokus der Frankfurter Buchmesse stand und Autoren wie Cees Nooteboom, Leon de Winter oder Connie Palmen die Herzen deutscher Leserinnen und Leser eroberten, war Victor Schiferli als jüngster Mitarbeiter des Nederlands Letterenfonds schon mit dabei. Nun freut sich der Amsterdamer auf 2024, wenn die Niederlande und Flandern gemeinsam Gastland der Leipziger Buchmesse sein werden. Der Startschuss für das Programm, das auch auf den spartenübergreifenden Austausch mit Theater, bildender Kunst und Film setzt, fällt bereits in diesem März. „Nachhaltigkeit“ und „Diversität“ sind für die Organisatoren Schlüsselworte. Im Literaturhaus gibt es, moderiert von dem in Amsterdam lebenden deutschen Verleger Christoph Buchwald, einen Vorgeschmack mit Autoren wie Gerda Blees (Wir sind das Licht“, Zsolnay), Mathijs Deen („Der Holländer“, mare) oder Johan de Boose („Das Fluchholz“, btb). Der niederländisch-flämische Bücherpodcast „Kopje Koffie“ stellt bereits jetzt Autorinnen und Autoren mit ihren aktuellen Übersetzungen vor.
Die neuen Betreiber des Gohliser Schlösschens um Geschäftsführer Thomas Roßdeutscher sind kulturaffin im besten Sinn – und so kann mit dem Übersetzerzentrum auch ein weiterer Buchmesse-Klassiker im frisch umgewidmeten „Musenhof am Rosental“ andocken. Einen ganzen Tag lang gibt es dort Lesungen und Diskussionen nonstop, unter anderem ein von Jürgen Jakob Becker moderiertes Podium zum Internationalen Übersetzertreffen des LCB und als „Überraschungsgast mit Krone“ Anne Weber, die frisch gekürte Gewinnerin des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung.
Zur letzten Leipziger Buchpreisverleihung saß Annette Knoch, Verlegerin des Droschl Verlags, vorm PC in Graz und sah aus der Ferne, wie das schreckstaunende Gesicht der Gewinnerin Iris Hanika („Echos Kammern“) als Social-Media-Meme viral ging. Nun, bei der gänzlich unerwarteten „Titelverteidigung“, kann sie ihren Autor Tomer Gardi („Eine runde Sache“) live herzen. „Ein unvergesslicher Moment“, sagt Knoch in der Kulturfabrik Werk 2 im Süden von Leipzig. Auch die Verlage der Preisträgerinnen Uljana Wolf und Anne Weber, kookbooks und Wallstein, sind bei der buchmesse_popup in der alten Connewitzer Industriehalle mit dabei.
Insgesamt beteiligen sich 63 Independent-Verlage an der von Leif Greinus (Voland & Quist) und Gunnar Cynybulk (Kanon) initiierten Steggreif-Messe, die vom Engagement der Beteiligten lebt – so wird das Lesungsprogramm von Anna Jung (Jung und Jung), Kristine Listau (Verbrecher Verlag) und Verena Knapp (Klett-Cotta) organisiert. Knapp 10.000 Besucherinnen und Besucher strömen nach Connewitz. „Es geht uns um Sichtbarkeit für unsere Autorinnen und Autoren“, sagt Gunnar Cynybulk, „und den so wichtigen Kontakt mit dem Publikum“. Die Branche, das hat man an dieser in nicht einmal vier Wochen organisierten Aktion gesehen, ist solidarischer, als man denkt. „Wir wollten in diesem Jahr ein Zeichen setzen“, ergänzt Leif Greinus. „Und freuen uns auf die ‚große‘ Leipziger Buchmesse im nächsten.“
Putins Angriffskrieg, der Horror, den die Menschen in der Ukraine erleben, sind das Thema dieser Leipziger Tage, auf Bühnen und Podien wie im privaten Gespräch. Man erinnert sich fast wehmütig an Martin Pollak und den von ihm ab 2012 kuratierten „tranzyt“-Schwerpunkt mit Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus, an Juri Andruchowytsch, der 2006 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Im Kontext des Ukraine-Themas zeigt sich, wie wichtig eine auch auf Osteuropa ausgerichtete Messe ist. Das alles hat man im Kopf, wenn man im Werk 2 eine zusammen mit dem PEN und der Hilfe von Christoph Links organisierte Veranstaltung besucht. Unter dem Motto „Nein zu Putins Krieg – Was kann Literatur leisten?“ sind am Tag nach Putins Rede im Luzhniki-Stadion, die nicht wenige als Auftakt zur Großen Säuberung interpretieren, Marjana Gaponenko (Ukraine), Michail Schischkin (Russland), Volha Hapeyeva (Belarus) und Karl Schlögel (Deutschland) zusammengekommen; später wird aus Lemberg der Übersetzer Juri Durkot zugeschaltet, der für die „Welt“ Kriegstagebuch führt.
War Krieg nicht eine Sache der Großeltern? Ob wir „friedensverwöhnten, optimistischen und wohl auch zu lethargischen“ Westeuropäer richtig gelesen haben, fragt sich auch Karin Schmidt-Friderichs. Die Börsenvereins-Vorsteherin ist, mit den Schriftstellerinnen Svetlana Lavochkina und Katerina Poladjan, dem ukrainischen Gewandthaus-Solo-Bratschisten Ivan Bezpalow, der VS-Bundesvorsitzenden Lena Falkenhagen und dem eben aus der Ukraine zurückgekehrten TV-Journalisten Arndt Ginzel, Gast eines Podiums im Turmzimmer des Leipziger Felsenkellers. Eine Eisenskulptur vis-à-vis erinnert an eine der letzten Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs in Leipzig, bei der am Morgen des 18. April 1945 fünf GIs und zwei Jugendliche des „Volkssturm“ umkommen. Das Podium im Turm ist Teil von weiter:lesen 22, einer lokalen Initiative, ebenfalls in Rekordzeit geplant. In der Moritzbastei und im Felsenkeller, vor 2019 mehrmals Domizil für die „Party der jungen Verlage“, finden an zwei Tagen rund 60 Lesungen statt; im Felsenkeller gibt es zudem Buchstände beteiligter Verlage und eine Party mit DJ Sergej Klang.
Erstaunlich, was Mitte März trotz coronabedingt geschlossener Messehallen in der alten Buchstadt abgeht. Unter dem Titel „Verbriefte Freundschaft“ eröffnet das Deutsche Buch- und Schriftmuseum – in Anwesenheit des Künstlers – eine Ausstellung zu den umfangreichen Briefwechseln und der Mail-Art von Axel Scheffler – eine Liebeserklärung an die gute, alte analoge Korrespondenz. Derweil erobert die Comic-Künstlerin und frisch gebackene LVZ-Kunstpreisträgerin Anna Haifisch endgültig die Hochkultur-Sphäre – mit einer Soloschau im Museum der Bildenden Künste. Dass bei der Ballung von Leipzig liest trotzdem-Aktivitäten fast keiner außen vor bleiben muss, liegt am sprichwörtlich großen Herz zahlloser Leipziger Kultur-Orte für Literatur – und dem Engagement des „Leipzig liest“-Teams. So laden die Connewitzer Verlagsbuchhandlung und das Deutsche Literaturinstitut (DLL) den Penguin-Autor und Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah („Ferne Gestade“) ins Paulinum am Augustusplatz. Unter dem Hashtag #buchbesuch öffnen Leipziger Verlage wie Buchfunk, Faber & Faber, Klett Kinderbuch, Lehmstedt oder Seemann Henschel am virtuellen „Messe“-Samstag ihre Türen. Echte Verlagsstadtschwärmer lassen sich da nicht lange bitten.
Spannend: Statt einer Buchmesse gibt es in Leipzig diesmal gleich mehrere kleine. Wer über den Standortvorteil und genügend Energie verfügt, präsentiert sich – wie etwa Spector Books, Kookbooks oder die Stiftung Buchkunst – parallel. In der Hochschule für Grafik und Buchkunst findet die It’s a book, das jährliche Treffen von Produzierenden aus dem Indie-Publishing, zum 13. Mal statt. Rund 90 Verlage sind beteiligt, von adocs publishing (Hamburg) bis Valiz (Amsterdam), die das schönste Buch der Welt gleich vom Stapel verkaufen.
Im Rahmen der Sonderausstellung „Fotobücher. Kunst zum Blättern“ findet von Freitag auf Sonntag im Grassi Museum das erste Leipzig Photobook Festival statt. Organisiert hat es der Fotograf, Kurator und Verleger Calin Kruse. Dass das Mzin, jahrelang im für Grafikdesign-Hipster attraktiver werdenden Kolonnadenviertel ansässig, nun als Shop im Leipziger Bildermuseum vor Anker gegangen ist, zeigt den frischen Wind, der aktuell durch die Leipziger Museums-Szene pustet. Von ihm wird, Hand drauf, auch die Leipziger Buchmesse 2023 profitieren.
Wem’s zu wohl ist / der geht nach Gohlis, weiß der Leipziger Volksmund. Und irgendwie ist etwas dran: Wäre der Kurt-Wolff-Preis, wie es sich normalerweise gehört, am Stand „Die Unabhängigen“ in Halle 5 der Leipziger Buchmesse verliehen worden, wäre man vom Messe-Grundrauschen, zu dem gern auch mal ein Trompeten-Solo oder die mikrofonverstärkte Anmoderation eines Kabarettisten gehören, nicht verschont geblieben. Antje Kunstmann und Poetenladen-Verleger Andreas Heidtmann bekommen ihre Schecks über 35.000 und 15.000 Euro im barocken Gohliser Schlösschen, in dessen Saal man bei der Laudatio von Verleger Heinrich von Berenberg die berühmte Stecknadel fallen hören kann. Die einfallende Frühlingssonne färbte das Parkett goldgelb.
Dass Antje Kunstmann mit dem ein abgeschlossenes Sammelgebebiet assoziierenden Wort „Lebenswerk“ fremdeln muss, ist klar. Dass in ihrem Bücherregal Kurt Wolffs „Autoren – Bücher – Abenteuer“ neben André Schiffrins „Verlage ohne Verleger“ steht – das Ideal neben der ernüchternden Gegenwart sozusagen, beide bei Wagenbach erhältlich – ist kein Zufall. In Wolffs Betrachtungen und Erinnerungen findet sich der berühmte Satz: „Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie zählen für uns nicht – nicht wahr?“ Kunstmann hält es lieber mit Anton Tschechow. Der dekretierte: „Ich teile alle Bücher in zwei Sorten ein: Solche, die mir gefallen, und solche, die mir nicht gefallen. Ein anderes Kriterium habe ich nicht.“
Mehr Understatement geht nicht: In Warmbronn, in der schwäbischen Provinz, eine halbe Stunde von Stuttgart entfernt, wo um 1900 der Dichter Christian Wagner lebte und schrieb, findet sich in einem unscheinbaren Bauernhaus mit Scheune der Verlag von Ulrich Keicher. Hier ist alles handgemacht, lange Zeit in Bleisatz und Buchdruck, seit 1996 mit Computersatz und Laserdrucker. Die Verarbeitung – Schneiden, Falzen, Binden – erfolgt seit fast vier Jahrzehnten in der eigenen Werkstatt. Wie wird einer, der in kleinen Verhältnissen aufwuchs („Außer Bibel und Gesangbuch gab es keine Bücher“), zum leidenschaftlichen Bücher-Mensch? Alles Zufall? Oder gibt es so etwas wie bibliophiles Schicksal?
Als junger Sortimenter in der Albert’schen Buchhandlung in Freiburg liefen ihm Größen wie Heidegger, Marie Luise Kaschnitz oder der von Potsdam in die Nähe von Staufen gezogene Peter Huchel über den Weg – für Keicher, Jahrgang 1943, öffnete sich ein literarischer Raum, den er so nicht gekannt hatte. 1973 machte er sich in Warmbronn als Antiquar selbstständig. Den Grundstock bildete eine tolle Expressionismus-Bibliothek, einige tausend Bände, die er im Renault R 4 von Straßburg herüberspedierte. Den eigenen Verlag gründete er im Herbst 1983 auf Schloss Scheer an der Donau, los ging’s mit Herbert Heckmann, Werner Dürrson, Hannelies Taschau und Johannes Poethen.
1986, kurz nach der Rückkehr ins Warmbronner Gehäus’, startete Keicher die legendäre Reihe „Roter Faden“: Schwarze Büchlein im Schulheft-Format, rotes Titelschild, gebunden mit dem titelgebenden roten Faden – Wagenbachs „Quarthefte“ oder Kurt Wolffs Reihe „Der jüngste Tag“ lassen grüßen. Nach 44 Bänden war 1996 mit Matthias Politycki („Der böse Einfluss der Bifi-Wurst“) Schluss. Für Keicher begann die anfangs „ungeliebte Computerzeit“, doch der Qualität seiner Produktion tut das keinen Abbruch. Jedes der zwischen 24 und 40 Seiten starken Hefte hat seine eigene Typografie, dazwischen sind Fotos oder Grafiken einmontiert. Oft gibt es ein farbiges Fontispitz, dass der „Künstler-Verleger“ (Dieter Henrich) selbst einklebt.
Wulf Kirsten, den der Schriftsteller Hermann Lenz (1913 – 1998) persönlich nach Warmbronn empfahl, wurde zum wichtigen Vermittler für viele kritische Geister aus der DDR – vom jungen Lutz Seiler bis zu Volker Braun oder Wolfgang Hilbig. Nachdem Keicher – wie hat er das nur geschafft? – in manchen Jahren an die 20 Titel herausbrachte, sind es heute vier. Mit Bänden von Michael Krüger, Erdmut Wizisla und Heinrich von Berenberg hat eine neue Reihe begonnen, in der Matthias Bormuth Autoren und Verleger ins Gespräch zieht – unter dem Titel „Die Straße ist nicht meine Welt“ erschien hier 2019 auch ein tiefenbohrender Dialog mit Ulrich Keicher. Eine von ihm 2003 bei Wallstein herausgegebene Werkausgabe setzt dem literarischen Außenseiter Christian Wagner ein Denkmal. Im eigenen Haus sorgen derweil immer wieder ungeplante Bücher dafür, dass man dem Verleger seine bald 80 Jahre nicht anmerkt. „Eigentlich wollte ich ja schon aufhören“, sagt er lachend. „Aber nach diesem tollen Preis kann ich das doch nicht bringen.“ In Warmbronn wird also weiter gedruckt, geschnitten, gefalzt und gebunden. Eine Broschur mit Texten des ganz, ganz frühen Kurt Wolff hat die Werkstatt eben verlassen.
Das Forum Die Unabhängigen, in normalen Zeiten Messe-Magnet mit halbstündig getaktetem Programm, verlegt die Kurt Wolff Stiftung für Leipzig liest extra in den digitalen Raum; aus dem Lindenfels Westflügel wird gestreamt. Am Samstag, 29. Mai wird die Premiere von „Die Unabhängigen – Spätausgabe“ ab 19.30 Uhr live im Garten des Leipziger Literaturhauses stattfinden: Mit Martina Hefter, Ally Klein, Nastasja Penzar, Amanda Lasker-Berlin, John Sauter und Tilman Spengler lesen sechs Autorinnen und Autoren aus ihren neuen Romanen, Erzählungen und Lyrikbänden. Musik macht die Leipziger Swingband Hot Club d´Allemagne. Der Eintritt ist frei, Anmeldung unter tickets@literaturhaus-leipzig.de.
„Wir und sie“ lautet das Motto im dritten Jahr des Buchmesseschwerpunkts „Common Ground. Literatur aus Südosteuropa“. Ebenso gut hätte er „Wir bleiben dran“ heißen können, sagt Angelika Salvisberg vom Kultur-Netzwerk Traduki, dessen größtes Projekt „Common Grund“ ist. Mit dem auf drei Jahre angelegten Projekt wollten Traduki und die Leipziger Buchmesse ab März 2020 die Schwerpunktregion einem breiteren Publikum näherbringen. Obwohl sich der gestaltete Messe-Stand pandemiebedingt noch nicht in Leipzig materialisiert hat und viele Aktivitäten in den digitalen Raum ausweichen mussten, hat sich „Common Ground“ in Corona-Zeiten mit bewundernswerter Zähigkeit durchgesetzt. Nun haben die Macher ins UT Connewitz eingeladen – seit den Nullerjahren zu Messezeiten so etwas wie ihr erweitertes Wohnzimmer. Dass es hier Mitte März trotz der abgesagten Buchmesse sehr lebendig werden wird, daran ließen Angelika Salvisberg, die slowenische Autorin Nataša Kramberger, der Buchblogger Tino Schlench und Buchmesse-Direktor Oliver Zille keinen Zweifel.
In Zeiten, wo wir erschreckender Weise einen Krieg in Europa erleben, ist es für Buchmesse-Direktor Oliver Zille extrem wichtig, dem „Kriegs-Narrativ einen Verständigungs-Narrativ entgegenzusetzen“. Dass die Leipziger Buchmesse mit ihrer besonderen Geschichte eine geradezu ideale Ost-West-Drehscheibe und „Türöffner“ für den deutschsprachigen Buchmarkt ist, gilt spätestens seit den Länderschwerpunkten ab Mitte der 1990er Jahre (Rumänien: 1998/2018, Bulgarien: 1999, Slowenien: 2007, Kroatien: 2008, Serbien: 2009) als Gemeinplatz. Die „Balkannacht“, die 2008 erstmals das UT Connewitz abheben ließ, gehört in diese Reihe, ebenso der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, mit dem regelmäßig auch Welt-Autor:innen aus der Balkanregion geehrt wurden, denken wir nur an Aleksandar Tišma (1996), Bora Ćosić (2002), Dževad Karahasan (2004) oder Mircea Cărtărescu (2015). „Für uns ist das eine der wesentlichen Linien der Buchmesse“, sagt Oliver Zille, „und diese Verständigungs-Arbeit wird ein Kern unserer Bemühungen bleiben“. Eine Herkulesaufgabe, die nur mit langem Atem und vielen Partnern zu stemmen ist. Genau hier setzt das Literaturnetzwerk Traduki an, das 2008 am Rande der Leipziger Buchmesse gegründet wurde. Kein Wunder, dass „Common Ground“ für Zille so etwas wie ein „Booster unserer Gesamt-Idee“ ist.
Annähernd 30 Autorinnen und Autoren, Verleger und Balkan-Expert:innen sind vom 17. Bis 20. März live im UT Connewitz und online zu erleben. Spannend und ungeplant brandaktuell dürfte bereits die Eröffnung werden: Hier trifft der Autor Norbert Mappes-Niedick („Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht“, Ch. Links) auf den Grünen-Politiker Manuel Sarrazin und Ralf Beste, neuer Leiter der Abteilung für Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amts (18. März, 20 Uhr, UT Connewitz). Unter dem provokanten Titel „Die verschissene Zeit“ (Residenz) entführt uns die serbisch-österreichische Autorin Barbi Marković ins Belgrad der Neunziger (20. März, 11 Uhr, UT Connewitz); der bulgarische Star-Autor Georgi Gospodinov stellt mit „Zeitzuflucht“ (Aufbau) seinen neuen Roman vor (20. März, 13 Uhr, UT Connewitz). Online zu erleben ist auch die slowenische Autorin Nataša Kramberger, die aus ihrem autofiktionalen Roman „Verfluchte Misteln“ (Verbrecher Verlag) lesen wird. Die Schriftstellerin und Öko-Landwirtin betreibt im Sommer in Slowenien mit dem Öko-Kunstkollektiv Zelena Centrala einen kleinen biodynamischen Bauernhof, im Winter lebt sie in Berlin, wo sie den slowenisch-deutschen Kulturverein Periskop leitet (19. März, 19 Uhr).
Zu den Transporteuren der Literaturen Südosteuropas, die in Leipzig mitmischen, gehört auch der im brandenburgischen Prenzlau geborene, heute in Wien lebende Buchblogger Tino Schlench. Schlench, der noch im letzten Herbst beim Internationalen Lyrikfestival Meridian Czernowitz in der Ukraine hospitierte, startete 2018 den Instagram-Account Literaturpalast, zu dem inzwischen auch eine eigene Website und der Audiospur-Podcast gehören. In Leipzig wird Schlench zwei Südosteuropäische Lyrikerinnen vorstellen – die Bulgarin Marianna Georgieva und ihren Band „ausweg“ (Edition Korrespondenzen) und die Albanerin Luljeta Lleshanaku mit „Stadt der Äpfel“ (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser). Nachzuhören ist das Ganze später dann im „Literaturpalast“ (19. März, 13.30, UT Connewitz). Ausklingen wird „Common Ground“ im dritten Jahr endlich wieder mit der heiß geliebten „Balkannacht“ – den Soundtrack liefert das Trio Pantaloons in einem Mix aus elektronischer Tanzmusik und einem Hauch von Jazz, Funk, Breakbeat und Dubstep. Verständigung, die ins Bein geht. Wetten, dass das eine lange Nacht wird?
Katharina Raabe hat Autoren wie Juri Andruchowytsch, Joanna Bator, Katja Petrowskaja oder Andrzej Stasiuk hierzulande einem großen Publikum bekannt gemacht und viele Übersetzungen aus Osteuropa angeregt. Seit 2000 kümmert sich die Lektorin und Literaturvermittlerin für Suhrkamp um den Aufbau des osteuropäischen Programms. Wir erreichen Sie in ihrem Charlottenburger Ladenbüro an Tag zwei des in der Ukraine ausgebrochenen Kriegs.
Frau Raabe, wissen Sie, wie es „Ihren“ Autorinnen und Autoren im Kriegsgebiet gerade geht?
Katharina Raabe: Sie werden überrannt von Anfragen, die sie kaum meistern können. Sie schreiben alle. Serhij Zhadan ist im Osten, in Charkiw, er hat für die „Zeit“ eine kurze Reportage geschrieben. Und Kateryna Mishchenko sitzt mit ihrem kleinen Jungen und ihrem Mann direkt am Regierungsviertel in Kiew, ich erreiche sie jetzt gerade nicht. Gestern haben wir noch via FaceTime telefoniert, sie musste das Gespräch dann abbrechen, auch Kiew wird ja jetzt beschossen. Aber auch sie versucht zu schreiben.
Sie selbst haben vermutlich auch alle Hände voll zu tun?
Raabe: Wir bereiten bei Suhrkamp ein neues Buch mit Juri Andruchowytsch vor, der in Iwano-Frankiwsk lebt… dort ist der Flughafen bombardiert worden. Für den morgigen Samstag haben wir im Gorki-Theater spontan eine Solidaritätsveranstaltung organisiert: Berliner Autorinnen und Autoren lesen Texte von ihren ukrainischen, belarussischen und russischen Kollegen. Viele, viele haben spontan zugesagt, ohne Honorare, ohne Verträge: Das reicht von Hertha Müller und Durs Grünbein bis Julia Franck… Deniz Yücel wird aus dem gestern begonnen Tagebuch seines Journalistenkollegen Juri Durkot lesen, der in Lemberg wohnt. Johannes Kirsten, der Dramaturg, hat das ganz schnell eingeschoben, innerhalb einer Stunde hatten wir alle Zusagen beisammen – so etwas funktioniert wahrscheinlich nur zwei Tage, nachdem ein Krieg in Europa ausgebrochen ist. In dieser Art entstehen gerade ganz viele Aktionen, quer durch Deutschland. Und natürlich wollen alle gern ukrainische Autoren einladen. Inzwischen wurde jedoch die Generalmobilmachung erklärt, Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht mehr verlassen.
Wer hier in der warmen Stube vor Fernseher, Radio oder Notebook sitzt, fühlt sich eher ohnmächtig und glaubt, nichts tun zu können…
Raabe: Man kann sehr viel tun. Im Grunde geht es darum, dass alle Berufsgruppen ihre Netzwerke aktivieren und verstärken. Und sich darauf vorbereiten, dass wir vielen Menschen sehr schnell werden helfen müssen. Wenn es so kommt wie befürchtet und Russland die ukrainische Regierung durch ein Marionetten-Regime ersetzt, dann wird der Terror um sich greifen. Dann werden die Menschen, die wir gut kennen – Intellektuelle, Schriftsteller, sichtbare Oppositionelle, in großer Gefahr sein. Für sie müssen sehr schnell Orte gefunden werden – das geht von ganz handfesten Unterkünften bis zu Arbeitsmöglichkeiten an Unis, Akademien, Instituten. Es muss sehr schnell eine Infrastruktur geschaffen werden.
Wir haben uns im März in schöner Regelmäßigkeit auf der Leipziger Buchmesse in der Nähe des „Café Europa“ getroffen. Wie sehr vermissen Sie es, gerade in dieser Zeit?
Raabe: Die Messe in Leipzig stand immer auch für die Sichtbarkeit der Ukraine. Denken Sie an Martin Pollak und den von ihm ab 2012 kuratierten „tranzyt“-Schwerpunkt mit Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus. Denken Sie an Jury Andruchowytsch, der 2006 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Leipzig ist der Ort, um all diese Literaturen sichtbar zu machen! Umso schöner, dass nun doch eine ganze Menge stattfinden kann…
Sie organisieren am 17. März mit Suhrkamp einen langen Abend an der Leipziger Stadtbibliothek…
Raabe: Richtig. In diesem Rahmen werde ich die ungarische Autorin Andrea Tompa (*1971) vorstellen. Sie stammt aus dem rumänischen Klausenburg und hat mit „Omertà“ einen grandiosen, von Terézia Mora übersetzten Roman vorgelegt. In der Stadtbibliothek wird auch die 1981 in Minsk geborene, schon lange in den USA lebende Lyrikerin Valzhyna Mort auftreten, sie hat gerade ein Stipendium in Italien. Beide Autorinnen sind auch bei „Geschichten von Frauen“, einer von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Veranstaltung im Leipziger Literaturhaus am 18. März dabei. Da sich aber unter dem Druck der Ereignisse jetzt sehr viele Leute verbinden, können quasi stündlich neue Termine und Aktionen dazukommen.
Sprachlos die Sprache verteidigen. Lesen für die Ukraine
Gorki Theater Berlin. Samstag, 26.2.2022, 16 Uhr. Die Veranstaltung wird gestreamt.
Suhrkamp Verlagsabend mit Magdalena Schrefel, Simone Buchholz, Philipp Ther, Andrea Tompa, Valzhyna Mort, Heike Geißler, Yannic Han Biao Federer und Emine Sevgi Özdamar | Stadtbibliothek | 17. März, 18 Uhr
Geschichten von Frauen – Gespräche über Emanzipation mit Lana Bastašić, Alida Bremer, Nino Haratischwili, Terezia Mora, Valzhyna Mort, Katerina Poladjan, Andrea Tompa und Lea Ypi | Literaturhaus Leipzig | 18. März, 15 Uhr
Bücher aus der und über die Ukraine im Programm des Suhrkamp-Verlags: mehr erfahren
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