Autor: Nils Kahlefendt

Thomas Böhm (rechts) und Christoph Siems (Mitte) bei der Premiere des Norwegischen Lesekreises in Leipzig (c)nk

Der Dauerglücksfall
25. November 2024
Norwegen, das Gastland der kommenden Leipziger Buchmesse, wirft kräftige Schatten voraus: Gerade wurde in Sachsen der erste Norwegische Lesekreis gegründet – ein Beispiel, das Schule machen soll.
Autor: Nils Kahlefendt

Thomas Böhm (rechts) und Christoph Siems (Mitte) bei der Premiere des Norwegischen Lesekreises in Leipzig (c)nk

Der Dauerglücksfall
25. November 2024
Norwegen, das Gastland der kommenden Leipziger Buchmesse, wirft kräftige Schatten voraus: Gerade wurde in Sachsen der erste Norwegische Lesekreis gegründet – ein Beispiel, das Schule machen soll.

Auf dem Tisch in der Grieg-Begegnungsstätte liegt ein Stapel Bücher, daneben griffbereit Wasser und Säfte. Um den Tisch ein knappes Dutzend Frauen und Männer, die sich bereits ein Exemplar vom Stapel genommen haben und neugierig blättern, erste Sätze miteinander wechseln. Die Gruppe kennt sich nicht, auf den Abend-Termin Mitte November ist man wahlweise über eine Kreuzer-Anzeige, den Newsletter der Grieg-Begegnungsstätte, Instagram, oder Facebook gestoßen. Eine Buchhändlerin ist dabei, eine Theaterfrau, sogar eine Übersetzerin aus dem Norwegischen. Worum geht es? Die Leipziger Buchmesse im kommenden März, bei der Norwegen Gastland ist, wirft ihre Schatten voraus. „Und so wollen auch wir auf den besonderen Schwerpunkt der norwegischen Literatur vorbereiten“, sagt Christoph Siems, privat eifriger Leser und Geschäftsführer der Begegnungsstätte. „Ab sofort laden wir, in Zusammenarbeit mit NORLA, einmal monatlich zu einem norwegischen Lesekreis in unseren Salon.“ 

In der Leipziger Talstraße werden nicht nur Partituren gelesen (c) Grieg-Begegnungsstätte e.V.

Lesekreis? Thomas Böhm, 2019 Projektkoordinator des norwegischen Gastlandauftritts in Frankfurt und auch diesmal beratend im Vorbereitungs-Team für Leipzig, erklärt, warum es geht. Beim Gastlandauftritt in Leipzig stehe das Gespräch über Bücher im Mittelpunkt. Auf der Suche nach Formaten, die Menschen verbinden, sei man, unter anderem, beim guten, alten Lesekreis gelandet. In Köln, wo Böhm von 1999 bis 2010 das Literaturhaus leitete, gehörte er zehn Jahre einem Lesekreis an – am Ende fühlte man sich dort so aufgehoben „wie in einer Familie“. Eigentlich, so Böhm, sei Lesen ja eine sehr private Beschäftigung, der man sich in der Regel allein, im stillen Kämmerlein, hingibt. Nun auf Gleichgesinnte zu treffen, die das gleiche Buch lesen, sei eine „Ausnahmesituation“, die durch den Lesekreis „zum Dauerglücksfall“ werde: „Ganz so, als hätte man das Buch mit den Augen aller anderen gelesen“. 

Die Idee von NORLA: Bis März soll in neu gegründeten Lesekreisen aus der Fülle der norwegischen Literatur geschöpft werden – egal, ob Klassiker oder Novitäten. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren können dann spätestens im März 2025 zur Leipziger Buchmesse getroffen werden. Wieso aber avancierte die Grieg-Begegnungsstätte in der Talstraße 10 zum Gründungsort des deutschlandweit ersten norwegischen Lesekreises? Wer über die Begegnungen zwischen Deutschland und Norwegen spricht, kommt an der Adresse buchstäblich nicht vorbei. Das hat zum einen mit der Musik zu tun: Der Norweger Edvard Grieg hatte nicht nur in der Musikstadt Leipzig studiert, er war zeitlebens mit dem hier ansässigen Musikverlag C. F. Peters verbunden. In der Beletage des Verlagssitzes in der Talstraße gaben sich Berühmtheiten wie Grieg, Johannes Brahms oder Max Reger die Klinke in die Hand, Grieg hatte im Dachgeschoss sogar eine eigene Gästewohnung. Mit der 2005 eröffneten Grieg-Begegnungsstätte folgte man dem ausdrücklichen Wunsch Henri Hinrichsens (1868-1942) – dessen Bemühungen um seinen „Hauskomponisten“ ist es zu verdanken, dass wir heute auch einen Norweger zum Kern der Musikstadt Leipzig zählen.

Seit 2005 ist die Wohnung im ersten Stockwerk mit einer Ausstellung zum Leben Griegs und mit einem historischen Konzertsalon aus der Zeit um 1900 für das Publikum geöffnet. Außerdem gehören Lesungen, Vorträge, Empfänge und Workshops zu den Vereinsaktivitäten, häufig mit dem Fokus auf Norwegen, der Geschichte des Musikverlages C. F. Peters oder dem Musikleben Leipzigs. Gelegentlich gibt es dort aber auch literarische Sternstunden – so wie zur Leipziger Buchmesse 2024: Regina Kammerer, Verlagsleiterin von Luchterhand und btb, ist im März für ihr Engagement für die norwegische Literatur und Kultur und die deutsch-norwegischen Beziehungen zum Ritter 1. Klasse des Königlich Norwegischen Verdienstordens ernannt worden. Der Verdienstorden wurde 1985 durch König Olaf V. von Norwegen gestiftet. Zu den Gästen in der Talstraße gehörte auch Karl Ove Knausgård, der für die Laudatio eigens aus London angereist kam. Kammerer hat sich jahrzehntelang für Stimmen aus Norwegen stark gemacht und dabei Bestseller wie Maja Lunde oder eben Knausgård ermöglicht, sich aber genauso auch um die Veröffentlichung bislang weniger bekannter Autoren wie etwa Kjell Askildsen verdient gemacht. 

Lesekreis-Auftakt mit Bestsellerautor Tore Renberg (c)nk

Für den Auftakt des Leipziger Lesekreises haben Thomas Böhm und NORLA auf den druckfrischen Roman eines der populärsten norwegischen Autoren gesetzt: „Die Lungenschwimmprobe“ von Tore Renberg (Luchterhand) spielt im barocken Leipzig des Jahres 1681 und ist, akribisch recherchiert, nach einer wahren Begebenheit erzählt: Die junge Anna Voigt sieht sich dem schlimmen Vorwurf ausgesetzt, ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Ihr Vater beauftragt einen jungen Rechtsgelehrten namens Christian Thomasius mit ihrer Verteidigung, dazu findet sich ein Arzt, der Annas Verteidigung auf wissenschaftliche Füße stellen will – der Fall gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin. Als Renberg 2018 auf die Geschichte der Anna Voigt stieß, begann er Deutsch zu lernen, um selbst in sächsischen Archiven, Museen und Kirchenbüchern recherchieren zu können. Bis kurz vor Weihnachten werden die Mitglieder des frisch aus der Taufe gehobenen Leipziger Lesekreises „Die Lungenschwimmprobe“ gelesen haben – was bei einem Roman, den „Aftenposten“ schon mal als „rauschendes Lesefest“ bezeichnet hat, kein Problem sein dürfte. Im März, kurz vor der Buchmesse, wird man Tore Renberg dann zum Stadtspaziergang auf Anna Voigts und Christian Thomasius’ Spuren treffen.

Wir möchten Buchhandlungen und Lesekreise in ganz Deutschland für norwegische Literatur gewinnen!

Thomas Böhm

 

„Darüber hinaus“, so wünschen es sich NORLA und Thomas Böhm, „möchten wir Lesekreise und Buchhandlungen in ganz Deutschland animieren, sich mit norwegischer Literatur zu beschäftigen.“ NORLA wird in den kommenden Wochen Lesekreis-Materialien vorbereiten, Norwegische Autorinnen und Autoren sind bereit, in Buchhandlungen zu lesen UND begleitend in Lesekreisen aufzutreten. „Die Initiative“, so Böhm, „kann dabei von der Buchhandlung oder vom Lesekreis ausgehen. Wir freuen uns über jede Anfrage.“ 

Der norwegische Lesekreis Leipzig trifft sich einmal im Monat, donnerstags 19 Uhr, in der Grieg-Begegnungsstätte, Talstraße 10. Nächster Termin ist der 19. Dezember 2024. 

Kontaktadresse für Buchhandlungen/Lesekreise, die norwegische Literatur kennenlernen möchten: norwegischerlesekreis@gmx.de

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