Oliver Graute, Jahrgang 1971, feiert jährlich mit den Stars der phantastischen Literatur Bilbo und Frodo Geburtstag. Der Verleger, Autor und Künstler bezeichnet sich selbst gerne als Renaissancemenschen. Heute lebt das Multitalent irgendwo zwischen Mannheim und Leipzig und arbeitet nicht nur an neuen phantastischen Projekten, sondern rief auch 2011 die Phantastische Akademie e. V. mit ihrem Literaturpreis SERAPH zur Förderung der phantastischen Literatur ins Leben.
Herr Graute, zunächst einmal die für viele Leser sicherlich interessanteste Frage: Warum wurde der deutschsprachige Literaturpreis für Phantastik SERAPH ins Leben gerufen? Was ist seine Geschichte?
Wenn ich ganz ehrlich bin, dann war es pure Frustration. Ich habe mich jahrelang darüber geärgert, dass das Genre bei renommierten Literaturpreisen bestenfalls randständig war. Die Preise für phantastische Literatur kannten damals nur Wenige. Doch sind wir ehrlich, was soll ein Preis, den niemand kennt? Ich dachte also: „Das muss besser gehen“, und telefonierte ein wenig herum, bis ich genügend Mittäter hatte, die ich von meiner Idee überzeugen konnte. So gründeten wir 2011 die Phantastische Akademie e. V.
Was sind die größten Herausforderungen bei der Organisation? Wie lange braucht man, um die Veranstaltung zu planen und zu koordinieren?
Unsere Arbeit endet natürlich nicht mit der Preisträgerlesung. Die harte Phase beginnt Anfang des vierten Quartals jedes Jahres. Wenn die Verlage von uns erinnert werden, dass es an der Zeit ist, die Einsendungen zu schicken. Das ist ein logistischer Albtraum. Glücklicherweise gehen auf unsere Initiative hin immer mehr Verlage dazu über, uns die Titel in digitaler Form einzureichen. So können wir die Jury schneller mit den Titeln versorgen und produzieren keine hohen Kosten. Die Koordination war früher natürlich eine viel größere Herausforderung, als sie es jetzt ist. Man wächst bekanntlich an seinen Aufgaben. Wir arbeiten also de facto gut ein halbes Jahr an der Veranstaltung mit allem Drum und Dran.
Der SERAPH wird 2018 auch in der Kategorie „Bester Independent-Autor“ verliehen. Wie ist es zu dieser Idee gekommen? Wurde sich bewusst für eine Ausweitung entschieden oder ist dies auf Publikumswünsche zurückzuführen?
Wir haben schon länger darüber nachgedacht, dass wir ein ganzes Marktsegment und die technologische und wirtschaftliche Entwicklung durch E-Books und Selfpublishing irgendwie mit einbeziehen wollten, wussten aber nicht, wie wir das mit unseren personellen Mitteln schaffen sollten. Glücklicherweise ist der Preis inzwischen so etabliert, dass wir weitere Menschen von unserer Mission begeistern konnten. Das Publikum ist wie immer gespalten. Die einen freuen sich darüber, dass der SERAPH in einer weiteren Kategorie verliehen wird, andere fühlen sich nicht ernst genommen, weil sie keinen Unterschied zwischen einem Buch sehen, das in Selfpublishing erschienen ist und einem, das bei einem Verlag publiziert wurde. Wir sehen das ein bisschen anders.
Traditionsgemäß werden die Gewinner im Rahmen der Leipziger Buchmesse bekanntgegeben. Wie entstand diese Kooperation?
Uns war von Anfang an bewusst, dass ein Literaturpreis auf einer der beiden großen Buchmessen stattfinden müsse. Da die Leipziger Buchmesse einen deutlich stärkeren Fokus auf den Leser hat und durch das Leipzig-liest-Programm auch ein Happening für alle daraus macht, hatten wir von Anfang an den Wunsch, mit der Leipziger Messe „gemeinsame Sache“ zu machen. Das hat jedoch etwas gedauert. Zwar hatten wir von Tag eins an die Unterstützung der Messe in Bezug auf den Veranstaltungsort der Preisverleihung. Als Sponsor kam die Messe dann vor drei Jahren auf uns zu. Dafür sind wir sehr dankbar. Vor allem, weil es sich richtig anfühlt.
Was sind die Pläne für die Zukunft? Wird der SERAPH in dieser Form auch weiterhin eine alljährliche Tradition bleiben?
Unsere Wünsche werden Stück für Stück wahr. In diesem Jahr konnten wir zum ersten Mal dank der Leipziger Messe auf einen größeren Veranstaltungsort zurückgreifen. In den beiden vergangenen Jahren mussten wir zur Preisträgerlesung im Rahmen der Langen Fantasy-Lesenacht immer wieder Menschen abweisen, weil das wundervolle Theaterhaus Schille bedauerlicherweise aus allen Nähten platzte. In diesem Jahr findet die Veranstaltung im Werk II statt. Was die Zukunft anbelangt, so sind wir natürlich auf die tatkräftige und finanzielle Hilfe Dritter angewiesen. Solange wir das hinbekommen, steht einer glorreichen Zukunft des SERAPH nichts im Wege.
Was ist die schönste Erinnerung, die Sie persönlich mit dem SERAPH verbinden?
Für mich ist die schönste Erinnerung der Blick in die Gesichter der Preisträger bei der Verleihung des Preises. Bislang ist es uns dank der Mithilfe der Verantwortlichen in den Verlagen immer gelungen, dass die Preisträger nichts von ihrem Glück wussten. Dieser Moment ist einfach unbezahlbar.
In der phantastischen Literatur werden Mythen, Symbole interessant und unterhaltsam aufbereitet. Allerdings gibt es auch in diesem Genre Qualitätsunterschiede. Was macht für Sie persönlich einen qualitativ anspruchsvollen und unterhaltsamen Roman des Phantastik-Genres aus?
Natürlich gibt es in der Phantastik, wie in jedem literarischen Genre massive Qualitätsunterschiede. Wir versuchen unseren Teil dazu beizutragen, damit es Lesern leichter fällt, eine Entscheidung zu treffen. Gute Titel fesseln den Leser oft von der ersten Zeile an. Dabei geht es weniger darum, mit der Brechstange nach einem noch nie da gewesenen Handlungsstrang zu suchen, sondern den Leser emotional mitzureißen. Wenn es dann auch noch originell ist, dann hat der Titel echtes Potenzial. Aber der Leser ist natürlich auch aufgefordert Neues zuzulassen, sonst lesen wir immer wieder dieselbe Geschichte, denn der Leser oder der Kunde ist bekanntlich König und auch Autoren müssen von irgendetwas leben.
Wie hat sich das deutschsprachige Phantastik-Genre in den letzten Jahren entwickelt?
Die Szene hat sich nach meiner Auffassung etwas gefestigt. Nach der irrsinnigen Schwemme von Fantasy-Titeln im Fahrwasser der Herr-der-Ringe-Verfilmung und der folgenden Vampir-Mania gibt es nun einen Kader gestandener Autoren, die über die Jahre hin kontinuierlich Qualität bewiesen haben. Problematisch ist der bereits angesprochene Drang der Verlage und Autoren, Trends zu suchen und sich an Erfolge zu hängen. Autoren sollten die Möglichkeit haben, und es auch als ihre Pflicht ansehen, Literatur zu verfassen, die ihnen aus der Seele und dem Herzen spricht, nicht aus den Vorgaben der Marketingabteilungen. Ich bin aber guter Dinge, dass sich in Deutschland auch langfristig eine stabile und gesunde Phantastik-Autorenschaft halten kann.
Inwiefern hat sich die phantastische Literatur in den letzten Jahren mit dem Internet verändert?
Die jüngste Vergangenheit hat natürlich dazu geführt, dass zum Beispiel Selfpublisher die Möglichkeit haben, eine Leserschaft zu finden. So kommen Titel auf den Markt, an die zuvor aus unterschiedlichen Gründen niemand glaubte. Dennoch gibt es unter Umständen einen Markt, den die Verlage nicht gesehen haben. Desweiteren ist es dieser Tage natürlich deutlich einfacher für seine Geschichte zu recherchieren. Was früher in stundenlangen Bibliotheksbesuchen ausuferte oder gar eine Reise nach sich zog, wird nun über Google Earth oder gar VR-Brillen erledigt.
Warum hat die phantastische Literatur im Literaturbetrieb ein eher schlechtes Standing und wird als Eskapismus-Phänomen abgetan?
Das ist eine hochkomplexe Frage, die vermutlich den Rahmen dieses Interviews sprengt. Ich versuche dennoch, mich kurz zu fassen. Weil es Menschen gibt, die mit Metaphern und „um die Ecke denken“ nichts anzufangen wissen und daher eine natürliche Abneigung gegen das haben, was sie nicht verstehen, wäre die einfache Antwort. Ein weiterer Punkt ist die falsche Nutzung der Begrifflichkeiten. Ich denke, die meisten Menschen werden in ihrem Leben einmal phantastische Geschichten gelesen und für gut befunden haben. Was sie möglicherweise abschreckt, ist das, was man in Deutschland unter dem Sammelbegriff Fantasy abtut. Fantasy und Phantastik ist jedoch keineswegs dasselbe. Letzter Punkt und vermutlich der schwerwiegendste ist, dass das schlechte Standing vor allem aus der Branche selbst kommt. Doch auch hier beginnt man in den letzten Jahren stark zu differenzieren. Denis Scheck zum Beispiel, der ein erklärter Freund des Genres ist, hat viel zum besseren Verständnis und zur Anerkennung beigetragen. Er behandelt die Phantastik, wie jedes andere Genre auch mit allen positiven und negativen Seiten. Und das ist gut so.
Verkaufszahlen bestätigen, dass Romane des Phantastik-Genres extrem viel gelesen werden. Was begeistert die Leser an der phantastischen Literatur? Worin sehen Sie ihren Erfolg begründet?
Unsere Leben sind voller hochkomplexer Herausforderungen. Phantastische Literatur, obschon ebenfalls oft überaus komplex in Bezug auf fremde Welten und Technologien, bietet doch meist einfache Lösungen für grundlegende und existenzielle Fragestellungen. Es gibt oft nur Schwarz und Weiß. Dieses Farbschema existiert in der realen Welt jedoch nur sehr selten. Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden. Phantastische Literatur ist nicht schlicht oder anspruchslos. Im Gegenteil. Aber die Epen der Vergangenheit, wie der Gegenwart und vermutlich auch der Zukunft, bestechen durch einen klaren Ablauf und Aufbau. Danach suchen die Menschen. Eskapismus? Vielleicht. Aber was soll daran schlecht sein? Solange man immer wieder mit beiden Beinen auf die Erde zurückkommt, ist gegen einen kleinen Urlaub in fremden Welten doch nichts einzuwenden.
Wer, bitte, ist Thadeus Roth? Dennis Levin, Jahrgang 1981 und aufgewachsen im niedersächsischen Zonenrandgebiet, kennt diese Frage; er knipst, wenn er sie wieder einmal beantworten muss, sein unergründlichstes Lächeln an: Genaues weiß man nicht, soll das wohl heißen. Vermutet werden Roths erste Auftritte in den Kreisen der Situationistischen Internationale, einer Kommunikations-Guerilla, die Mitte der sechziger Jahre mit ihren Aktionen die internationale Kunstwelt und die Popkultur gleichermaßen aufmischte. Ihr englischer Ableger King Mob sorgte für Furore, als eines der Mitglieder, als Weihnachtsmann verkleidet, in einem Londoner Kaufhaus Spielzeug an Kinder verteilte – so lange, bis die Polizei den falschen Santa in Handschellen abführte und die Geschenke einkassierte. Kindertränen flossen reichlich. „Wir vermuten, dass Herr Roth unter dem Bart steckte“, meint Levin, immer noch mit Pokerface. Ob’s stimmt? Egal – es ist eine gute Geschichte. Und Levin liebt gute Geschichten – wie die von jenem geheimnisvollen Reisenden, der seit Jahrzehnten an der Grenze von Fiktion und Realität unterwegs ist.
Suddenlife Gaming
Im wirklichen Leben ist Dennis Levin einer der Geschäftsführer der Leipziger Firma Alternate Reality Strategies (A.R.S.), die seit 2012 unter dem Label Thadeus Roth „Erlebnisgeschichten“ verkauft. Suddenlife Gaming nennen sie das, abgeleitet von „sudden“ (plötzlich) und „life“ (Leben): „Wir benutzen Alltagsmedien – von Brief, Telefon und SMS bis WhatsApp und Facebook – um Menschen überraschend in Geschichten zu verwickeln.“ Die Gründer Dennis Levin und Nicolas Wiethoff kennen sich seit mehr als 15 Jahren, beide studierten in Leipzig Theaterwissenschaften und waren in der Off-Theaterszene der Stadt unterwegs. Alles begann mit einer ein wenig aus dem Ruder gelaufenen Geburtstagsüberraschung für einen gemeinsamen Freund. Statt des üblichen Präsents mit Schleifchen strickten Levin und Wiethoff eine Geschichte um ein mysteriöses Erbe, die sich, mit immer komplexeren Volten, ins Alltagsleben des nichtsahnenden Jubilars schob – gefakte Notariatspost und Anrufe von gierigen Miterben inklusive. Selbst eine ominöse Haupterbin aus USA mit eigenem MySpace-Profil fehlte nicht. Der Showdown dann auf einer Leipziger Industriebrache, wo für das in die Irre geführte Geburtstagskind bereits eine große Party am Laufen war.
Vom Geburtstags-Scherz zur Geschäftsidee
Im Kern zeigte der generalstabsmäßig durchgeplante Streich das Prinzip, nachdem Levin und Wiethoff noch heute arbeiten: „Wir erzählen unsere Geschichten direkt im Leben von Menschen; die Narration setzt auf der Realität auf. Dadurch entstehen überraschende Perspektiven aufs Gewohnte, die Spielwelt wird letztlich unendlich groß.“ Nach dem gelungenen Einstand wurden interaktive Geschichten bald nicht mehr nur aus dem Freundes- und Bekanntenkreis angefragt. Sollte man mehr daraus machen? Neben den Jobs – Levin arbeitete für eine PR-Agentur, Wiethoff war Doktorand in einem Forschungsprojekt zu Neuen Medien – ließ sich das nicht stemmen; zudem brauchte man ein Produkt, dass dem potenziellen Zielmarkt auch preislich gerecht würde. „So viele russische Oligarchen kennen wir leider nicht.“ Ließ sich die in Ansätzen erkennbare Geschäftsidee skalierbar machen? Eine technologische Lösung musste her. Mit Hilfe eines Programmierers wurde ein System entwickelt, das analoge wie digitale Medien in der Dramaturgie der Geschichte automatisch ins Spiel bringt – und mögliche Entscheidungen der Spieler antizipiert. Mit einem Stipendium der Sächsischen Aufbaubank gründeten Levin und Wiethoff ihre Firma – und stiegen zunächst ins Privatkundengeschäft ein. Inzwischen sind vier „Erlebnisgeschichten“ im Angebot, vom interaktiven Krimi für Erwachsene bis zur Piraten-Story für die Kleinen. Ihre Entwicklung dauert, je nach Komplexität, drei bis sechs Monate; in Atem gehalten werden die Spieler damit zwischen drei und acht Wochen.
Mit „Supernerds“ in die Medien
Reichlich Mundpropaganda, gute Medienpräsenz und ein erfolgreiches Pilotprojekt katapultierte Thadeus Roth ins B2B-Geschäft: Im Auftrag der Bremer „Tatort“-Redaktion verwickelten die Leipziger 2014 mehrere tausend Spieler über E-Mails, Postsendungen, Anrufe, SMS, Fake-Websites und Social-Media-Profile in einen spannenden Kriminalfall. „Wir haben eine Nebenfigur aus dem Film zu unserer Hauptfigur gemacht“, erklärt Levin, „zwei narrative Welten waren so miteinander verknüpft“. Die bislang größten Wellen schlug Supernerds – eine Theaterproduktion des Schauspiel Köln mit begleitendem WDR-Themenabend. Thadeus Roth begleitete das Projekt, bei dem es um digitale Überwachung ging, vor, während und nach der Premiere mit maßgeschneidertem Suddenlife Gaming. „Vielen Spielern wurde mit Schrecken bewusst, wie schnell die Kontrolle über die eigenen Daten verloren geht – und wie wichtig es ist, bewusst mit ihnen umzugehen.“ Das Projekt wurde mit dem Eyes and Ears Award für die beste crossmediale Eventkampagne 2015 ausgezeichnet; „Spiegel Online“ sprach von einem „Triumph für das öffentlich-rechtliche Fernsehen“.
Transmedia Storytelling auf der Leipziger Buchmesse
Vor diesem Hintergrund erscheint der Auftritt von Thadeus Roth im Neuland 2.0, dem 2016 aufgesetzten Startup-Village der Leipziger Buchmesse, nur folgerichtig: „Die Verlagswelt ist für uns eigentlich ein natürlicher Partner“, erklärt Levin. „Es gibt guten Content – und den Wunsch nach neuen Produkten und Geschäftsfeldern.“ Neuland bot den idealen Rahmen, auf Tuchfühlung zur Branche zu gehen. Nun soll der nächste Schritt folgen. „Gemeinsam mit der Messe bieten wir Verlagen und Autoren an, transmediale Erzählformen auszuprobieren – und damit den direkten Draht zum Leser herzustellen.“ Für das Format „Kunstprobe“ des Leipziger Schauspiels haben die Story-Teller von Thadeus Roth bereits ähnliche transmediale Wurfsendungen entwickelt. Sind nicht in jedem Buch Botschaften für ‚Echtzeitgeschichten’ versteckt, die man nur zum Fliegen bringen muss? „Stell’ Dir vor, Du erhältst nach der Registrierung im Krimi-Menü unseres Online-Portals die SMS eines gesuchten Mörders, offenbar höchst eilig eingetippt“, schwärmt Levin. „Dann klingelt Dein Telefon – und Fritz Honka ist dran!“ Alte und neue Medien, so die Überzeugung der Leipziger Tüftler, müssen sich nicht ausschließen – im Gegenteil: „Ihr intelligentes Zusammenspiel kann die tollsten Effekte erzeugen.“
Bald Post aus Hogwarts?
Dennis Levin weiß, wovon er spricht. Er liebt Bücher – doch er weiß auch um den Reiz, den ein ins reale Leben verlängertes Lese-Erlebnis haben kann. So hat er, versunken in Paul Austers „New York Trilogie“, die Wege der Protagonisten im Buch auf Google Maps verfolgt. „Ich bin mir sicher, dass die verbundenen Linien die Umrisse eines Füllfederhalters ergeben haben“. Flunkerei? Wie wichtig das Spiel mit haptischen Elementen für die Philosophie des Startups ist, zeigt sich beim Betreten des Thadeus-Roth-Fundus. Eine wahre Wunderkammer mit unzähligen Kartons, in denen, säuberlich beschriftet, die Spiel-Elemente der einzelnen Geschichten lagern: handgeschriebene Briefe auf feinem Büttenpapier, kunstvoll angekokelte Fotos, Muscheln, die sich erst bei genauester Prüfung als Industrieprodukte erweisen. „Wir arbeiten ganz oft mit solchen Elementen. Man kann als Spieler ein kleines Päckchen durchwühlen, Dinge anfassen – dieses auratische Element einer Geschichte ist uns sehr wichtig.“ An einer Pinnwand hängt Fanpost in Krakelschrift: Grüße an Herrn Roth, von kleinen Piraten nach bestandenem Freibeuterabenteuer geschickt. Wo genau verläuft die Grenze zwischen Realität und Fiktion? Wir wissen es nicht. Sollten wir allerdings nächstens in unseren Social Media Accounts über verdächtige Botschaften von Wallander, Kluftinger und Co. stolpern, gar Post aus Hogwarts erhalten – dann könnten wir einen gewissen Thadeus Roth gerade eben zufrieden lächelnd ums Eck biegen sehen: Mission accomplished!
Frau Jennicke, Sie sind in Leipzig, der heimlichen Hauptstadt des einstigen „Leselands“ geboren. Was sind Ihre frühesten Buchmesse-Erinnerungen?
Skadi Jennicke: An die DDR-Jahre der Buchmesse habe ich keine aktiven Erinnerungen mehr, 1989 war ich zwölf.
Und später?
Jennicke: Das Messehaus am Markt, Anfang der 1990er Jahre. Es war extrem voll, dicke Luft im Wortsinn; man durfte, wenn ich mich recht erinnere, dort noch rauchen – vor allem aber Bücher mitnehmen (lacht).
Echt? In Uwe Tellkamps „Turm“ reist man mit eigens präparierten Mänteln nach Leipzig – wo Taschenbücher waren, mussten auch Taschen sein…
Jennicke (lacht): Nein, so war ich nicht unterwegs. Aber man war hier und da eingeladen, sich mit Lesestoff zu versorgen.
1997 zog die Messe vor die Tore der Stadt – wie fanden Sie das?
Jennicke: Für mich war das schon ein gewöhnungsbedürftiger Schritt, obwohl ich natürlich als Studentin regelmäßig hingegangen bin. Irgendwann hat man’s als gegeben hingenommen. Und mittlerweile weiß man die Vorteile sehr zu schätzen. Es gibt schlicht mehr Platz. Wobei es zum Familiensonntag schon ordentlich eng werden kann.
Ihre Kinder sind Buchmesse-Fans wie Sie?
Jennicke: Unbedingt. Ich habe einen größeren Sohn, der 13 wird; meine Tochter wird zehn, die Jüngste sechs. Alle drei wachsen mit vielen Büchern auf. Beim Ältesten gibt es momentan einen computerbedingten Lese-Knick. Aber ich bin überzeugt, das gibt sich. Immerhin steht bei uns kein Fernseher im Wohnzimmer: Dort dominieren, statt des üblichen Multimedia-Altars, Bücherregale.
Lassen Sie uns noch einen Moment bei der Buchmesse bleiben. Welche Rolle spielt sie für Leipzig, das seine Position als führende Verlagsstadt verloren hat – und heute eher als Bach- denn als Buchstadt punktet?
Jennicke: Im Unterschied zu Frankfurt bewegt die Leipziger Buchmesse die ganze Stadt. Das Lesefest „Leipzig liest“ wird von den Leipzigern und ihren Gästen wahnsinnig gut angenommen, es lebt durch die aktive Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger. Sie tragen die Messe in jeden Winkel der Stadt, das ist phantastisch! Wer erlebt, wie Leipzig an den Buchmessetagen im März pulsiert, macht sich über die Unkenrufe vom Tod des Buchs, vom Ende der Lesekultur keine Sorgen. Ich bedaure sehr, dass wir den Ruf als führende Buch- und Verlagsstadt verloren haben – nehme aber wahr, dass es nach wie vor eine Vielzahl von Akteuren rund ums Buch gibt, die tolle Arbeit leisten.
Ihr Amtsvorgänger hatte Literatur qua Beruf auf dem Schirm – wo stehen Buch- und Lesekultur auf Ihrer Agenda?
Jennicke: Ich habe mir für 2017 vorgenommen, das direkte Gespräch mit den Akteuren zu suchen – und zu schauen, was wir künftig gemeinsam auf diesem Feld bewegen können. So gibt es etwa die Anregung, sich für den Titel „World Book Capital“ zu bewerben. Das hat nicht die Stahlkraft eines Kulturhauptstadt-Titels, könnte aber helfen, die einzelnen Akteure in der Stadt besser zu vernetzen. Wir prüfen, ob so ein Schritt sinnvoll wäre. Zunächst wollen wir im Rahmen unserer neuen Veranstaltungsreihe „Impuls Kulturpolitik“ die Vertreter von Institutionen der Buchkultur zusammenbringen; im Anschluss daran wollen wir uns mit den Literatur-Akteuren treffen. Es gibt viel Engagement, das aber häufig noch sehr vereinzelt unterwegs ist. Da würde ich gern mehr Schlagkraft reinbringen – schauen, was man gemeinsam auf die Beine stellen kann. Wir werden den Buchstandort Leipzig sicher nicht zu alter Größe zurückführen können, das wäre vermessen. Dennoch gibt es viele Orte für ein größeres Publikum zu entdecken. Das reicht vom Werkstattmuseum für Druckkunst bis zum Deutschen Buch- und Schriftmuseum in der Deutschen Nationalbibliothek. Mit der DNB, den Städtischen Bibliotheken und zahlreichen Spezialbibliotheken verfügt Leipzig über eine Bibliothekslandschaft, um die uns mancher beneidet. Luft nach oben gibt es vielleicht beim Literaturhaus, was noch nicht den Stellenwert vergleichbarer Institutionen im deutschsprachigen Raum besitzt – obwohl dort übers Jahr qualitativ hochwertig Programm gemacht wird.
Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, meinte Helmut Schmidt. Haben Sie dennoch eine für die Zukunft der Literaturstadt Leipzig?
Jennicke: Da bin ich zurückhaltend. Da ich nicht aus der Literatur komme, kann und will ich nicht mit fertigen Konzepten aufwarten, das wäre vermessen. Es muss sich organisch aus der Landschaft heraus entwickeln. Wer hätte vor fünf oder zehn Jahren geahnt, dass Leipzig so gut dasteht? Viele Visionen von damals, auch kulturpolitische, sind heute schon wieder Makulatur.
Lange hieß es „Leipzig kommt!“. Jetzt ist Leipzig offensichtlich angekommen.
Jennicke: Ich glaube, dass wir eine Großstadtqualität erreichen, wo wir sehr wohl unterscheiden müssen zwischen Bereichen, wo wir mit unserem Kulturangebot überregional und international punkten – zuallererst sind das wohl die Musik und Institutionen wie das Gewandhaus oder die Thomaner, aber in dieser Liga spielt auch die Buchmesse. Darunter entwickeln sich sehr viele hochkarätige Angebote, die eher nach innen, für die Bürger der Stadt, wirken. Man darf andererseits nicht unterschätzen, dass viele auch gerade wegen dieser kleinen, feinen Angebote nach Leipzig kommen. Die gilt es in jedem Fall zu pflegen.
Ende 2019 läuft der Solidarpakt aus, das dürfte auch in Leipzig zu beträchtlichen Einnahmeverlusten führen. Was bedeutet das für das Engagement der Stadt in Sachen Buch? Neben der Buchmesse denke ich etwa an den Literarischen Herbst, den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung oder die Stiftung Buchkunst…
Jennicke: Ich bin vorsichtig optimistisch und verlasse mich auf den Kämmerer der Stadt, der jüngst sagte, dass das Auslaufen des Solidarpakts keine gravierenden Einschnitte für den Leipziger Haushalt bedeutet. Das Damoklesschwert „2019“ ist häufig auch taktisch benutzt worden, um mögliche Kürzungen schon im Vorfeld argumentativ zu begründen. Wir haben Einschnitte in der Leipziger Kulturlandschaft hinter uns, die nahe an die Substanz gingen. Irgendwann ist das Ende der Fahnenstange erreicht.
Als Ausbildungsstandort rund ums Buch steht Leipzig sehr gut da – leider ziehen erfolgreiche Absolventen fast immer weiter, den Jobs hinterher. Wollen Sie Standortpolitik auf dem Buch- und Mediensektor allein der Wirtschaftsförderung überlassen?
Jennicke: Diese Frage habe ich mir so konkret noch nicht gestellt – man muss sie vielleicht perspektivisch auf den Schirm nehmen. Vielleicht ist das ja ein Ergebnis der Akteurs-Runde, die ich einberufen werde. Wenn wir als Großstadt so attraktiv werden, dass die Verlage von selber Signale senden, werden wir das befördern. Es gibt Mut machende Entwicklungen im Bereich der Kreativwirtschaft, dazu viele kleinere Verlage – das Augenmerk sollte stärker darauf liegen, denen beim Wachstum zu helfen, als um große Namen zu buhlen.
Lassen Sie uns beim Thema „Buch“ noch einmal privat werden: Kommen Sie neben ausdauerndem Aktenstudium überhaupt noch zum Lesen?
Jennicke (lacht) Zu wenig. Aber ich lese immerhin gerade den Roman „Kompass“ von Mathias Énard (Hanser Berlin).
Eine dienstliche Verpflichtung? Immerhin erhält der französischen Schriftsteller und Übersetzer im März den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung…
Jennicke: Was Freude an der Lektüre ja nicht ausschließt, oder? Wenn Sie nach wirklicher Freizeitlektüre fragen, muss ich gestehen: Das war noch vor meiner Amtseinführung. Freizeit ist in diesem Amt rar (lacht).
Und was liegt oben auf dem Nachttisch?
Jennicke: „Hier bin ich“, der neue Roman von Jonathan Safran Foer (Kiepenheuer & Witsch).
Immerhin 688 Seiten…
Jennicke: Ja, kein Leichtgewicht, ich weiß. Aber „Alles ist erleuchtet“, der Roman, der ihn berühmt gemacht hat, war auch nicht gerade dünn.
Dr. Skadi Jennicke, geboren 1977 in Leipzig, studierte 1996 bis 2000 Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Sie arbeitete als Dramaturgin in Halle/ Saale, Leipzig, Frankfurt/ Main und als freie Mitarbeiterin bei Deutschlandradio Kultur; seit 2003 war sie Lehrbeauftragte an der HMT Leipzig. Seit 2009 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der sächsischen Linken-Landtagsabgeordneten Cornelia Falken. Seit 2009 engagierte sich Jennicke als Stadträtin und kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion in Leipzig. Einblick in die lokale Kulturpolitik bekommt sie auch als Mitglied im Fachausschuss Kultur und im Betriebsausschuss Kulturstätten. Von 2012 bis 2013 verstärkte sie außerdem die Stadtrats-Arbeitsgruppe Strukturelle Entwicklung der Leipziger Eigenbetriebe Kultur. Anfang Juni wurde sie zur neuen Leipziger Kulturbürgermeisterin gewählt; ihre turnusmäßige Amtszeit beträgt sieben Jahre. Skadi Jennicke ist verheiratet und hat drei Kinder.
Ein eigenes Netzwerk? Brauchen wir das? Was diese Frage anging, war das Meinungsbild in der Szene der deutschsprachigen phantastischen Geschichtenerzähler durchwachsen: Ist die Community nicht klein und übersichtlich, jeder kennt jeden? Vor einem guten Jahr, Mitte November 2015, machten 15 Autorinnen und Autoren Nägel mit Köpfen – und gründeten in Köln das Phantastik-Autoren-Netzwerk (PAN) e. V. Die Resonanz war überwältigend: Aktuell wurde mit dem literarischen Phantasten Christian von Aster („Der letzte Schattenschnitzer“) das 100. Mitglied aufgenommen – und der Zulauf hält an. Kein Wunder, findet PAN-Vorstandsvorsitzende Diana Menschig: „Die Krimi-Kolleginnen haben mit dem Syndikat, das in diesem Jahr 30 Jahre alt wird, und mit den Mörderischen Schwestern gleich zwei starke Vereinigungen; es gibt Delia, den Verein der auf Liebesromane spezialisierten Schriftsteller, oder HOMER für History-Autoren. Wir waren die einzigen Genre-Autoren, die sich noch nicht professionell vernetzt hatten. Wir wollten eine starke, gemeinsame Stimme am Markt. Nach einem Jahr wissen wir, dass wir vielen Kolleginnen und Kollegen aus dem Herzen gesprochen haben – und das unser Genre noch facettenreicher und vielfältiger ist, als viele dachten.“
„Phantastik: Kulturgut oder doch nur gut?“
PAN hat sich auf die Fahnen geschrieben, kulturelle Veranstaltungen oder wissenschaftliche Arbeiten zu unterstützen, Nachwuchsautoren zu fördern und eine Anlaufstelle für Fragen rund um die deutschsprachige Phantastik-Literatur zu sein. Das sind hehre Ziele, doch zunächst ging es darum, eine tragfähige Basis zu bauen – von der Website bis zum Vereinskonto. „Bei uns hat keiner eine Schrebergarten-Vergangenheit“, witzelt Menschig. Obwohl der Verein in den ersten Monaten noch stark mit dem Aufbau der neuen Strukturen beschäftigt war, wurde ordentlich auf die Tube gedrückt: Bereits im April fand unter dem Motto „Die deutschsprachige Phantastik: Kulturgut oder doch nur gut?“ ein erstes Branchentreffen der Szene in Köln statt. Bewusst hatte man statt der üblichen, publikumsoffenen Conventions auf eine Fachkonferenz gesetzt. Neben Autorinnen und Autoren, Lektoren und Übersetzern hatten die PAN-Organisatoren Experten eingeladen, um gemeinsam den literarischen Diskurs über das Genre in Gang zu setzen. Warum findet Phantastik – anders als Krimis oder historische Romane – im Feuilleton kaum statt? Wie ist es generell um die Anerkennung im Literaturbetrieb bestellt, deren Indikator, nicht zuletzt, auch gefüllte Fördertöpfe sind? In der öffentlichen Wahrnehmung, so das Fazit der Tagung, ist noch reichlich Luft nach oben – reichlich Gesprächsstoff für Branchentreffen Nummer Zwei, das für den 20. bis 22. April 2017 in Berlin geplant ist.
Attraktiv für Profis
Zuvor jedoch sind die Netzwerk-Qualitäten von PAN in Leipzig gefragt: Im kommenden März wird der Verein die Betreuung der Phantastik-Lounge auf der Leipziger Buchmesse übernehmen. „In enger Abstimmung mit der Messe wollen wir möglichst viel von den bewährten Strukturen bewahren“, erklärt Diana Menschig. „In der Lounge können Autorinnen und Autoren, abseits des Messe-Getriebes, mit Agenten, Verlegern, Kollegen und Medienvertretern sprechen; selbstverständlich betreuen wir auch die Gäste der benachbarten Fantasy-Leseinsel, für die die Lounge ein willkommener Anlaufpunkt ist“. Um nicht nur fürs breite Publikum, sondern auch für die Profis der Branche auf Dauer attraktiv zu bleiben, setzt die Messe konsequent auf Service für jene, die sich mit dem Transport der Literatur zu den Lesern beschäftigen: Die Lounge-Fläche wird PAN von der Buchmesse bis 2019 zur Verfügung gestellt. Gegenseitiges Vertrauen, ein guter Spirit: Die Community freut sich über phantastische Aussichten in Leipzig.
Schreibtisch-Entzugserscheinungen
Als PAN gegründet wurde, ging man von rund 50 potenziellen Mitgliedern aus, nun ist der Verein schneller gewachsen als gedacht – und muss sich beweisen. „Das Mentoring und die Betreuung junger Autoren in die Spur zu bringen“, sagt Diana Menschig, „ist neben der professionellen Präsentation unseres Genres eines unserer wichtigsten Ziele fürs kommende Jahr“. Gut möglich, dass der engagierten jungen Vorstandsvorsitzenden bei so hochgespannten Plänen auch künftig weniger Zeit fürs Schreiben bleibt. „Hin und wieder“, lacht sie, „spüre ich schon Entzugserscheinungen“. Diana Menschig trägt’s mit Fassung: „Die Phantastik in Deutschland weiß sich Gehör zu verschaffen. Das zählt.“
Diana Menschig, geboren 1973, absolvierte nach einem Studium der Psychologie mehrere Stationen in Marktforschung und Personalmanagement, bevor sie einen Spieleladen eröffnete. Heute arbeitet sie als selbstständige Dozentin und Autorin. Zuletzt erschienen von ihr der Roman „So dunkel, so kalt“ (Droemer Knaur 2014) und der Mystery-Thriller „Dunkle Wurzeln“ (dotbooks 2016, mit Alexa Waschkau). Wenn Diana Menschig nicht gerade in phantastischen Parallelwelten unterwegs ist, teilt sie sich mit ihrem Mann, zwei Hunden, einer Katze und vielen Rennrädern ein Haus am Niederrhein.
Frau Frohmann, lassen Sie uns mit einem Zitat von Ihnen beginnen: „Wenn ich jemals so etwas wie ein positives Verlangsbranchengefühl in mir spüre, dann ist es an diesem einen Tag im Jahr.“ Gemeint ist die Leipziger Autorenrunde. Woher dieses Hochgefühl?
Christiane Frohmann: Gemeinhin tue ich mich ja schwer mit solchen traditionellen Branchensachen. Ich bin ein klassischer „Literaturmensch“, hatte aber nie besonders viel Spaß auf den Messen. Ich fand, dass alles schon sehr hermetisch ist, dass man sich da auch ein bisschen stilisiert in seinem erhabenen Verlegersein – und dass es ewig dauert, bis Leute anfangen, einen zu grüßen (lacht). Ich mag es einfach nicht, wenn Funktionen oder Titel vor Menschen stehen. Bei der Leipziger Autorenrunde ist das, meiner Erfahrung nach, komplett entkoppelt: Die Referierenden machen sich dort nicht nur völlig locker, Leander hat auch ein ziemlich gutes Händchen, wen er da einlädt. Das sind häufig Leute, die sowieso etwas in diese antihierarchische Richtung ticken. Gleichzeitig ist die Begeisterung der Teilnehmer darüber zu spüren, dass sie so umstandslos in diese Gespräche hineinkommen.
Man begegnet sich auf Augenhöhe, ist es das?
Frohmann: Genau. Da ist Demütigung oder Frustration ausgeschlossen. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, dass man sich das falsche Panel ausgesucht hat.
Wie würden Sie einem Extraterrestrischen die Leipziger Autorenrunde erklären?
Frohmann: Wenn er das Prinzip Buch schon verstanden hat, würde ich sagen: Leute, die professionelle Anfänger sind, begeisterte Amateure oder einfach nur Literaturfreunde, die sich mal näher mit der Meta-Ebene auseinandersetzen wollen, werden mit allen erwartbaren, aber nicht immer kommerziell verwertbaren Facetten des Verlegens, Schreibens, Veröffentlichens bekannt gemacht. Das reicht von ganz „handfesten“ Panels, bei denen man konkrete Sachen lernt – bis zu inspirierenden Runden, die Menschen zu einem bestimmten Thema miteinander ins Gespräch bringen.
Können Sie für beides ein Beispiel nennen?
Frohmann: Wenn etwa Referierende aus Literaturagenturen kommen, steigen die schon sehr konkret ins Procedere ein: Wie findet man eine Agentur, hat man überhaupt eine Chance, wie soll man sich präsentieren? Das ist ja auch ein Grund, warum ich Leander gebeten habe, mich fürs kommende Jahr nicht mehr zu buchen: Ich habe schon das Gefühl, dass die Leute mich interessant finden, aber die meisten suchen doch nach etwas anderem: dem großen Verleger, der Star-Autor xy herausgebracht hat. Oder nach den Dienstleistern, die ihnen hier konkret was beibringen, was sie sich sonst als Beratung teuer bezahlen lassen müssten. Sie suchen nach so etwas wie der Eintrittskarte in diese Welt. Ich glaube, ich passe menschlich und vom Spirit her total gut rein und werde auch weiter daran mitarbeiten, aber als Referentin bin ich bei der Autorenrunde meiner Selbsteinschätzung nach keine Top-Kandidatin.
Sie waren ab 2013 als Referentin dabei?
Frohmann: Genau.
Was haben Sie angeboten?
Frohmann: 2014 habe ich über ästhetische Internet-Phänomene wie Meme-Culture, Hashtags und Twitteratur gesprochen. Ich wollte zeigen, wie man die Begegnung mit solchen Sachen – auch wenn man nicht wie ich organisch in diese Bewegung im Netz reingeraten ist – als etwas Inspirierendes für sich entwickeln kann. Die Leute in der Tischrunde haben mich am Anfang angeschaut, als ob ich von einem anderen Stern komme. Zum Schluss hatten sie richtig Spaß. Und offenbar auch verstanden, was ich meine: Dass man seinen Schreibprozess auch erweitern kann, ohne sich zu verbiegen, indem man beispielsweise mal auf Social-Plattformen herumexperimentiert. Mein Standardsatz: Nicht vom Format her denken! Niemand muss twittern oder Snapchat machen. Aber trotzdem ruhig mal einen Account anlegen, das eine Weile beobachten und ausprobieren, vielleicht erlebt man dabei erstaunliche Sachen.
Das war in der Bandbreite der angebotenen Themen eher ein freies Angebot… Nicht: „Der Weg zum Erfolg in fünf Schritten“.
Frohmann(lacht): Soll ich einen Vortrag halten über „Wie mache ich einen Verlag, der kein Geld verdient, aber als kulturell bedeutend wahrgenommen wird?“ – Nein, die Leute kommen schon in erster Linie dahin, weil sie früher oder später vom Schreiben leben wollen und wissen möchten, wie das geht. Kolleginnen wie Zoë Beck oder Isabel Bogdan werden da regelrecht überrannt.
Was zieht die – zum Teil doch sehr prominenten – Referenten an?
Frohmann: Das Honorar kann es nicht sein. Das ist symbolisch und finanziert eher die Fahrkarte. Aber darum geht es nicht. Das Ganze hat wirklich eine Art Klassentreffen-Charakter. Man trifft immer auf einen Schlag einen ganzen Pulk interessanter Menschen: solche, die man schon kannte, oder solche, die sich – oft außerhalb des offiziellen Programms – als spannend entpuppen. Ich achte ja bei meiner Arbeit immer auch darauf, ob ich Menschen nett finde. Und da sind verdammt viele nette Leute! Das ist im Vergleich zu meinen anfänglichen Messebesuchen als Verlegerin eine beglückende Erfahrung. Ein weiterer Motor für die Referierenden dürfte der Kontakt zu Usern und Consumern aka Leserinnen und Lesern sein, der ja nicht selbstverständlich ist. Bei der Leipziger Autorenrunde passiert das scheinbar wie von selber. O. k., man kann auch einmal im Jahr ein Verlagsfest machen und sich da „unters Volk“ mischen. Bei der Autorenrunde aber tritt man stärker aus den Hierarchien heraus und kann so ganz andere, für die eigene Arbeit sehr nützliche Erfahrungen machen.
Frau Frohmann, vielen Dank für das Gespräch!
Christiane Frohmann ist Autorin, Verlegerin und Referentin. Gemeinsam mit Leander Wattig konzipiert sie bei Orbanism Veranstaltungen.
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