Bei Leipzig liest halten sich Vorfreude und Qual der Wahl regelmäßig die Waage – auch für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Buchmesse-Teams. Wir haben deshalb in den letzten Tagen noch einmal Bücherstapel durchforstet, Tablets, Smartphones, Haftnotizen und Kladden gesichtet – und für Sie die spannendsten Veranstaltungen abseits des Mainstreams zusammengetragen. Ob Alexander von Humboldts funkelnde Texte, eine Fantasy-Kneipenwanderung, Künstliche Intelligenz, tschechischer Pop oder lyrisches Vorglühen fürs 2021er Gastland Portugal – Leipzig liest ist so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher. Wir sehen uns!
Die ganze Welt in einem Buch | Christin Hofmann, Projektassistentin Fachausstellung 7. Bibliothekskongress Leipzig 2019″
Alexander von Humboldts Schriften erschienen vor über 70 Jahre in mehr als einem Dutzend Sprachen auf fünf Kontinenten. Allerdings sind 97 Prozent dieser Texte seit seinem Tod nie ediert und gedruckt worden. Die im Sommer erscheinende Berner Ausgabe hebt diesen Schatz. In einer Welt, die zunehmend an dem Stellenwert des Buches zweifelt, wollen die Kollegen von dtv hiermit ein Zeichen: Zehn Bände, 12 Millionen Zeichen, zehn Kilo! Bereits zur Buchmesse bringt „Der andere Kosmos“ eine Auswahl von 70 Texten aus 70 Jahren von 70 Orten, die Humboldts Werk und Leben exemplarisch abbildet. Verlegerin Claudia Baumhöver, die beiden Herausgeber Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich sowie Gert Scobel als Moderator sind dabei, wenn die Mammut-Edition im Völkerkundemuseum multimedial vorgestellt wird – großes Kino! (Alexander von Humboldt: Der andere Kosmos. Buchpräsentation und Empfang. 23. März, 20.30 Uhr, Museum für Völkerkunde zu Leipzig).
Der Körper als Schlachtfeld | Von Bilyana Miková, Praktikantin
Die Romane von Radka Denemarková, die die dunklen Flecken europäischer Geschichte ausleuchten, wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Als einzige tschechische Autorin wurde sie drei Mal mit dem renommierten Literaturpreis Magnesia Litera ausgezeichnet. Bereits ihr Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ (2009), war inhaltlich und stilistisch provokant, ohne in konventionellen Urteilen stecken zu bleiben. Er handelt von Gita, einer jungen Frau, die aus dem Konzentrationslager in ihr böhmisches Dorf zurückkehrt, von den Dorfbewohnern verjagt, nach 60 Jahren wiederkommt und abermals auf Hass und Ablehnung stößt. Provozierend irreführend ist bereits der Titel ihres aktuellen Romans „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude“. Was als Kriminalroman beginnt, führt bald in ein von drei älteren Damen geführtes Archiv, in dem tausende Fälle von Misshandlung und Vergewaltigung protokolliert sind – Dokumente aus der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die unmittelbare Gegenwart. „Wir haben kein Gedächtnis – wir sind das Gedächtnis“, schreibt Denemarková über ihre Heldinnen. Ein Buch, das in Tschechien bereits 2014 erschien – und durch die #MeToo-Debatte brandaktuell ist. (Radka Denemarková: Ein Beitrag zur Geschichte der Freude. 22. März, 19 Uhr, Alte Nikolaischule, Richard-Wagner-Aula).
Phantastische Bierwesen | Lea Peterknecht, Projektassistentin Ausstellerservice
Ich kann mir keine bessere Kombination vorstellen, als phantastische Geschichten plus gutes Bier in zwei Leipziger Lokalitäten – und dazu die Möglichkeit, die Kalorien direkt wieder bei einer Kneipenwanderung entlang der KarLi abzubauen. Wir begleiten die Autoren Simona Turini, Torsten Scheib und Carolin Gmyrek. Los geht’s in der Getränkefeinkost in der Härtelstraße, Endstation ist das Dr. Hops – Leipzigs Craft Beer Kneipe, die die legendäre Wärmehalle Süd abgelöst hat. (Phantastische Bierwesen. Lesung und Kneipenwanderung mit Simona Turini, Torsten Scheib und Carolin Gmyrek. Start 23. März, 20.15 Uhr, Getränkefeinkost. Eintritt 15.- Euro, inklusive drei Bier und Snacks).
In Schlumpfhausen | Sassette Scheinhuber, Projektassistentin MCC
Für die Schlümpfe zog der spanische Zeichner Miguel Diaz Vizoso im Jahr 2000 eigens nach Belgien. Seitdem führt er das Werk des großen Meisters Peyo kongenial fort und hat den verspielt-knuffigen Stil der blauen Zwerge perfektioniert. Mit DÃaz Vizoso, der aufgrund optischer Ähnlichkeiten manchmal liebevoll Gargamel gerufen wird, holt der Splitter Verlag zum wiederholten Mal einen der wenigen offiziellen Zeichner der „Schlumpf“-Comics nach Leipzig. Nicht nur bei Kindern sind die oft eng am Zeitgeist orientierten Geschichten der Schlümpfe beliebt – aber Miguel lässt generell niemanden am Stand vorbei, ohne dass er ihm eine persönliche Zeichnung geschlumpft hat. Mir hat Miguel eine Sassette gezeichnet – denn ja, genau von der Kinder-Fernsehserie sind meine Eltern bei der Wahl meines Vornamens inspiriert worden. Vertraut also jemandem, dem die Arbeit für die Manga-Comic-Con buchstäblich in die Wiege gelegt wurde! (Miguel Diaz Vizoso: Zeichenstunde – Wie zeichne ich einen Schlumpf? 22. März, 11 Uhr, Lesebude 2).
Vorglühen für Portugal | Kerstin Grüner, Projektmanagerin International, Musik, Buchkunst und Grafik
Was für ein schöner Name: „niemerlang“! Dabei handelt sich’s um eine Lesereihe, die das ganze Jahr über in Leipzig stattfindet: Alle zwei Monate lesen, kuratiert von einer dreiköpfigen Redaktion, im Café Tunichtgut in der Kolonnadenstraße Autorinnen und Autoren Lyrik, Prosa und dramatische Texte. Wichtige Bestandteile einer „niemerlang“-Lesung sind ein kurzes Autoren-Gespräch und die Einladung eines musikalischen Gastes, zumeist Singer-Songwriter*innen. Was mich als Leserin mit einem Faible für übersetzte Dichtung besonders freut: Zur Leipziger Buchmesse findet jedes Jahr ein Lyrik-Spezial der Reihe statt, wo neben deutschsprachigen Neuerscheinungen auch internationale Dichterinnen und Dichter vorgestellt werden. Am Buchmesse-Samstag sind das – in Kooperation mit der Botschaft von Portugal – die portugiesischen Lyriker Raquel Nobre Guerra und João LuÃs Barreto Guimarães. Ein wunderbarer Vorgeschmack auf unser Gastland im März 2021! (niemerlang-Lyrik-Spezial. Mit Tom Schulz, Alexander Graeff, Raquel Nobre Guerra, João LuÃs Barreto Guimarães u. a. 23. März, 19 Uhr, Café Tunichtgut).
Spiegel der Vielfalt | Von Leonie Höffner, Praktikantin
Was für ein tolles Projekt: Seit zehn Jahren bieten die „Stimmen Afrikas“ Autorinnen und Autoren vom afrikanischen Kontinent und aus der afrikanischen Diaspora eine Bühne in Köln. Die Gäste stellen ihre auf Deutsch erschienenen Romane, Geschichten und Gedichte vor, anschließend wird mit dem Publikum diskutiert: Ein gescheiter Gegenentwurf zu dem immer noch verbreiteten Stereotyp des entweder bedürftigen oder übermäßig romantisierten Kontinents. Mit Okwiri Oduor wird eine von zehn Autorinnen, deren Texte in der Jubiläums-Anthologie „Imagine Africa 2060“ (Peter Hammer Verlag) versammelt sind, nach Leipzig kommen. Oduor, 1988 in Nairobi (Kenia) geboren, gewann 2014 den einflussreichen Caine Prize for African Writing und studiert derzeit kreatives Schreiben an der Universität Iowa (USA). Mit der Kölner Kulturmanagerin Christa Morgenrath, Begründerin von „Stimmen Afrikas“, spricht Oduor über ihr literarisches Schaffen – und die Bedeutung, die afrikanischer Literatur heute zukommt (Imagine Africa 2060: Okwiri Oduor im Gespräch mit Christa Morgenrath. 21. März, 19 Uhr, naTo).
Chor der Stimmen | Von Michiko Wemmje, Projektmanagerin Fokus Bildung, Manga-Comic-Con
Zwei Ziffern nur, von denen uns 100 Jahre Geschichte trennen: „1919“. So hat der Hörspielmacher und Autor Herbert Kapfer sein neuestes, im Münchner Kunstmann Verlag erschienenes Buch genannt. Obwohl aus unzähligen dokumentarischen Texten montiert und aus fotografischen, literarischen, politischen und privaten Quellen gespeist, klingt dieser in 123 Kapitel untergliederte Erzählstrom eher wie ein Roman. Aus der Sicht von Soldaten, Rückkehrern, Gymnasiasten und Zeitungsverkäufern blicken wir in eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Mit diesem Kaleidoskop an Gedanken und Ideen zeigt uns der Autor Strömungen, die oft nur im Rückblick zu erkennen sind. Ich bin gespannt, wie uns Kapfer in seiner umfassenden Schilderung eine Zeit im Umbruch nahebringt, die in ihrer rastlosen Gedankenwelt ein wenig an unser Heute erinnert – und vielleicht auch etwas darüber verrät? (Herbert Kapfer: 1919. 21. März, 19 Uhr, Sächsische Akademie der Wissenschaften).
Franz, Jaroslav & Autotune | Von Julia Lücke, Referentin Presse
In Tschechien genießt die Kafka Band um Sänger und Zeichner JaromÃr 99 (bürgerlich: JaromÃr Å vejdÃk) und Autor Jaroslav RudiÅ¡ längst Kultstatus. Die beiden, bekannt geworden durch ihre Graphic Novel „Alois Nebel“ und deren Verfilmung, haben hier einige der renommiertesten tschechischen Musiker um sich geschart, Mitglieder von Bands wie „Priessnitz“ oder „Tata Bojs“. Die Kafka Band ist zusammengekommen, um Literatur in Klang und Rhythmus zu verwandeln. Nach „Das Schloss“ ist „Amerika“ das zweite Romanfragment Kafkas, das die Band vertonte. Ursprünglich entstand die Musik erneut für eine Inszenierung am Theater Bremen unter Regisseur Alexander Riemenschneider, die zwei Spielzeiten lang erfolgreich lief. Der Sound der siebenköpfigen Band hat sich seit ihrer „Schloss“-Adaption deutlich verändert: Der Ton ist kühler, maschineller geworden, synthetische Klänge, Vocoder und elektronisches Schlagzeug bekommen mehr Raum. Wenn Jaroslav und seine Jungs die Regler nach rechts drehen, wird die Schaubühne Lindenfels wackeln. Rockiger, so viel steht fest, wurde ein Gastlandauftritt noch nie eröffnet (Kafka Band: Amerika. 20 März, 21 Uhr, Schaubühne Lindenfels).
Das nächste große Ding | Von Doreen Rothmann, Programmkoordination Leipzig liest
Wenn es um Künstliche Intelligenz geht, wird mit Superlativen nicht gespart. KI ist in aller Munde und umfasst verschiedene Dinge: Maschinelles Lernen, den Nachbau neuronaler Netze, Spracherkennungsprogramme, autonomes Fahren, Big Data in der Medizin oder das Durchleuchten von Schuldnern. Ein Trendthema also. Die einen entwerfen Schreckensszenarien und prognostizieren den Wegfall von mindestens 40 Prozent der aktuellen Jobs in den nächsten 20 Jahren. Die anderen feiern KI als die lang ersehnte Schlüsseltechnologie für mehr Wachstum – und Arbeitsplätze. Werden Roboter zukünftig Geld verdienen? Und wie erwirtschaftet das Individuum sein für das kapitalistische Gesellschaftssystem notweniges Eigenkapital? Dem IT-Experten Timo Daum geht es in seiner Flugschrift „Die Künstliche Intelligenz des Kapitals“ (Edition Natilus) nicht um Panikmache, sondern um eine gültige linke Kritik der KI auf dem aktuellen Stand der Forschung. Ein interessantes Buch für diejenigen, die bereit sind, über die Notwendigkeit alternativer Wirtschaftssysteme und Reformen im Sozialwesen nachzudenken (Timo Daum: Die Künstliche Intelligenz des Kapitals. 21. März, 19 Uhr, Telegraph Club).
Ein Haus, ein Jahrhundert | Von Kristin Naumann, Projektassistentin Ausstellerservice
Ein Gespür für zeithistorische Themen und Menschen mit bewegenden Schicksalen hat die gebürtige Berlinerin Regina Scheer (*1950) schon entwickelt, als sie in der „Spandauer Vorstadt“ in Mitte zur Schule ging. Später schrieb sie ein Buch über die vergessene Geschichte ihres Schulhauses. Als Journalistin, Lektorin und Buchautorin hat sie immer wieder lebendige Geschichte erforscht und literarisch beschrieben. Nach mehreren Büchern zur deutsch-jüdischen Geschichte legte sie 2014 mit „Machandel“ ihren ersten Roman vor. Für dieses gekonnt gewobene multiperspektivische Zeitmosaik, das deutsch-deutsche Geschichte von den 30er bis in die 90er Jahre verarbeitet, erhielt sie den Mara-Cassens-Preis 2014. Mit „Gott wohnt im Wedding“ (Penguin) wendet sich Scheer nun dem Stadtteil zu, in dem sie seit 2009 selbst lebt: dem ehemals roten, inzwischen schon mal als „Problem-Kiez“ verrufenen Wedding. Lange hat sie hier das Erzählcafé im Bürgersaal Malplaquetstraße geleitet – gut möglich, dass ihr dabei die ein oder andere Lebensgeschichte zugefallen ist? (Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. 21. März, 19.30 Uhr, Buchhandlung Südvorstadt).