Welche Rolle spielen die großen Buchmessen, und speziell Leipzig, für einen Verlag wie Satyr?
Volker Surmann: Es war, vor 15 Jahren oder so, für uns wichtig, dabei zu sein, und sichtbar zu werden auf der Messe. Als kleinerer Verlag ist man häufig ziemlich unsichtbar. In diesem Sinne war es für uns ein großer Schritt, nach Leipzig zu gehen – ein Schritt, den wir nie bereut haben. Wir sind auch nie wieder weggegangen (lacht)
Haben Sie einen Stammplatz?
VS: Man findet uns ziemlich verlässlich in Halle 5, unweit der Leseinsel der jungen Verlage… Der Gang ändert gelegentlich seine Bezeichnung, aber der Standort ist mehr oder weniger immer derselbe. Wir teilen uns den Stand seit vielen Jahren mit dem Lektora Verlag aus Paderborn. Inzwischen gibt es in Leipzig auch ein Publikum, das uns ganz gezielt ansteuert.
Besuch von Satyr-Autorin und -Herausgeberin Ella Carina Werner am Stand (2025) (c) Satyr Verlag
Was macht Leipzig besonders?
VS: Wir sind auf beiden großen deutschen Messen präsent. In Frankfurt organisieren wir mit den Verlagen unserer VertriebskooperationBuchkoop Konterbande (Assoziation A, Edition Nautilus, Orlanda und Transit) einen Gemeinschaftsstand; durch die Teilung von Standfläche versuchen wir, die Kosten im Griff zu behalten. Da bin ich selbst auch nicht die ganze Zeit vor Ort; wir teilen uns auch in die Präsenzzeiten. Leipzig gebe ich mir dagegen komplett, obwohl die Hotelpreise dort inzwischen fast mit Frankfurt konkurrieren können (lacht). Aber hier treffen wir auf ein lesehungriges und lesewilliges Publikum. Es ist großartig, wie viele Menschen es gibt, die Lust auf Literatur, Lust auf Bücher haben – und die, auch das merken wir, mit gut gefüllten Portemonnaies auf die Messe gehen.
Verkauf spielt also durchaus auch eine Rolle?
VS: Das ist für alle Indieverlage inzwischen sehr, sehr wichtig. Eine Buchmesse kostet unendlich viel Geld, und leider wird Leipzig auch immer teurer. Die Möglichkeit zu haben, das ein Stück weit zu refinanzieren, ist essentiell. Seit der Freigabe des Buchverkaufs klappt das etwas besser. Neben der partiellen Refinanzierung des Standes merkt man auch sofort, welche Titel gut funktionieren – gerade, wenn die Bücher frisch und neu sind, ist das auch ein großes Testlabor.
Gelebte Leserforschung?
VS: Ja, klar! Man bekommt direktes Feedback: Das spricht mich an, das weniger. Hey, das ist ein geiles Cover! Das bekommt man sonst als Verlag relativ selten. Ich liebe es, in Leipzig zu beobachten, nach welchen Büchern das Publikum greift. Natürlich ist es bitter zu sehen, wenn ein bestimmter Titel schnell wieder weggestellt wird. Man zermartert sich dann den Kopf: Was stimmt da nicht am Backcovertext…?
Ich nehme an, dass Sie auch am Lesefest „Leipzig liest“ teilnehmen. Wie wählen Sie da aus? Die Ressourcen sind ja nicht unbegrenzt…
VS: Wir versuchen immer, Autorinnen und Autoren vorzuschlagen für diverse etablierte Formate, etwa für die L3, die Lange Leipziger Lesenacht in der Moritzbastei. Das hat in den letzten Jahren – ich klopfe auf Holz! – immer funktioniert. Wir haben nicht die Kapazität, groß eigene Veranstaltungen zu organisieren, dafür fehlen uns auch die Leipziger Kontakte. Wenn wir allerdings mit einer guten Idee um die Ecke kommen, unterstützt uns auch das Team von Leipzig liest.
Gibt es Orte, die sich über die Jahre besonders bewährt haben?
VS: Wir haben seit acht Messen eine schöne Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig. Zusammen mit dem Lektora Verlag organisieren wir eine Poetry Slam- und Spoken Word-Veranstaltung in der Diskothek des Schauspielhauses, die wir „Gipfeltreffen der G 4“ nennen – jeder Verlag schickt dazu zwei Autor:innen ins Rennen.
Haben Sie für uns noch ein Leipzig-Erlebnis für uns, dass sich tief in Verlegerhirn und -herz eingeprägt hat?
VS: Sensationell toll war das Gefühl zur ersten Leipziger Buchmesse nach den Corona-Ausfällen. Die Leute waren glücklich, wieder da zu sein. Das war mit Händen zu greifen. Dass sie uns dabei auch die Stände leergekauft haben, war ein sehr angenehmer Nebeneffekt.
Besuch von Autor Thomas Nicolai am Stand (2023) (c) Satyr Verlag
Dr. Volker Surmann, geboren 1972 in Halle/Westfalen, Satiriker, Autor, Vorleser und Verleger. Seit 2010 betreut er als Lektor das Programm des Berliner Satyr Verlags; seit September 2011 ist er alleiniger Eigentümer.
Satyr, fest verankert in der deutschen Lesebühnen- und Poetry-Slam-Szene, wurde 2005 zunächst als Teil eines Kleinkunstnetzwerkes von Peter Maassen gegründet. Mit der Übernahme durch Volker Surmann zog der Verlag aus dem Kreuzberger Graefekiez nach Berlin-Friedrichshain. Die Büroräume in der Auerstraße 23 teilt sich Satyr mit dem Schaltzeit Verlag und dem Sprecher Sascha Tschorn.
Wir leben in Zeiten digitaler Transformation, also frage ich mal provokant: Brauchen wir eigentlich noch Buchmessen? Oder können wir sie uns schenken?
Kristine Listau: Natürlich können wir sie uns ganz und gar nicht schenken! Vor allem die Leipziger und die Frankfurter Buchmesse, dazu eine ganze Anzahl kleiner, feiner Messen wie die „Buchlust“ in Hannover oder die „Kleinen Verlage am Großen Wannsee“ sind wahnsinnig gut für den Verkauf…
Jörg Sundermeier: Messen erhöhen die Sichtbarkeit, das berühmte Wort. Und es ist ja tatsächlich so: In Leipzig zahlen die Leute mehr als 20 Euro Eintritt, damit sie Bücher kaufen dürfen. Im März waren die Tagestickets an zwei Tagen ausverkauft! Eine völlig neue Erfahrung für uns…
KL: Dadurch, dass die Printmedien immer weniger Rezensionen bringen und auch weniger gelesen werden, funktioniert der klassische Weg der Wahrnehmung immer weniger – das leisten jetzt die Messen. In Zeiten, da der stationäre Buchhandel unsere Bücher nicht unbedingt stärker einkauft, sie dort nicht in breiter Front ausliegen, gehen Leute extra auf Buchmessen, um Indies wie uns zu finden.
JS: Dazu gibt es viele Buchhandlungen, die ihre Kundinnen und Kunden sehr gut erzogen haben: Da diskutierst du mit ihnen eine halbe Stunde über dieses und jenes Buch – wenn es aber zum Punkt kommt, heißt es: Das kaufe ich natürlich zu Hause bei meiner Buchhandlung. Respekt!
Gibt es überhaupt noch Buchhändlerinnen und Buchhändler in nennenswerter Zahl auf der Messe?
KL: In Leipzig deutlich mehr als in Frankfurt. Allerdings verfügen kleine Buchhandlungen auch nur über eine dünne Personaldecke – die müssen schlicht und einfach ihren Laden offenhalten.
JS: An den Wochenenden kommen dann doch viele. Jens Fleischer (Buchhandlung Hübener) aus Bremerhaven etwa, den treff’ ich öfter in Leipzig als irgendwo anders (lacht). Dazu kommen viele Jungbuchhändler:innen. Das darf man echt nicht unterschätzen. Etwa Leute wie Otto Ritter (Buchhandlung Ritter, Bad Belzig), der seit letztem Sommer Co-Sprecher des Zukunftsparlaments ist.
KL: Oder die Seiteneinsteiger Tina Kniep und Maximilian Gräber – die stammen eigentlich aus München und haben gerade in Chemnitz die Buchhandlung am Brühl übernommen. Die waren mit ihren langjährigen Vorgängern, Elke und Günther Ebert, hier – und haben quasi die Übergabe bei uns am Stand gemacht.
JS: Und, auch wichtig: Wir lernen auf der Messe Buchhandlungen kennen, von deren Existenz wir zum Teil gar nicht gewusst haben – zum Beispiel „Der Esel auf dem Dach“ aus Wittenberg. Die machen Modernes Antiquariat und Neubuch – und kümmern sich sehr stark um Indie-Verlage.
KL: Ich nehme zurzeit generell viele Seiteneinsteiger im Buchhandel wahr. Diese Leute kommen dann auf die Messe, um zu lernen…
Wenn das Kurt Wolff wüsste: Ein stolzer Jörg Sundermeier (4. v. l.) an der Seite von Dietmar Dath, mit dem 1995 alles begann (c) KWS
… während ihr schon zu den alten Messe-Hasen gehört. Ihr habt die Zeiten des „Berliner Zimmers“ noch erlebt…
JS: Um 2000 waren wir das erste Mal mit unseren Büchern in Leipzig. Wir sind konkret wegen der „Leseinsel der Jungen Verlage“ nach Leipzig gekommen – Gritt Philipp von der Buchmesse hat uns damals angesprochen. Im „Berliner Zimmer“ haben wir 2014 den Kurt-Wolff-Preis bekommen. Dass die Bundesrepublik uns einmal für „Anarchismus und Sozialismus“ auszeichnet – damit war nicht zu rechnen (lacht). Mit dem wunderbaren Detlef Bluhm, dem langjährigen Geschäftsführer des Landesverbands Berlin-Brandenburg, haben wir im „Berliner Zimmer“ die letzten Luftballons zertanzt – damals gab es schon die Pläne für das Forum „Die Unabhängigen“.
Großer Moment: Im März 2019 gewann Verbrecher-Autorin Anke Stelling den Preis der Leipziger Buchmesse – und bewies damit schlagend, dass in Leipzig auch Indies ganz groß rauskommen (c) LBM
KL: Die Café-Bar im Forum „Die Unabhängigen“ – auch das ist Sichtbarkeit! Wir machen manchmal sogar Termine da. Der Espresso ist klasse, die Kolleg:innen sind nett. Und, ja: Dieser lebendige Austausch, das ist der andere große Grund, warum wir auf die Buchmesse kommen. Wir alle stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Wir geben uns gegenseitig Tipps, lachen viel – und heulen auch mal zusammen, wenn’s sein muss.
Gibt es Wünsche, die bislang offen blieben?
JS: Wir stehen super, haben einen mega-guten Platz an der Leseinsel der Jungen Verlage in Halle 5. Unsere Weinempfänge am Messefreitag mit Bahoe Books, Ventil und Voland & Quist sind legendär.
KL: Wenn unser größtes Problem ist, dass wir morgens auch mal mit dem Fachbesucher-Ausweis eine halbe Stunde anstehen müssen, dann haben wir keine Probleme…
Am Anfang wart ihr mit dem kleinstmöglichen Stand in Leipzig…
JS: Inzwischen sind wir bei acht Quadratmeter. Wenn der Stand größer ist, passen mehr Leute rein. Das merkt man an den Verkäufen, den Gesprächen, generell der Atmosphäre. Die Überlegungen mancher Kolleg:innen, eine der beiden großen Messen sausen zu lassen, haben wir nicht. Und: Wir nehmen alle mit, das ist uns wichtig. Wir haben im März schon Schaufenster klargemacht für die 30-Jahre-Aktion – da hatten wir noch nicht mal ein Plakat vorzuzeigen. So etwas funktioniert hier, Leipzig ist ein super Kommunikations-Faktor.
KL: Wir müssen an allen Ecken und Enden sparen. Aber nicht an den Messen!
Das Team des Verbrecher Verlags auf der Leipziger Buchmesse 2025 (c) Verlag
Kristine Listau ist in der Sowjetunion und im Rheinland aufgewachsen, studierte in Frankfurt am Main und arbeitete dort im Kulturamt, wo sie insbesondere für die Organisation und Öffentlichkeitsarbeit von Literaturfestivals und Stadtjubiläen verantwortlich war. In Berlin leitete sie kurz den Veranstaltungsbereich der Stiftung Stadtmuseum Berlin, bevor sie 2014 zunächst Geschäftsführerin und 2016, zusammen mit Jörg Sundermeier, Mitinhaberin und Verlegerin des Verbrecher Verlags wurde.
Jörg Sundermeier, 1970 in Gütersloh geboren, lebt in Berlin. Er betreibt mit Kristine Listau den Verbrecher Verlag (den er 1995 mit Werner Labisch gegründet hat) und ist Autor für diverse Zeitungen und Magazine. Sundermeier war 2015 bis 2021 Vorstand der Kurt-Wolff-Stiftung und 2014 bis 2024 Mitglied im Vorstand des Börsenvereins, Landesverband Berlin Brandenburg. Er ist Gründungsmitglied des PEN Berlin, dessen Board er 2022 bis 2024 angehörte. Zuletzt erschienen von ihm „11 Berliner Friedhöfe, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“ (2017) und das Kinderbuch „Eine verbogene Geschichte“, illustriert von Katrin Funcke (Bahoe Books 2024).
Verbrecher Verlag forever and ever and ever: Im August 2025 wird der Berliner Verbrecher Verlag, dessen Autorin Anke Stelling 2019 mit dem Roman „Schäfchen im Trockenen“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, 30 Jahre alt. Getanzt wird auf unterschiedlichsten Hochzeiten: Im August erscheint unter dem Titel „Verbrecher Verlag Geschichte“ eine bebilderte Verlagschronik. Am 26. September findet ein großes Verlagsfest im Literaturforum im Brecht-Haus statt; weitere Verlagsfeste werden u.a. in Leipzig, Frankfurt am Main oder München stattfinden. Auf seinen Social-Media-Kanälen macht der Verlag – mit dem Hashtag #30jahreverbrecherei versehen – derzeit eine Reel-Aktion mit bekannten Akteur:innen aus dem Kulturbetrieb: Von Simone Buchholz und Klaus Lederer bis Eva Menasse, Sven Regener oder Hengameh Yaghoobifarah.
Trau keinem über 30? Verlegerinnen und Verleger, die nicht nur Bilanzen lesen, sondern auch Bücher entdecken können, hat es immer gegeben. Gegen Konzernkonkurrenz und Massenware setzen die „Independents“, wie sie sich in Analogie zur Musik-Szene nennen, auf sorgfältig zusammengestellte Programme und liebevoll gestaltetes Buchdesign. Ihre Geschichten erzählen von Freiheitsnischen, von geglückter Improvisation und fröhlichen Zufällen. Sie fürchten die Logik der Ökonomie eben so wenig wie die Konkurrenz der Großen. Sie wollen erfolgreich Bücher verkaufen – und doch authentisch, ganz nah bei ihren Lesern bleiben. In Leipzig, wo seit 2001 der Kurt-Wolff-Preis vergeben wird, sind die Indies mit originellen Veranstaltungsformaten und immer wieder neuen, ausgefallenen Veranstaltungs-Orten Magneten fürs Lesepublikum.
Zwischen diese beiden Herren passt kein Blatt Papier: Frank Böttcher (Lukas) und Roman Pliske (mdv). (c) KWS
Herzstück des Indie-Aufgalopps war schon zum achten (!) Mal das Forum Die Unabhängigen in Halle 5. Dort gingen – neben knapp 50 Lesungen und Diskussionen im Halbstundentakt – die Verleihung des Alfred-Kerr-Preises an die Literaturkritikerin Beate Tröger und die des Kurt-Wolff-Preises an Theater der Zeit (Hauptpreis) und den Verlag A • B • Fischer (Förderpreis) über die Bühne. Der Espresso an der Bar wurde (gegen Spende) von leibhaftigen Verlegerinnen und Verlegern ausgeschenkt, die guten Gespräche waren gratis. Und da unabhängige Verlage ohne unabhängiges Sortiment nichts wären, gab’s am Freitagabend den Buchhandelstreff, einen schon zur guten Tradition gewordenen geplanten Flash-Mob, an dem sich beide Branchenteile bei einem guten Drink begegnen konnten. Zum fünften Mal zog das Forum am Messe-Samstag in die Stadt – zur Spätausgabe im Westflügel in Leipzig-Plagwitz. Das Abendprogramm fand in bewährter Weise zeitgleich im Westflügel-Saal und in der Kulturbar „froehlich & herrlich“ statt – manch einer wünschte sich da die Gabe der Bi-Lokalität.
Gute Stimmung im Westflügel: Moderator Jörg Schieke (2. v.l.) mit Autor:innen-Runde (c) KWS
Kulturpolitisch ernst wurde es vor der Verleihung des Kurt-Wolff-Preises (Laudator Friedrich Dieckmann forderte, „aus Achtung vor der Amtlichen Rechtschreibung“, fortan auch die gleichnamige gastgebende Stiftung „unbedingt mit zwei Bindestrichen“ zu schreiben); in Gegenwart der scheidenden Kulturstaatsministerin Claudia Roth schrieb die Stiftungsvorsitzende Katharina E. Meyer (Merlin Verlag) noch einmal allen ins Stammbuch, warum Indie-Verlage „systemrelevant“ sind: Oberflächlich betrachtet, produzieren deren Verlegerinnen und Verleger die Ware Buch, sind also Unternehmerinnen und Unternehmer. „Aber tatsächlich verbreiten sie Inhalte, Geschichten, Ideen, die Leserinnen und Leser anregen und bilden, die diskurste und Gesellschaftliche Debatten begleiten oder anstoßen.“ Systemrelevant sind Indie-Verlage aber auch, weil sie an der Schnittstelle der Kreativwirtschaft agieren und mit ihren Aufträgen eine Existenzgrundlage für eine sehr große Zahl von Freiberuflern in Deutschland schaffen.Um die komplexe Vielschichtigkeit von Verlagsarbeit für Außenstehende transparenter zu machen, hat die Stiftung anlässlich der Leipziger Buchmesse das Plakat„Was macht ein Verlag“entwickelt, umgesetzt von der Berliner Agentur Golden Cosmos.
Sind diese Glückskekse druckfrisch? Das Indie-Dinner ist ein kulturpolitisch-kulinarisches Gesamtkunstwerk. (c) nk
Nach sechsjähriger Hunger- und Durststrecke brachte das Independence-Dinner Medienleute und unabhängige Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen. Der legendäre „Chinabrenner“ von Thomas Wrobel ging in Corona-Zeiten über den Deister, doch nun konnte das Festbankett wieder neu aufleben – in Wrobels neuem Etablissement „Drunken Master“, zu finden auf einem von der Gentrifizierung noch nicht voll erwischten klandestinen Areal zwischen Messegelände und Bahnhof, auf dem es ein wenig ausschaut wie im Leipzig von 1990. So vielfältig und stark gewürzt wie Wrobels Gerichte sind die Programme der unabhängigen Verlage, die nach langer Pause wieder Medien-Leute und Kulturnetzwerker einluden, selbst Denis Scheck („Druckfrisch“) ließ sich nicht zwei Mal bitten. Das kulinarisch-kulturpolitische Gemeinschaftswerk von Hotlist, ARGE Österreichische Privatverlage, Swiss Independent Publishers (SWIPS) und der Kurt-Wolff-Stiftung (KWS) kam heuer, so erklärte Hotlist-Promotor Axel von Ernst (Lilienfeld) durch tatkräftige Hilfe von Dörlemann Satz(Lemförde) zustande. Dem Vorsitzenden des Österreichischen Verlegerverbandes Alexander Potyka (Picus) blieb es vorbehalten, mit einer Legende aufzuräumen – der in schöner Regelmäßigkeit vorgebrachten Behauptung, man sei unabhängig. Das Gegenteil ist der Fall: „Wir sind extrem abhängig! Von unseren Lesern, Autoren, von Buchhändlerinnen und Buchhändlern.“ Und natürlich auch von den so zahlreich erschienenen Kritikerinnen und Kritikern. Letztlich, so Potyka, sitzen Journalisten und Verlagsleute in einem Boot. Den passenden Slogan dafür liefert ihm ein indischer Wirt, der unweit seines Verlags in der Wiener Josefstadt mit diesen Worten wirbt: „Essen Sie bei mir, sonst verhungern wir beide!“
Wer liest, liest sich in die Welt hinein – so brachte es Jury-Vorsitzende Katrin Schumacher unter der Glashallen-Kuppel mit Umberto Eco auf den Punkt: Wer liest, wird 1000 Jahre gelebt haben. 506 Einreichungen aus 166 Verlagen (ein neuer Rekord!) hatten Schumacher und ihre Jury-Kolleg:innen in diesem Jahr zu durchmustern – und beim Lesen für den Preis ist ihnen im Wortsinn die Welt mit ihren Multi-Krisen entgegengekommen; nicht selten wurden die Bücher, über die sie sich beugten, selbst aus Krieg und Verfolgung heraus geschrieben. „Es bleibt schrecklich und unheimlich, in post-normalen Zeiten zu leben“, so Schumacher. „Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, der Stapel der wahnsinnigen Momente wird mit jedem Blick in die Social Media Timeline höher.“
Die siebenköpfige Jury des Preises der Leipziger Buchmesse 2025, am Mikrofon Buchmesse-Direktorin Astrid Böhmisch (c) Tom Schulze, LBM
Fast folgerichtig, dass sich die Jury am Ende für Bücher entschieden hat, die sehr viel mit unserem Hier und Heute zu tun haben, wobei sich die momentan verunsichernden Zeiten auch an vergangenen Krisen spiegeln – von einer „Gegenwartsausgrabung“ war sogar die Rede. Die Frage: Wie gehen wir mit dem, was uns zusetzt, um? Und wie leisten wir, wenn möglich, sogar Widerstand? Der 1978 im Schwarzwald geborene Thomas Weiler erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung für „Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus“ (Aufbau), ein tief verstörendes Stück Oral History, in dem Weiler den Überlebenden eine Stimme gibt. Ein Buch, das im Original vor 50 Jahren erschien, in Deutschland nie zur Kenntnis genommen wurde, aber viel ausgelöst hat: Das Schreiben von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die ebenfalls in Leipzig zu Gast war, geht auf dieses Werk zurück, ebenso wie der Antikriegsfilm des Regisseurs Elem Klimow aus dem Jahr 1985, der in der DDR unter dem Titel „Geh und sieh“ lief. „Ich fand es ziemlich gewagt, so ein Buch, das genretechnisch alle Rahmen sprengt, in der Kategorie Übersetzung zu nominieren“, meint Weiler Richtung Jury in seiner improvisierten Dankrede. Für ihn ist „Feuerdörfer“ ein Buch, das uns hilft, wahrzunehmen, was heute in Belarus und in ganz Osteuropa geschieht, mit welchen Begriffen Schindluder getrieben wird. „In Zeiten, wo Adolf Hitler plötzlich Kommunist geworden ist, schaden historische Texte nicht.“
Beim ersten Highlight der Buchmesse ist die Glashalle zum Bersten gefüllt. (c) Tom Schulze, LBM
Irina Rastorgueva, die mit „Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung“ (Matthes & Seitz Berlin) in der Kategorie Sachbuch/Essayistik gewann, führt mit unerbittlicher Anschaulichkeit vor, wie Putins Propaganda-Maschine funktioniert: Ein toxischer Coctail von dreisten Lügen, Beschimpfungen, Halbwahrheiten ersetzt die russische Wirklichkeit – Steve Bannons Medienstrategie „Flooding the zone with shit“ läuft in Trumps USA durchaus ähnlich. Für die Jury versteckt sich jedoch auch ein Hoffnungsschimmer in Rastorguevas Buch: Es biete auch einen Werkzeugkasten für den Widerstand an, ein Kapitel in Comicform gibt gar sehr konkrete Ratschläge für die Teilnahme an Demonstrationen. „Ein Buch, so drängend und klar, wie es einst Victor Klemperers LTI war.“ Kristine Bilkau, die mit ihrem Roman „Halbinsel“ (Luchterhand) den Preis in der Kategorie Belletristik gewann, war vor zehn Jahren mit ihrem Erstling in Leipzig. Während sie die ersten Interviews ihres Autorinnenlebens gab, spazierten Mann und Kind durch den Leipziger Zoo. Noch heute, das Kind von damals ist fast 18, spült es die Bilder von damals in Bilkaus Smartphone. „Was für ein atemloses Jahrzehnt liegt eigentlich hinter uns“, muss die Autorin dann denken. In ihrem Roman geht es um eine Mutter, die Zuversicht für ihre Tochter retten will – weil sie selbst dieses zuversichtliche Kind dringend braucht, um hoffnungsvoll bleiben zu können. Die 24-jährige sehnt sich allerdings nicht nach „Hoffnungsfloskeln“, sondern nach Aufrichtigkeit bei dem, was in der Welt geschieht. „Für uns Ältere“, so Bilkau in ihren zu Herzen gehenden Dankesworten, „klappen mehr und mehr Gewissheiten zusammen wie Kartenhäuser. Aber für die Jüngeren, die nur diese atemlosen Jahre mit Pandemie, Kriegen, Flucht und Vertreibung, der Klimakatastrophe kennen, ist das schon die ganze Welt. Wir schulden es unseren Kindern, uns besser um die Zukunft zu kümmern.“
Die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse ist immer auch ein besonderes Medienereignis. (c) Tom Schulze, LBM
Politikergrußworte zu festlichen Anlässen sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Manchmal, in seltenen Momenten, gelingt es, uns in dieser Disziplin zu überraschen. Vor zwei Jahren schaffte es der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen, heuer verzauberte uns zu vorgerückter Stunde Lubna Jaffery, Ministerin für Kultur und Gleichstellung des Königreichs Norwegen – mit einer ausgesprochen poetischen Rede und einer ungewöhnlichen Herleitung des Gastland-Mottos „Traum im Frühling“. Jaffery ist in Bergen aufgewachsen, der regenreichsten Stadt Europas, als Tochter pakistanischer Einwanderer – und mit dem Gefühl, dass sich die Welt öffnet, Mauern eingerissen werden. Mit ihrer Schulklasse besuchte sie das Berliner Stasi-Museum, und wurde magisch angezogen von einem Foto, aufgenommen 1987 in Berlin-Pankow: „Es zeigt einen Mann mit einer Tätowierung, auf der steht ‚Nur wenn ich träume bin ich frei’. Vielleicht war es für ihn die einzige Möglichkeit, seinen Traum im Frühling auszudrücken. Wir werden es wohl nie erfahren.“
Poetisch: Lubna Jaffery, Ministerin für Kultur und Gleichstellung des Königreichs Norwegen (c) LBM / Jens Schneider
„Wow, so etwas habe ich noch nie gelesen“, dachte sich Sieglinde Geisel, als sie vor einem Jahr auf einem belarussischen Exilliteratur-Festival das erste Mal in „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič geblättert hatte. Nun hielt die Kritikerin die Laudatio auf Bacharevičs Opus Magnum, in deren Verlauf auch der kongeniale, kürzlich mit dem Celan-Preis geehrte Übersetzer Thomas Weiler donnernden Szenenapplaus erhielt. Geisel warf in ihrer klug abwägenden Laudatio auch ein Schlaglicht auf unseren Betrieb: „Literatur ist immer gefährdet, umso mehr, wenn sie vom Rand Europas stammt. ‚Europas Hunde’ ist im kleinen, unerschrockenen Verlag Voland & Quist erschienen, es ist bereits das vierte Buch in deutscher Übersetzung, und keins der anderen wurde in einem führenden Medium rezensiert.“ Zwar habe Thomas Weiler für seine Übersetzung den Paul-Celan-Preis erhalten, doch der Roman selbst tauchte letztes Jahr auf keiner Long- oder Shortlist auf. „Dass die Jury nun ‚Europas Hunde’ mit diesem Preis ins Licht hebt, ist ein kleines Wunder. Und ein großes Glück.“
Bacharevičs Dankrede, von standing ovations begleitet, war vielleicht die eindrücklichste, seit an dieser Stelle, es war 2006, Juri Andruchowytsch gesprochen hat; unvergessen dessen Bitte an die europäischen Funktionsträger: „keine Botschaften zu senden, die die Hoffnung töten.“
Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit.
Alhierd Bacharevič
Wahre Literatur, so Bacharevičs im März 2025, spricht nicht über Lukaschenka oder Putin. Wahre Literatur spricht über Sprache ‒ und über Zeit: „Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit. Zukunft bedeutet unweigerlich den Tod des Despoten. Wahre Literatur versucht die Realität in drei Dimensionen zugleich zu sehen. Sie spricht gleichzeitig mit denjenigen, die waren, mit denjenigen, die da sind, und mit denjenigen, die noch kommen. Mit Menschen der Vergangenheit, Menschen der Gegenwart, Menschen der Zukunft. Deshalb muss der Schriftsteller historisch denken können. Er muss die ersten Warnsignale erkennen, die Gefahr sehen, lange bevor die Katastrophe eintritt.“ „Europas Hunde“ ist der Versuch, solche Signale zu erkennen und in den kommenden Tag hineinzuschauen.
Das Leipziger Gewandhaus bietet den feierlichen Rahmen für Eröffnung und Preisverleihung (c) LBM / Jens Schneider
Und noch einmal richtete sich an diesem Abend der Scheinwerfer auf den Betrieb, auf unseren Umgang mit Kultur, die oft nur noch in homöopathischen Dosen ausgereicht wird. Bacharevič sieht die große europäische Romankunst bedroht: „Komplexität und Polyphonie, Tiefe und Experiment, Sprache und Geheimnis, die innere Zeit des Romans und seine psychologische Kraft ‒ der moderne Mensch hat immer weniger Lust darauf. Er verlernt langsam zu lesen. Er verliert die Kunst des Romans als eine Kunst der Erkenntnis, er verliert die Kunst des Lesens.“
In Bestform: Das Gewandhausorchester unter Omer Meir Wellber (c) LBM / Jens Schneider
Am Ende dieses erstaunlichen Abends hören wir, großartig interpretiert vom Gewandhausorchester unter Omer Meir Wellber, „Morgenstimmung“, komponiert von Edvard Grieg für Henrik Ibsens berühmtes Stück „Peer Gynt“. Grieg, der hier in Leipzig studierte, hat die Magie der Morgendämmerung eingefangen, wie uns Lubna Jaffery vom Ministerium für Poesie nahebringt. „Wenn man genau hinhört, kann man fast die Vögel bei Tagesanbruch singen hören“, sagt sie, „ein untrügliches Zeichen für Frühling und Hoffnung“. Buchmessedirektorin Astrid Böhmisch hat das letzte Wort. Das „wilde, schöne Durcheinander der Literatur“ – es kann beginnen.
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