Nur Headliner: Während man mittags auf Festivals üblicherweise Bands sieht, deren Namen man noch nie gehört hat, fangen sie bei Lesen für die Demokratie im Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) gleich mit Headlinern an – und bleiben den restlichen Tag auf diesem Niveau. Es ist 13 Uhr, fast noch high noon, und auf der Bühne in der Wächterstraße moderiert Cornelius Pollmer von der „Süddeutschen“ gerade Charlotte Gneuß an, deren Debütroman Gittersee im letzten Jahr unter anderem den „aspekte“-Literaturpreis abräumte und eine veritable Feuilleton-Keilerei darüber auslöste, wer über den Osten schreiben darf und wer nicht. Gneuß macht den Auftakt für einen 12-Stunden-Spendenmarathon, nach ihr sind noch mehr als 20 andere Autorinnen und Autoren zu erleben, von Lene Albrecht, Matthias Jügler und Paula Fürstenberg bis Sophia Fritz oder Dilek Güngör.
Zu erleben sind die literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs, dazu gibt’s Melonen-Bowle. Der Eintritt ist frei, aber alle gesammelten Spenden gehen – über den Leipziger Förderverein Land in Sicht an Projekte in ländlichen Regionen Sachsens, die sich mit ihrer kulturellen und sozialen Arbeit für Weltoffenheit und ein demokratisches Miteinander engagieren. Die Initiative kam von der in Leipzig lebenden Autorin Verena Keßler (*1988), die auch am DLL studiert hat und 2020 mit Die Gespenster von Demmin ein viel beachtetes Debüt hingelegt hat. Sechs Wochen vor der Buchmesse entschloss man sich, die Lesung zu organisieren. „Bücher können die Welt nicht verändern“, sagt Keßler, auf den Veranstaltungstitel angesprochen. „Aber sie können gesellschaftliche Themen aufgreifen, kommentieren. Die Texte stehen dann für sich.“
Widersprüche aufzeigen, neugierig bleiben: In seiner Leipziger Rede zu 35 Jahren Friedliche Revolution und 35 Jahren Grundgesetzt hatte Bundespräsident Steinmeier auch über die Kraft der Literatur gesprochen. Mit Blick auf den einst in Leipzig lehrenden Romanisten Werner Krauss, der Literatur als die „Innenseite der Weltgeschichte“ bezeichnete, sprach Steinmeier von einer ganz besonderen Fähigkeit literarischer Texte: Sie können Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen. Genau darin liege die Stärke einer neuen Generation ostdeutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu Zeiten des Mauerfalls Kinder oder noch gar nicht geboren waren – Anne Rabe, Manja Präkels, Lukas Rietzschel, oder Matthias Jügler nennt Steinmeier stellvertretend. Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen – das gelang dieser zweifellos politisch hoch aufgeladene Buchmesse in ihren besten Momenten.
Die Sprache bringt es an den Tag: Stephan Anpalagan ist der „Lieblingscousin an der Familientafel Deutschland“, das hat Micky Beisenherz mal gesagt, aber wenn er – klug und rhetorisch brillant – mit ein, zwei druckreif formulierten Sätzen den Kern eines Problems freilegt, kann man auch auf einem lärmumtosten Buchmesse-Forum die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hören. Stephan Anpalagan, 1984 in Sri Lanka geboren, aufgewachsen in Wuppertal, ist Geschäftsführer einer Gemeinnützigen Strategieberatung, Lehrbeauftragter an einer Polizeihochschule in NRW, Podcaster und Autor, heimste womöglich die Hälfte der Redezeit auf einem rappelvollen, vom PEN Berlin organisierten Podium am Buchmesse-Sonntag ein, das mit der „aspekte“-Literaturpreisgewinnerin Miku Sophie Kühmel und dem Autor Max Annas eh schon gut besetzt war. Die von Sophie Sumburane moderierte Runde Wie Rechte reden ging vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen im Osten der Frage nach, wie Sprache Radikalisierung beeinflusst – und was andererseits Sprache und Literatur im Kampf gegen Rechtsextremismus tun können. In einer etymologischen Tour de Force erinnerte Anpalagan daran, dass es die Mitte der Gesellschaft und etablierte Medien waren, die von „Döner-Morden“ sprachen und schon bald nach der Selbst-Enttarnung der „Zwickauer Terrorzelle“ um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe deren Selbstbezeichnung „NSU“ übernahmen.
Young Adult: Im Herbst fielen sie schon am Main auf, zur Leipziger Buchmesse sind die Schlangen noch länger geworden. „Cold Heart“, „Delicate Dream“ oder „Fallen Princess“ heißen die meist farbschnittigen Bücher. Befeuert durch die sozialen Medien, ganz vorne Instagram und BookTok – die Büchern gewidmete Variante von TikTok – ist ein veritables Kauf-Fieber ausgebrochen. Nach Jahren der Hiobsbotschaften scheint eine ganze Branche aufzuatmen. Die am Messe-Donnerstag vom Börsenverein veröffentlichte Studie Bock auf Buch! – Wie junge Menschen heute Bücher finden und kaufen zeigt jedoch, dass für mehr als die Hälfte der 20- bis 29-jährigen Leserinnen und Leser Buchhandlungen noch immer eine wichtige Inspirationsquelle sind. Young Adult nennt die Branche das neue Belletristik-Subgenre. Viele Verlage haben Imprints gegründet, um auf der Welle mitzureiten: Piper hat Everlove, Rowohlt das Label Kyss, bei Oetinger heißen sie Moon Notes – Colleen Hoover, eine der erfolgreichsten Autorinnen des neuen Hypes, wird bei dtv verlegt. Bastei Lübbe hat schon 2007 Lyx gegründet. Das Imprint der Kölner sorgt für die wohl längste Schlange, die sich je vor einem Leipziger Verlagsstand materialisierte – Günter Grass im Literaturhimmel könnte neidisch werden.
Poesie der Unzugehörigkeit: „Geschriebene Worte sind wie Fische, die man in den Brunnen einer neuen Wirklichkeit wirft“, meint der Nordmazedonier Nikola Madjirov. „Ihr Zappeln hält das Wasser sauber.“ Für den Titel des TRADUKI-Programms auf der Leipziger Buchmesse haben sich die Organisatorinnen bei eben jenem Dichter-Philosophen bedient – und seinem Essay über die „Unzugehörigkeit“. Ein Gefühl, das oft – und weit übers schreiben hinaus! – ins echte leben lappt. Schmerzhaft kann es sein, wenn man zu den ‚Seinen’ auf Distanz geht, gehen muss. Doch auch schöpferische Kraft kann sich an dem Gefühl entzünden: „ich denke, das ist der stille Fluch der Schriftsteller“, schreibt Madjirov, „die Zugehörigkeit genau in dem Augenblick zu verraten, in dem sie beginnen, sich zugehörig zu fühlen.“
All das wurde auf der Bühne der TRADUKI-Kafana verhandelt, von Newcomern und alten Leipzig-Hasen. Im Café Europa, einer der politischen Buchmesse-Bühnen, organisierte TRADUKI heuer zwei Podien: Eines diskutierte die slowenische Minderheit im faschistischen Italien, das andere die Situation des feministischen Diskurses in Südosteuropa. Und was wäre ein TRADUKI-Programm ohne seine berühmt-berüchtigte Balkannacht? Eben. Im legendären UT Connewitz gaben sich am Messe-Samstag, moderiert von Vivian Perkovic und Amir Kamber, Barbi Marković, Nataša Kramberger, Bojan Savić Ostojić, Rene Karabash und Alexandru Bulucz die Klinke in die Hand. Für heiße Musik sorgte die charismatische kroatische Musikerin Sara Renar.
An die Freude: Nach fünf langen Jahren war es wieder soweit: Die Leipziger Buchmesse und MDR Klassik luden alle sangesfreudigen Menschen ein, gemeinsam mit dem MDR-Rundfunkchor als Buchmessechor zu singen und die Glashalle der Leipziger Messe in einen Konzertsaal zu verwandeln. Unter der musikalischen Leitung von Julia Selina Blank wurde das diesjährige Gastland Niederlande und Flandern mit den Titeln „Sur le pont d’Avignon“ von Vic Nees und „Deo gratia à 36“ von Johannes Ockeghem geehrt. Teil des musikalischen Großerlebnisses war die Schlagzeugerin Vivi Vassileva, die zwei Solostücke zum Besten gab. Nach Karl Jenkins „Adiemus“ verabschiedete sich der Buchmessechor mit Ludwig van Beethovens „Ode an die Freude“. MDR Klassik hat ein ziemlich cooles Making-of Buchmessechor gedreht – unbedingt anschauen, genießen und nächstes Jahr mitmachen!