Buchstadt im Glück: Seit einem Vierteljahrhundert wird der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung vergeben; seit 2005 im Rahm der feierlichen Buchmesse-Eröffnung im Gewandhaus. Der bis auf den letzten Platz gefüllte große Saal, das mitreißend aufspielende Gewandhaus-Orchester, das diesmal mit Janacek, Smetana und Dvorak brillierte, der Reigen der Reden – all das hat schon oft beeindruckt. Doch noch nie in den letzten 25 Jahren war die Preisverleihung mit solch intensiven Appellen, Hoffnungen und Mahnungen in Richtung Freiheit und Europa verbunden wie diesmal. Im New Yorker beschrieb Preisträgerin Masha Gessen den Abend im Gewandhaus als Fest lebendiger, demokratischer Debatte: „Man hatte mich gewarnt, dass es ein langer Abend werden würde: fünf politische Reden – Bürgermeister, Ministerpräsident, zwei Minister, der Börsenvereins-Vorsteher -, ehe der erste Schriftsteller das Podium betreten würde. Ich nahm meinen Platz mit einer gewissen Sorge ein. Dann hielt ein Redner nach dem anderen eine kurze, schlüssig aufgebaute, durchdachte Rede. Die Politiker vertraten Parteien mit einigermaßen unterschiedlichen Ansichten, aber alle Ansprachen betonten […] die Krise des europäischen Projektes und die Bedeutung des geschriebenen Wortes in Zeiten großer Unsicherheit. Ich traf ein paar Amerikaner und wir tauschten Klagen aus. Wir hatten soeben politische Reden auf eine Weise erlebt, wie sie sein sollten – substanziell, relevant, verantwortlich -, und uns wurde klar, was Amerika verloren hat.“
Semantik des Zeitgeists: Als der Eiserne Vorhang fiel und in Europa jene Years of Change begannen, die nun einer ganzen Buchmesse-Reihe den Namen gaben, waren Durs Grünbein, Marcel Beyer und Kerstin Preiwuß 27, 24 und neun Jahre alt. Damals schien der Weg zu Freiheit und Demokratie vorgezeichnet. Heute bahnen sich Angst, Wut und Hass durch die Sprache ihren Weg in die Realität hinein. Im völlig überfüllten Café Europa versuchten die drei, den „Semantiken unseres Zeitgeists“ und den Gründen für Sprachlosigkeit wie verbaler Aufrüstung näher zu kommen – verbunden mit der ganz praktischen Frage, wie der Verklärung und Verdrehung der Worte entgegengewirkt werden könnte. Durs Grünbein sieht sich und seine Kollegen auf einer Art „Vogelbeobachtungsstation der Sprache“, als Sprachhistoriker wider Willen, lange Detox-Wortlisten anlegend: „Das tun wir nicht ganz freiwillig, und wir haben dabei nicht die Coolness von Journalisten. Aber wären wir da nicht sensibel, könnten alle unsere Texte misslingen.“ Kerstin Preiwuß erinnerte daran, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Gegensatz zur Sphäre der Politik die Möglichkeit haben, in ihren Texten das Gefühl mit einzubeziehen: „Wir können Konflikte musterhaft am Leben halten – und darauf beharren, dass viele Welten möglich sind.“ Man darf gespannt sein: Der Programmschwerpunkt „The Years of Change 1989 – 1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“, den die Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse veranstaltet, wird in den kommenden beiden Jahren fortgesetzt.
Haltungsfragen: Soll man Bücher mit rechten Positionen moderiert im Laden anbieten – oder erst gar nicht sichtbar machen? Ist die Weigerung, solche Titel im Laden zu haben, tatsächlich eine Art von „Zensur“? Im letzten Jahr kochten nach einer Lesungs-Absage von Margarete Stokowski bei Lehmkuhl in München die Gemüter hoch; ein Panel im Rahmen der von der Initiative #verlagegegenrechts organisierten rund ein Dutzend Veranstaltungen quer durch die Messe-Foren nahm das Dauerbrenner-Thema noch einmal auf. Steffen Ille von Lehmanns in Leipzig, einer 2000-Quadratmeter-Fläche in 1-A-City-Lage, hat Thilo Sarrazin im Regal, Sieferles „Finis Germania“ nicht. „Dezidierte Nazi-Literatur gibt es bei uns nicht. Allerdings müssen am Ende des Tages die Zahlen stimmen – man macht sich etwas vor, wenn man diesen Aspekt außer Acht lässt.“ Im Übrigen warnt Ille davor, die Gatekeeper-Funktion des Buchhandels zu überschätzen: „Großflächen bilden eher einen Diskurs ab, als dass sie ihn steuern.“ Annekatrin Grimm von der Buchhandlung Montag im Prenzlauer Berg hält dagegen: „Wenn ich Bücher neurechter Autoren in den Laden stelle, bewerbe ich sie, gebe ihnen Raum, unterstütze letztlich den Verlag. Es kann doch nicht nur um Geld gehen. Das ist eine Frage der Haltung!“ Vermittelbar sind die Positionen wohl nicht – kultiviert streiten kann man in Leipzig über sie allemal.
Engagierte Kinder- und Jugendliteratur: Raja, Thorben und Moritz von der Jugendliteratur-Jury der Leipziger Stadtbibliothek sind sehr wortgewandte und höfliche Teenager. Doch dass sie Tomi Adeyemis „Children of Blood and Bone“ (S. Fischer), eine Fantasy-Geschichte mit ausschließlich schwarzen Protagonisten, nicht so cool finden, wird rasch deutlich. Dabei räumt das Buch, das 52 Wochen auf der New-York-Times-Bestsellerliste stand, endlich mal ordentlich divers mit dem euro-zentristischen Blick auf. Der Auftritt der jungen Experten war Teil des traditionellen AKJ-Symposion, das diesmal unter dem Motto Politisch positioniert! Engagement und Zeitbezug in aktueller Kinder- und Jugendliteratur stand. Spannend war eine abschließende Diskussionsrunde, die nachfragte, inwieweit Engagement und kritischer Zeitbezug auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt durchdringen. „Wenn ich Sachen von Manja Präkels oder Birgit Weyhe lese“, so der 3sat-Redakteur Michael Schmitt, „häuft sich ein immenser Reichtum an Details an – da brauche ich keine These mehr. Bücher sollten nicht Trends nachlaufen, sondern selber Themen setzen!“
Holocaust-Comic: Auf der Bühne des Ariowitsch-Hauses bläst Walter Famler „Bandiera rossa“ in die Mundharmonika; gemeinsam mit Rudi Gradnitzer vom Wiener Verlag bahoe books stellt er in der Reihe „Jüdische Lebenswelten“ eine Graphic Novel vor, die das Leben von Primo Levi erzählt, jenes italienischen Juden, Widerstandskämpfers und Holocaust-Überlebenden, der am 31. Juli dieses Jahres 100 geworden wäre. Darf man den Holocaust im Comic darstellen? Spätestens seit Art Spiegelmans „Maus“ eine rhetorische Frage, könnte man meinen. Doch noch immer erfordert es Mut, scheinbare Konventionen aufzukündigen.
Wettkampf der Worte: Heißt „Respect the Poets“ nun „Rettet die Polarklappen“, wie die flapsigen Moderatoren und Profi-Slammer Dominik Erhard und Malte Roßkopf nahelegten? Egal, im Forum Politik und Medienbildung ging am Messefreitag das Finale des von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und der Leipziger Buchmesse initiierten Democracy Slam über die Bühne. Die Vorbereitungen für das bei Jugendlichen beliebte Format, das sich vom Poetry Slam ableitet, liefen 2019 im Vorfeld der Buchmesse an verschiedenen Schulen und Bildungseinrichtungen. Unter Anleitung erfahrener Slammer entwickeln Kinder und Jugendliche in Workshops eigene Texte, die sich um Gerechtigkeit, Diversität, aber auch Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit drehen. Die zehn besten Texte wurden dann live auf der Buchmesse vorgetragen.
Medien-Kompetenz: Initiiert von der European Learning Industry Group (ELIG), Ausrichter des „Klassenzimmers der Zukunft“, wurde in Halle 2 der Messe die Werkstatt+ ins Leben gerufen. Ebenfalls mit im Boot: Der Verband Bibliotheken und Organisation Deutschland (BID) und die Westermann Gruppe als großer Schulbuchverlag. Gemeinsam mit Partnern und Initiativen aus Bildung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurde über die Messewoche hinweg mit unterschiedlichen Schulklassen-Gruppen an gemeinsamen Projekten gearbeitet: So produzierten die Jugendlichen etwa Programm für die Social-Media-Kanäle der Buchmesse, lernten ihre eigenen Debatten zu moderieren oder erarbeiteten mit Medien-Profis ein Kriminal-Hörspiel. Die Message: Lernen passiert nicht nur in der Schule – sondern eigentlich auf Schritt und Tritt. Über alle Workshops und Mitmachangebote hinweg zog sich das Thema Medienbildung: Es ging um Fake News und Kinderrechte ebenso wie um Copyright oder Community Building. „Nur wer kompetent mit den Medien umgehen kann, kann sich in der Gesellschaft engagieren und ein selbstbestimmtes Leben führen“, so Buchmesse-Direktor Oliver Zille. In der Werkstatt+ gab es dafür jede Menge Anregungen.
Gefragte Interviewpartnerin: Die New Yorker Autorin Masha Gessen, die zur Buchmesse-Eröffnung mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde (Stefan Hoyer/punctum) | Rappelvoll: Years-of-Change-Podium zur Sprache in einer erosionsgefährdeten Demokratie mit Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß und Marcel Beyer (Tobias Bohm) | Wie politisch ist der Buchhandel: Podium mit Karla Kutzner (Buchhandlung Interkontinental), Steffen Ille (Buchhandlung Lehmanns, Leipzig), Moderatorin Sophie Sumburane sowie Annekatrin Grimm und Daniela Weiß (Buchhandlung Montag), eine Veranstaltung im Rahmen von #verlagegegenrechts (Nils Kahlefendt) | Spezialisten aufs Podium: Die Leipziger Jugendliteratur-Jury zu Gast auf dem AKJ-Symposion (AKJ/Matthias Knoch) | Holocaust als Comic? Aber ja: Walter Famler und Rudi Gradnitzer stellen eine Graphic Novel vor, die das Leben von Primo Levi in Bilder übersetzt (Nils Kahlefendt/bahoe books) | Wettkampf der Worte: Im Forum Politik und Medienbildung ging der Democracy Slam der bpb ins Finale (Leipziger Messe/Tom Schulze) | Medienkompetenz als Voraussetzung für gesellschaftliches Engagement: Impressionen von der Werkstatt+ auf der Buchmesse (Leipziger Messe/Tom Schulze).