Autor: Nils Kahlefendt

Wir müssen uns nach vorn bewegen
14. Dezember 2021
Buchmesse-Direktor Oliver Zille über das neue Normal, steile Lernkurven und den Stand der Planungen für den Mai 2021.
Autor: Nils Kahlefendt

Wir müssen uns nach vorn bewegen
14. Dezember 2021
Buchmesse-Direktor Oliver Zille über das neue Normal, steile Lernkurven und den Stand der Planungen für den Mai 2021.

Wie motivieren Sie sich in diesen Zeiten des Stop-und-Go zwischen Lockerung und Lockdown?

Oliver Zille: Nach der Buchmesse im März 2019 dachte ich mit einem gewissen Bedauern: Ist es nicht schade, dass das meiste von dem, was wir tun, gebaut und fertig ist, man für Neues kaum noch Zeit hat? Vielleicht ist es vermessen, aber für mich ist die Corona-Krise auch eine Möglichkeit, zu bremsen und zwingend zu reflektieren: Was sind die Dinge, die wir hier wirklich gut können, die uns ausmachen?

Wie geht es Ihrer Mannschaft?

Zille: Wenn wir andere überzeugen wollen, in diesen Zeiten an der Leipziger Buchmesse teilzunehmen, müssen wir selber so klar wie möglich sein. In diesem Sinn beschreiben wir alle seit Ende Februar, Anfang März eine ziemlich steile Lernkurve. Die Veränderungen passieren mit einer solchen Geschwindigkeit, dass man sich nur durch permanente Kommunikation mit anderen ein Bild machen kann. Als ich den ersten Kunden im Sommer von unserem Plan berichtete, Ende Mai 2021 an den Start zu gehen, sagten mir einige: Sie wissen doch, wie die Branche funktioniert – wir kommen mit den neuen Büchern im Januar, Februar, März! Heute sagen meine Gesprächspartner von damals: Der richtige Schritt! Ein wenig kommt mir das vor wie unser in den Neunzigern von nicht wenigen beargwöhnter Umzug aufs neue Messegelände. Solche Entscheidungen lassen sich nicht dekretieren – sie müssen der Seelenlage der Aussteller und Partner zumindest in Teilen entsprechen. Miteinander reden ist das A und O. Dass uns unsere Kunden momentan eher aufbauen, mit ziemlich viel Hoffnung und Optimismus betanken, ist ein Riesen-Bonus und gibt meiner Mannschaft und mir den nötigen Rückenwind.

Was ist das neue Normal? Was Ihre Projektion für den Mai 21?

Zille: Wir versuchen, vom Gefühl, von der Optik, vom ganzen Habitus der Veranstaltung so nahe wie möglich an die Idee der Leipziger Buchmesse zu kommen, wie wir sie kennen. Der entscheidende Punkt ist, dass alle Akteure, die mit uns gemeinsam diesen Weg gehen wollen, die Werkzeuge dafür finden, auch in diesen schwierigen Zeiten Sichtbarkeit für Literatur herzustellen, ihre Autor:innen ins Scheinwerferlicht zu bringen, ihr Publikum zu bedienen.

Wir hoffen auf Lockerungen in der warmen Jahreszeit, aber die Pandemie wird nicht verschwunden sein…

Zille: Auf dem Messegelände brauchen wir mehr Zeit für Hygiene-Maßnahmen, mehr Personal, zugleich haben wir entschieden, in der Regel keine Veranstaltungen an den Ständen zu ermöglichen – all das wird zu einer Halbierung der Slots für Veranstaltungen führen. Für die Verlage bedeutet das, dass sie sich sehr konzentrieren müssen, was sie wirklich im Gepäck nach Leipzig mitbringen. Was unser Lesefest „Leipzig liest“ in der Stadt betrifft, evaluieren wir gerade, welche Orte unter Corona-Bedingungen bespielbar sind. Wir brauchen Orte, die ein Hygiene-Konzept haben und das auch umsetzen können. Viele unserer Partner haben uns bereits signalisiert, dass sie strengen Standards genügen – und unbedingt dabei sein wollen. Gleichzeitig suchen wir nach Orten, an denen Veranstaltungen unter freiem Himmel möglich sind – das reicht vom Open-Air-Kino in der Feinkost über den Biergarten von Ilses Erika bis zum großartigen Garten des Literaturhauses.

Das Herz der Messe schlägt bei der Verleihung der großen Preise – wird es die in physischer Form geben?

Zille: Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2021 wird zur Messeeröffnung am Abend des 26. Mai an den britischen Essayisten, Schriftsteller und Fotografen Johny Pitts für sein Buch „Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa“ (Suhrkamp) verliehen – und zwar live. Die Laudatio hält die Lektorin, Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge. Im Rahmen des Festaktes wird auch László Földényi, der Preisträger von 2020, nachträglich geehrt. Die feierliche Bekanntgabe und Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse findet diesmal am Messefreitag, 28. Mai, zur üblichen Zeit um 16 Uhr statt – in der Kongresshalle am Zoo.

Die Gretchenfrage: Inwieweit wird sich das Publikum mobilisieren lassen? 2019 kamen 210.000 Besucher…

Zille: Nach dem von September bis Anfang Oktober gültigem Hygiene-Konzept könnten wir die Hälfte der Besucher, die wir bislang auf dem Messegelände hatten, zulassen. Das sind rund 100.000, pro Tag 25.000. Wenn es eine physische Messe geben kann, sind wir überzeugt, dass man diese Besucherzahl gut verkraften kann. Wir setzen auf die Strahlkraft unseres Programms, der Autorinnen und Autoren, und sind uns sicher, dass diese Zahl erreicht werden kann.

Gibt es Projektionen für die Nutzung der Freiflächen?

Zille: Auf den Freiflächen nördlich der Hallen 2 und 4 wollen wir geballt das Außengelände bespielen; wir planen, eine Art Agora einzurichten, wo wir bestimmte Veranstaltungsformate bündeln können.

Wie kommuniziert man in diesen volatilen Zeiten mit Verlagen, denen im Pandemie-Jahr zwei Buchmessen weggebrochen sind? Was sind deren Erwartungen?

Zille: Im Kreis der Konzernverlage ist die Affinität zu digitalen Ergänzungen deutlich größer als bei den kleineren, unabhängigen Verlagen, die das Gros unserer Aussteller bilden. Grundsätzlich sind sich alle aber in einem Punkt einig: Man setzt fest darauf, dass es eine physische Messe gibt, Tenor: Wir brauchen eine Messe, wo sich Menschen persönlich treffen können!

Zeigt sich dieser Wunsch in der Bereitschaft, an der Messe teilzunehmen?

Zille: Entgegen mancher Erwartungen gehen täglich Anmeldungen bei uns ein. Wir haben aktuell etwas mehr als 40 Prozent unserer Fläche belegt; im Normalbetrieb wären es zum heutigen Zeitpunkt etwas mehr als 50 Prozent gewesen. Allerdings gibt es keine Vergleichbarkeit: Die Messe findet ja erst Ende Mai statt, also zehn Wochen nach dem gewohnten Termin. So gesehen ist das kein schlechtes Ergebnis, die Stimmung in den Häusern ist doch sehr optimistisch.

Nach dem bisherigen Verlauf der Pandemie möchte man ständig zuwarten: auf Impfstoffe, aufs Frühjahr, auf schönes Wetter und fallende Infektionszahlen. Final entscheiden müssen Sie zu einem Zeitpunkt, an dem wir noch nicht über den Berg sind – wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Zille: Wir stehen, zugegeben, vor vielen Herausforderungen, aber das ist eine der ganz großen. Wir haben im letzten März gesehen, welche Friktionen bei der kurzfristigen Absage einer Messe entstehen können. Ich setze darauf, dass die Impfstrategie greift – und sich nicht nur auf die konkreten Zahlen des Pandemieverlaufs, sondern auch auf die Stimmungslage in der Gesellschaft auswirken wird. Die Buchmesse durchzuführen heißt ja nicht nur, dass der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig ihre Genehmigung geben – sondern dass die Leute ein sicheres Gefühl beim Besuch der Veranstaltung haben.

Erzwungene Beschränkungen im Live-Programm lässt zwangsläufig über digitale Angebote nachdenken. Welchen Weg verfolgen Sie da?

Zille: Die Stärken der Leipziger Buchmesse, ihr Markenkern – die neuen Titel des Frühjahrs, unsere Autor:innen, schließlich das Interesse und der Spaß des Publikums, sich mit Literatur auseinanderzusetzen – sollen im digitalen Auftritt auf einer zentralen Plattform gespiegelt werden. Wir wollen in erster Linie Themen, Autor:innen, Novitäten spielen und dabei den Buchhandel, die Medien und das Publikum mit einbeziehen. Dazu ein kleines, feines kuriertes Programm, das Traffic auf der Seite erzeugt. Es wird also eine ‚digitale Verlängerung’ der Leipziger Buchmesse geben, ohne diese im Maßstab eins zu eins abbilden zu wollen. Eine zentrale Rolle, das hat zuletzt Frankfurt gezeigt, wird die Kooperation mit den öffentlich-rechtlichen Medien spielen. Die hatten wir schon immer, sie wird sich aber nun konsequent ins Digitale erweitern. Im Januar soll das Konzept so weit stehen, dass wir mit den Verlagen in Detailgespräche gehen können.

Ganz ohne Geld ist der digitale Ausbau nicht zu haben…

Zille: Wir werden kräftig investieren. Und setzen gleichzeitig darauf, dass sich auch die Verlage bewegen. Dank der Mittel aus dem „Neustart Kultur“-Fördertopf der Bundesregierung können wir den physischen Messeauftritt der Aussteller über rabattierte Standgebühren unterstützen. Wenn das hier gesparte Geld auch in digitale Projekte zur Flankierung des physischen Auftritts fließen würde, wäre das toll. Verlage müssten dann nicht mehr ausgeben als vor Corona, könnten aber trotzdem digital punkten. Mit einer digitalen Ergänzung lassen sich auch für die Zukunft Pflöcke einschlagen, die in der Vergangenheit so nicht möglich waren.

Auf der Jahreshauptversammlung des Landesverbands Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bezeichnete ein Verleger die Leipziger Buchmesse Ende Mai 2021 als „Wette auf die Zukunft“. Was würden Sie denen sagen, die nach diesem irren Jahr 2020 noch ein wenig verzagt und unentschlossen in die Zukunft blicken?

Zille: Wir müssen uns nach vorn bewegen. Das gilt nicht nur für Messemacher. In der Bewegung lernt man. Und wird am Ende – mit all dem neu erworbenen Wissen, den gemachten Erfahrungen, den Fehlern – an ein Ziel kommen. Ich werde nicht müde, zu sagen: Lasst uns gemeinsam unter diesen schwierigen Bedingungen das Maximum rausholen – auch wenn wir dafür noch drei Haken mehr schlagen müssen. Wir werden eine andere Leipziger Buchmesse sehen als in den letzten Jahren. Aber sie wird allen, die dabei sind, helfen, in Corona-Zeiten zu bestehen. Wer sich nicht bewegt, ist schon tot!

© Fotos: Carmen Laux (Literaturhaus Leipzig), Tom Schulze (LBM), Nils Kahlefendt

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