Für Autorinnen und Autoren ist Corona seit über einem Jahr eine zum Teil existentielle Herausforderung. Wie nehmen Sie das wahr?
Leander Wattig: Es hat uns früh erwischt: Im März 2020 musste im Zuge der pandemiebedingt abgesagten Buchmesse auch die Leipziger Autorenrunde abgesagt werden. Die Zeit danach entwickelte sich für viele Autorinnen und Autoren wirtschaftlich, aber auch künstlerisch zu einer echten Belastungsprobe. Deswegen wollen wir mit der Leipziger Autorenrunde 2021 auch ein Zeichen setzen. Das drückt sich schon im Motto „Das digitale Wir“ aus. Das soll nicht heißen, dass sich jetzt alles nur noch ums Digitale dreht! Aber es ist der Kanal, auf dem wir seit 15 Monaten primär alle unterwegs sind – und wo man das Mögliche tun kann, um sich auszutauschen und gegenseitig zu bestärken.
In der Branche hat es ja 2020 einen echten Digitalisierungs-Sprung gegeben…
Wattig: Es ist an vielen Stellen ein „Jetzt erst recht!“-Ruck durch die Branche gegangen. Aber auch darüber hinaus, in der Literaturwelt: In der Fontane-Gesellschaft etwa, wo ich im Vorstand mitarbeite, haben wir ja auch nicht nur Digital Natives (lacht). Dennoch haben wir letztes Jahr zum ersten Mal unsere Mitgliederversammlung digital durchgeführt. Und da war auch ganz selbstverständlich die Generation 70+ mit Zoom & Co. am Start. In der Buchwelt hat sich viel in den Köpfen getan – traditionell wird Technik in den Inhalte-Branchen ja latent misstrauisch beäugt.
Wie stellt man „Augenhöhe“, die zur DNA der Leipziger Autorenrunde gehört hat, digital her? Wie transformiert man etwa die lebendigen „Tischrunden“, die einen Gutteil des Charmes ausgemacht haben, ins Digitale?
Wattig: Natürlich ist es eine Herausforderung, so ein Format ins Digitale zu übersetzen. Da sind wir 2021 schon wieder ein Stück weiter als letztes Jahr. Es geht nicht um eine 1:1 Verlängerung, wir wollen auch digital wertschöpfend sein. Es wird keine ellenlangen Vorträge geben, die allen, die nebenher noch in tausend Videoformaten hängen, den Stecker ziehen. Wir planen kurze, knackige 15-Minuten-Vorträge; anschließend werden die Speaker:innen für Fragen im Networking-Raum zur Verfügung stehen. Mit der Auswahl der Vortragenden geht’s schon los: Es sind sämtlich Leute, die Lust auf Austausch haben, und nicht irgendwelche kühlen Marketing-Vorträge abspulen. Der Kerncharakter der Autorenrunde wird auf diese Weise beibehalten.
Was wünschen sich Autorinnen und Autoren aktuell, wie haben Sie die Themen gesetzt?
Wattig: Aufhänger ist die Frage, wie wir in diesen Zeiten und einem veränderten Umfeld erfolgreich weitermachen können. Während wir sonst sehr viele freie Themen parallel verhandelt und auch mal Mut zur Nische bewiesen haben, zieht sich dieser Grundgedanke diesmal als roter Faden durch den Tag – beginnend mit der Keynote von Zoë Beck über die fünf Themenblöcke: Vom Schreibhandwerk über die Zusammenarbeit mit Agenturen und Verlagen bis zu rechtlichen Fragen, Marketing, Lesungen und Networking. Das reicht von Şeyda Kurt, die mit der Frage, ob es ein „radikal zärtliches Wir“ im Schreiben gibt, eine gesellschaftliche Diskussion aufgreift, bis zu eher nutzwertorientierten Themen: Das geht dann von Elisabeth Ruge, die Werkstatteinblicke in die Arbeit ihrer Agentur gerade in diesen Zeiten gibt, bis zu Cally Stronk, die mit ihrer “Schreibküche“ auf der neuen Audio-App Clubhouse unterwegs ist.
Gibt es mit Händen zu greifende Vorteile gegenüber der analogen Runde?
Wattig: Absolut. Wir haben Tina Folsom als Spenderin gewinnen können. Tina ist gebürtige Deutsche und lebt seit 2001 in Kalifornien; sie ist eine der ersten drei Autorinnen, die weltweit über eine Million E-Books verkauft hat. Die hätten wir sonst nicht mal eben so einladen können (lacht).
„Digital ist besser“ hieß es einmal bei Tocotronic. Was erhoffen Sie sich von dem Experiment einer erstmals rein digitalen Autorenrunde?
Wattig: Die Mischung macht’s! Zum einen wollen wir Flagge zeigen, hey: Die Welt dreht sich weiter und wir sind noch da! Aber wir wollen natürlich auch Erfahrungen sammeln, die für mögliche hybride Konzepte nützlich sein können. Es wird nicht reichen, einfach ein „Digital“-Schild vor die alten Analog-Veranstaltungen zu stellen.
Die Leipziger Autorenrunde #lar21 findet am 29. Mai, von 10 bis 17 Uhr erstmals im digitalen Raum statt. Tickets kosten 29 Euro und sind unter www.leipziger-autorenrunde.de/tickets verfügbar.
Kein Messe-Trubel, keine Publikumstrauben auf der umlaufenden Galerie, dafür eine Durchsage: „Während der Veranstaltung kommt eine Filmdrohne zum Einsatz. Diese wird nicht über Menschen fliegen.“ Es ist das erste Mal seit März 2019, dass sich der Literaturbetrieb live unterm Rund der Glashalle trifft. „Danke, dass Sie trotz anhaltender Pandemie in Leipzig sind – und ein starkes Zeichen für die Literatur, das Lesen und die Zukunft der Leipziger Buchmesse setzen“, ruft Buchmesse-Direktor Oliver Zille den rund 200 geladenen Gästen zu. Die Preisverleihung fällt in unruhige Zeiten. Europa ist schwer gezeichnet vom Angriffskrieg, den Putins Russland gegen sein Nachbarland führt. Gleich nebenan, in Messehalle 4, in der 2015 schon Asylbewerber und dann 2020/21 das Leipziger Impfzentrum untergebracht waren, sind derzeit Schutzsuchende aus der Ukraine einquartiert. Zille zitiert zu Beginn der Buchpreis-Verleihung ein Gedicht der jungen Lyrikerin Jelena Saslawskaja aus Luhansk.
Wenn Juryvorsitzende Insa Wilke nach den Kriterien für preiswürdige Bücher gefragt wird, fällt oft das Leitwort „herausragend“. Die 15 Nominierten sind das, die drei Sieger-Titel erst recht. Die Literaturkritikerin erinnert an ihren ewig zurückliegenden Besuch beim georgischen Schriftsteller und Philosophen Giwi Margwelaschwili. Der sprach mit ihr in seiner Zweiraum-Plattenbauwohnung zwischen Prenzlauer Berg und Wedding über die Beschreibung der Welt als geschlossenen Text – für Wilke eine klaustrophobische Vorstellung. Wie, bitte, soll man da noch handeln? „Schau mal nach, wo die Lücken sind, Mädchen“, sagte der Berliner Georgier trocken, „immer in die Pünktchen rein!“ Auch für Insa Wilke und ihre Jury-Kollegen und Kolleginnen dreht sich vieles um die „Lücke im Text“. Die preisgekrönten Titel, erstmals alle aus Independent-Verlagen, gehen genau dahin, mit ihren je eigenen Fragen, „verletzlich und offen“ und auf den ersten Blick nicht unbedingt passgerecht für die jeweilige Kategorie. Da werden Genres ausgetestet, spielerisch und doch formbewusst; das Lesepublikum kann tatsächlich noch Entdeckungen machen.
Die prominenteste Preisträgerin ist wohl Anne Weber; mit ihr hat in der Kategorie Übersetzung jene Autorin die Nase vorn, die 2020 für ihr Buch „Annette, ein Heldinnenepos“ den Deutschen Buchpreis gewann – die in Versform verfasste Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir (1923-2022). Indem die Leipziger Jury nun Webers Übersetzung von Cécile Wajsbrots Roman „Nevermore“ (Wallstein) auszeichnet, würdigt sie die Kunst des Übersetzens an sich: Weber hat hier die kunstvolle Geschichte einer Übersetzerin übersetzt, die dabei ist, Virginia Woolfs „To the Lighthouse“ zu übertragen. Meta-Fiction vom Feinsten. „Das Übersetzen ist geradezu das Gegenteil von Nevermore, von Nie wieder, sagt Anne Weber auf der Glashallen-Bühne. „Es ist ein again und again und again – der Inbegriff des Unvollendbaren.“
Im Sachbuch-Bereich votiert die Jury für Uljana Wolfs autobiografischen Essay-und-Reden-Band „Etymologischer Gossip“ (kookbooks) – den sich Juror Andreas Platthaus auch in den beiden anderen Kategorien als würdigen Sieger hätte vorstellen können: „Ein Sachbuch über das Übersetzen von Lyrik!“ Wolf, bislang als Lyrikerin und Übersetzerin bekannt, verschmilzt das klassische Sachbuchwort „Essay“ mit der englischen Vokabel für „vermuten“ (to guess) zum „Guessay“ – weil sie eine Zweifelnde, eine stets Suchende ist. Unzweifelhaft ist auch diese „fröhliche Sprachwissenschaft“ vom langjährigen Kookbooks-Gestalter Andreas Töpfer in eine großartige Form gebracht worden – „ein Kunststück additiver Ästhetik“, lobt Platthaus. Für Uljana Wolf, der Jubel entgegenbrandet, als ihr Name aus dem Umschlag gezogen wird, ist Lyrik stets „Hören auf das Nachbarwort“, das immer – aber besonders in Kriegszeiten – „auf der eigenen Zunge liegt“.
Als Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung den 1974 in Israel geborenen, seit 2012 in Berlin lebenden Tomer Gardi und dessen Roman „Eine runde Sache“ als Gewinner der Belletristik-Kategorie verkündet, ist der Autor – buntes, weit aufgeknöpftes Hemd und breites Lachen – immerhin für einen Moment perplex. Auch dieses Buch ist ein Hybrid: Ein Teil erzählt in einer gebrochenen deutschen Kunstsprache („broken german“) davon, wie ein jüdischer Autor durch einen deutschen Wald gejagt wird. Der andere, auf Hebräisch geschriebene, von Anne Birkenhauer übersetzte handelt vom Leben des indonesischen Malers Raden Saleh (1811-1880) und wie es diesen im 19. Jahrhundert von Java nach Europa und retour verschlägt. „Alles, was ich zu sagen habe, steht in dem Buch“, meint Gardi. Um dann doch noch ein „Wort der Solidarität“ in die Ukraine zu schicken: „Und, ich sage das als israelischer Staatsbürger, ich richte es auch an die Menschen in Palästina, die unter Besatzung leiden. Und an die Menschen woanders in der Welt, die von Staatsterror betroffen sind.“ Unvergesslich ist der Moment auch für Gardis Verlegerin Annette Knoch vom Droschl Verlag. 2020 saß sie in Graz vorm Computer und sah aus der Ferne, wie das schreckstaunende Gesicht der Gewinnerin Iris Hanika („Echos Kammern“) als Social-Media-Meme viral ging. Nun, bei der gänzlich unerwarteten „Titelverteidigung“, kann sie ihren Autor live herzen.
Insa Wilke verneigt sich, mehr als eine schöne Geste, im Namen ihrer Jury-Kolleginnen und Kollegen vor der „Klugheit und Herzensstärke“ aller Nominierten – und bedankt sich für deren Bücher. „Lesen Sie!“ wird sie dem Publikum in der Glashalle und allen Lauschenden im Livestream später zurufen. Leipzig und die Literatur sind höchst lebendig. Man sieht sich – zur 18. Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse im März 2023.
Ausführliche Informationen zu Tomer Gardi, Anne Weber und Uljana Wolf sowie ein Video der Preisverleihung am 17. März 2022 finden Sie hier.
Spürten sie eine besondere Last auf Ihren Schultern? Es ist ja jetzt in Folge die dritte Buchmesse, die nicht in gewohnter Weise stattfinden kann?
Christiane Munsberg: Erstaunlicherweise hat eines so gut wie immer funktioniert – die „Akquise“ der Autorinnen und Autoren. Dadurch, dass sie so lange schon nicht auftreten konnten, spüren wir eine tiefe Sehnsucht nach Öffentlichkeit, nach der Bühne. Das hat uns die Gestaltung unseres Programms leichter gemacht.
Sie haben gewissermaßen offene Türen eingerannt?
Munsberg: Ja. Auch die Verlage haben uns sehr unterstützt, das war eine reine Freude. Schwierig sind natürlich die ganzen Rahmenbedingungen. Man muss Hygienekonzepte machen, anders planen. So sind die Gespräche jetzt nicht für je 30 Minuten angesetzt, sondern dauern 20 Minuten. Zwischen zwei Gesprächen muss eine Hygienepause eingelegt werden, in der gelüftet und desinfiziert wird. Wir haben zwei zertifizierte Hygiene-Managerinnen im Team; eine kümmert sich um die Technik, die andere Kollegin schaut auf Einhaltung der Abstände, den korrekten Sitz der Mund-Nase-Bedeckungen und Ähnliches. Ein hoch professionelles und sehr strenges Regime.
Zu Frankfurter Buchmesse haben Sie aus der Bertelsmann-Repräsentanz in Berlin gesendet…
Munsberg: Jetzt ist es noch ein wenig komplexer, weil wir in eine leere Halle gehen, wo alles eigens aufgebaut wird. Die positive Botschaft: Wir kriegen es hin.
In digitalen Zeiten könnte man von überall senden. Warum haben sie sich dazu entschlossen, nach Leipzig zu kommen?
Munsberg: Man weiß, was man aneinander hat – nicht nur in Schönwetterzeiten. Wir sind solidarisch mit Leipzig, mit der Buchmesse, mit den Autorinnen und Autoren…
…von denen fast 60 tatsächlich physisch nach Leipzig – in die Kongresshalle, zu den „KrimiClub“- Abenden im Landgericht und den „Jüdischen Lebenswelten“ im Ariowitschhaus – kommen werden?
Munsberg: So sieht es, Stand jetzt aus. Vier Schweizer Autor:innen – Hildegard Keller, Max Küng, Silvia Tschui und Rudolf Bussmann – werden durch das Schweizer Fernsehen von der BuchBasel zugeschaltet.
Auch die 18 Moderatorinnen und Moderatoren von Deutschlandfunk Kultur, 3sat und dem ZDF sind vor Ort?
Munsberg: Selbstverständlich! Das Blaue Sofa ist ein Live-Format. Wir haben viele Anfragen von Verlagen gehabt: Können wir das nicht in Zoom oder Teams machen? Nein, das können wir nicht! Wir wollen unseren Autorinnen und Autoren fest in die Augen schauen – und wirklich konzentriert über ein Buch sprechen.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Munsberg: Das Schönste ist das Team-Gefühl am Set. Wir von Bertelsmann, ZDF, Deutschlandfunk Kultur und 3sat arbeiten schon so lange zusammen, die Gründungspartner Bertelsmann und ZDF sogar schon seit mehr als zwei Jahrzehnten – da versteht man sich blind. Wir freuen uns wie die Schneekönige, dass wir endlich wieder auf Autorinnen und Autoren treffen dürfen. Thematisch wichtig sind mir besonders vier Dinge: Da der Preis der Leipziger Buchmesse in diesem Jahr per Videostream verliehen wird, haben wir Katrin Schumacher (MDR) und den Juryvorsitzenden Jens Bisky eingeladen, uns einen Einblick in ihre Arbeit zu geben. Was dieses Jahr ja besonders spannend ist, da es im Vorfeld den Vorwurf gegeben hat, dass keine Schwarze oder Autorinnen und Autoren of Colour auf der Nominiertenliste stehen. Spannend werden auch unsere „Blauen Stunden“: Da diskutieren am Donnerstag Gesine Schwan, Michael Seemann und Bernd Stegemann darüber, ob und wie die großen Tech-Plattformen die Demokratie verändern. Am Freitag sprechen die Aufsichtsrätinnen Anja Cristina Grohnert und Franzi Kühne mit Alexander Graf Lambsdorff darüber, wie die deutsche Wirtschaft nach Corona durchstarten kann.
Wie wichtig sind die Präsenz des Blaue Sofas und der verbundenen Formate in Pandemie-Zeiten?
Munsberg: Wir haben vier Tage am Stück Livestreams, 180 Minuten Sendezeit im ZDF, 90 Minuten bei 3sat, zwei Sendungen bei Deutschlandfunk Kultur, dazu sind alle Einzelgespräche ein Jahr lang in den Mediatheken von ZDF und Deutschlandfunk vorhanden. Wir trommeln hier nachhaltig für die Literatur.
Die „Jüdischen Lebenswelten“ im Ariowitschhaus waren Ihnen schon immer ein großen Anliegen – angesichts des aufflackernden Antisemitismus im Lande sind sie wahrscheinlich wichtiger denn je?
Munsberg: Wir haben bis zuletzt gehofft, dass Zeruya Shalev kommt, das war leider nicht möglich. Sie hatte eine komplett durchgeplante Lesetour, aber die Theater haben alle abgesagt. Wir können nun – pandemiebedingt – nur drei Veranstaltungen anbieten: Am Donnerstag ist die niederländische Autorin Judith Fanto („Viktor“) zu Gast, am Freitag kommt Mirna Funk, deren monatliche Kolumne „Jüdisch heute“ seit zwei Jahren in der „Vogue“ erscheint und die nun ein neues Buch mitgebracht hat. Und wir freuen uns auf Hans von Trotha, der mit „Pollaks Arm“ einen tollen Roman bei Wagenbach vorgelegt hat. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Sachbuchautoren zunehmend die Fiktion für sich entdecken.
Wie geht’s mit dem Blauen Sofa und der Literatur weiter? Ist Leipzig Startschuss und Mutmacher?
Munsberg: Mit der verstärkten Digitalisierung haben Verlage Zielgruppen erreicht, die ihnen vorher nicht zugänglich waren. Das sind die Chancen. Ich gehe davon aus, dass wir nicht eins zu eins zu den Verhältnissen vor Corona zurückkehren werden. Buchmessen werden stärker mit hybriden Formaten aufwarten. Ich wünsche mir da viele kluge, neue Konzepte. Das Blaue Sofa wird es in diesem Halbjahr noch zwei Mal außerhalb der Buchmessen geben: Gerade haben wir, begleitend zum Kultursymposion des Goethe-Instituts, eine Diskussion zum Thema „Generationen“ im Weimarer Bauhaus-Museum aufgezeichnet (20. Juni, 12 Uhr, 3sat und im Stream unter www.goethe.de/kultursymposium). In Berlin wird es eine Diskussion zur Zukunft der Literaturkritik geben (13. Juni, 22.03, Deutschlandfunk Kultur). Wir haben eher eine Schippe draufgelegt. Wir finden, dass das mit Blick auf die Branche, auf Verlage und Autor:innen, nötig ist.
Nach Studium und Buchhändlerlehre arbeitete Christiane Munsberg, im Buchhandel. 1992 trat sie in die Bertelsmann AG ein, zunächst für acht Jahre in die VVA, wo sie die Online-Plattform Mount Media aufbaute. 2000 wechselte sie in den Bereich der Direct Group Bertelsmann und übernahm ‚Das Blaue Sofa’, das seitdem von den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt Autorengespräche sendet. In den 21 Jahren fanden mehr als 3.000 Autorengespräche auf dem Blauen Sofa von Bertelsmann, ZDF, Deutschlandfunk Kultur und 3sat statt. Unter den Autorinnen und Autoren waren die Nobelpreisträger Swetlana Alexijewitsch, Michail Gorbatschow, Günter Grass, Herta Müller, Christiane Nüsslein-Volhard, Orhan Pamuk, Joseph Stiglitz, Olga Tokarczuk, Mario Vargas Llosa und Mo Yan.
30. Mai ab 0.35 Uhr: „Die lange Nacht des Blauen Sofas“ (180 Minuten)
Deutschlandfunk Kultur
28. Mai von 19.30 bis 20.00 Uhr: „Zeitfragen Literatur“: Dorothea Westphal spricht mit den Jurymitgliedern Jens Bisky und Katrin Schumacher über den Preis der Leipziger Buchmesse 2021
30. Mai von 0.05 bis 7.00 Uhr „Das Blaue Sofa“
3sat
30. Mai um 11.20 Uhr „Das Blaue Sofa“ mit Highlights aus den Gesprächen (90 Minuten)
Alle Gespräche sind in den Mediatheken von ZDF, ARD (Deutschlandfunk Kultur) und 3sat abrufbar.
Bereits nach der pandemiebedingten Absage der Leipziger Buchmesse im März 2020 hatte MDR Kultur innerhalb einer Woche sein komplettes Live-Bühnenprogramm in ein digitales Studioprogramm umgeplant. „Über zehn Stunden nonstop Livestream-Bewegtbild aus einem Radiostudio“, sagt MDR Kultur-Literaturchefin Katrin Schumacher, „das war eine absolute Premiere“.
Im Rahmen von Leipzig liest extra veranstaltet die ARD unter Federführung des MDR nun vom 27. bis 30. Mai eine regelrechte Literaturoffensive. „Wir können zwar keine Messe substituieren, aber wir können zumindest eine kleine Bühne bauen“, so Schumacher. Das ist fast tiefgestapelt: Denn das ARD-Forum schlägt seine Zelte in der Alten Handelsbörse am Naschmarkt im Herzen Leipzigs auf und sendet an vier Tagen live. Alle ARD-Anstalten sind dabei – mit Inhalten und bei der Ausstrahlung.
So wird es etwa ein Druckfrisch-best-of mit Denis Scheck geben, ein MDR Kultur-Radiocafé mit Lokalmatador Clemens Meyer oder einen von Carsten Otte moderierten Kritiker-Talk der SWR-Bestenliste mit Sigrid Löffler, Gerrit Bartels und Hubert Winkels. Auch wenn es kein Publikum vor Ort geben wird, sei man damit nah an den Menschen, sagt Schumacher. „Was wir dort machen, ist aber natürlich doch eine große digitale Publikumsveranstaltung – wir streamen live aus der Mitte der Messestadt und produzieren alle Gespräche für die ARD Mediathek und die ARD Audiothek.“
Mit dabei sind Buchpreisnominierte wie Judith Hermann, Helga Schubert oder Dan Diner, aber auch Igor Levit, Hengameh Yaghoobifarah, Sophie Passmann, Dmitrij Kapitelman, Mithu Sanyal und Johny Pitts. Alles in allem kann man über 30 Stunden Literatur mit mehr als 50 Autorinnen und Autoren erleben, zu sehen und zu hören auf dem Portal von Leipzig liest extra [https://www.leipziger-buchmesse.de/de/news/lasst-uns-lesen-leipziger-buchmesse-veranstaltet-leipzig-liest-extra] sowie als Livestream auf buchmesse.ard.de [https://www.mdr.de/kultur/buchmesse/index.html] sowie on demand in der ARD-Mediathek und der ARD-Audiothek.
Ein besonderes Highlight ist die dreistündige „ARD Radio Kulturnacht – Unter Büchern“ am Samstag, 29. Mai ab 20 Uhr live aus der Alten Handelsbörse. Gäste sind Helga Schubert, Judith Hermann, Michel Decar, Simone Buchholz, Dana Grigorcea, Robert Habeck, Monika Helfer und Joseph Vogl. Die Sendung wird von allen Kulturwellen der ARD live aus Leipzig übertragen und ist anschließend in der ARD-Audiothek zu hören.
Und auch innovative neue Formate sind bei Leipzig liest extra zu erleben. So hat etwa MDR Kultur mit beträchtlichem Aufwand drei je 30 Minuten lange Filme zu derzeit laufenden literarisch-gesellschaftlichen Debatten produziert:
Der Film „Können Bücher die Welt retten?“ stellt neue Literatur vor, die unser Verhältnis zur Natur hinterfragt. „Um „New Crime“, also ein neues Schreiben über Gewalt und Verbrechen in unserer Gesellschaft, geht es im Film „Können Bücher einen Mord begehen?“. Vorgestellt wird unter anderem das Autorinnen-Netzwerk „Herland“, das mit herkömmlichen Klischees vom weiblichen Opfer und männlichen Retter brechen will.
Im Film „Können Bücher Heimat sein?“ stehen deutsche Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt, etwa Shida Bazyar, der Youtuber Slavik Junge, Lena Gorelnik und Dmitrij Kapitelman. Sie sind im Literaturfrühling 2021 so präsent wie noch nie. Gerade junge Schriftstellerinnen schreiben über ihre Sicht auf unsere Gesellschaft – reflektiert, wütend, kunstvoll. Alle drei Filme sind zum Start von Leipzig liest extra in der ARD-Mediathek abrufbar und werden am 27., 28. und 29. Mai im MDR-Fernsehen ausgestrahlt.
Sie haben kürzlich in der „Welt“ mit sehr deutlichen Worten auf die Situation des Literaturbetriebs unter Corona-Bedingungen aufmerksam gemacht. Wie ist es Ihrem Haus während der Pandemie ergangen?
Janika Gelinek: Darauf kann es nur eine vielschichtige Antwort geben. Zum einen ist diese perspektivlose Situation gerade schwer auszuhalten, das Haus ist so leer und still, und wir fragen uns, wie es unserem Publikum geht und wann es je wieder zu uns kommen darf. Zum anderen sind wir stolz, was wir im vergangenen Jahr alles geschafft haben. Denn wir haben fast unser ganzes Programm realisiert, sozusagen das Maximale aus der Krise rausgeholt: Wir haben fast alle Veranstaltungen ins Netz verlegt, einen digitalen Leseclub gegründet, unsere Führungen abgefilmt und online zugänglich gemacht, die Hygienevorschriften bunt gestaltet, Im Sommer Musik vom Balkon gemacht und zum ersten Mal unseren Garten bespielt. Beim „Lockdown light“ im November, als die Kultureinrichtungen ohne viel Federlesen – und trotz Einhaltung aller Hygienemaßnahmen! – dichtgemacht wurden, konnten wir dann schnell auf die digitalen Routinen zurückgreifen, die wir uns im Lauf des Jahres erworben haben.
Waren Sie sauer?
Gelinek: Verzweifelt trifft es besser. Die Auseinandersetzung über das, was passiert, muss auch in den Kulturinstitutionen stattfinden. Und wenn so ein wesentlicher Teil des öffentlichen Lebens wie die Kultur zusammen mit Fitnessstudios dem Freizeitbereich zugeordnet wird, ist das ein Schock. Vor allem, wenn man unter großen Mühen alle Auflagen umgesetzt hat. Zum Glück waren wir ja inzwischen hier im Haus mit allen Wassern gewaschen und haben das Programm wieder für den digitalen Raum eingerichtet. Dafür bekommen wir viel positives Feedback, nicht zuletzt von den Autorinnen und Autoren, von Verlagen und auch die Klickzahlen und Kommentare zeigen, dass es ein dankbares Publikum im digitalen Raum gibt. Die Investitionen aus dem letzten Jahr haben sich sehr bewährt. Aber angesichts fehlender Langzeit-Perspektiven, dem untergeordneten Stellenwert der Kultur in der öffentlichen Debatte und der individuellen Verzweiflung von Künstler:innen und Veranstalter:innen rundum ist es gegenwärtig nicht so einfach, sich an all die tollen Dinge zu erinnern, die wir gemacht haben. Die wir schließlich auch nur machen konnten, da wir – anders als andere – finanziert sind.
Wie weit haben Sie vorausgeplant?
Gelinek: Vorausplanen ist ja im Augenblick geradezu ein Unwort. Es ist sehr schwierig, gerade in der Kommunikation mit unserem analogen Publikum, für das wir ja unbedingt weiter da sein wollen. Wir haben jetzt bis Ende März alles digital auf unserem gut angenommenen YouTube-Kanal geplant. Zugleich wollen wir aber unser analoges Publikum nicht verlieren, das zum Teil eben nicht internetaffin, aber uns seit vielen Jahren treu ist – wenn wir nur noch digital kommunizieren, besteht die Gefahr, dass wir diese Leute verlieren. Das gilt es unbedingt zu vermeiden.
Auf welchen Wegen kann man die analoge Öffentlichkeit angesichts noch immer hoher Fallzahlen und Winterwetter noch erreichen?
Gelinek: Die kulturelle Grundversorgung darf nicht aufhören, nur weil wir alle hinter unsere Mauern verbannt sind. Mit unserem Projekt „Li-Be Luftbrücke“, das ironisch auf die alliierte Luftbrücke nach West-Berlin anspielt, beziehen wir erstmals Mitte Februar auf dem Balkon unseres Hauses Posten und senden Live-Kultur raus in die Stadt. Wir wollen die Berliner:innen mit Momenten der Tröstung, der Erbauung, der Diskussion, des Streits und der Schönheit versorgen – auch in Pandemiezeiten. Den Auftakt macht eine musikalische Installation: Am 10. Februar wird die Sängerin Margarete Huber einen Jodel-Weckruf durch die Fasanenstraße schicken…
Gibt es Projektionen für die Zeit ab April?
Gelinek: Da wollen wir, nachdem wir das letztes Jahr so gut etabliert haben, wieder in den Garten gehen. Wenn es das Wetter irgend zulässt, bin ich dazu wild entschlossen. Wir haben eine neue Bühne gebaut, Lampions, Lichterketten, Gartenstühle und Decken angeschafft, dazu Headsets für unsere Besucher:innen. Wir sind gerüstet. Und freuen uns schon so sehr auf den Austausch mit dem Publikum – im letzten Sommer gab es sogar Tränen vor Glück, wieder gemeinsam Literatur genießen zu können.
Ihr Haus wird noch eine Weile auf Sicht fahren müssen – haben Sie dennoch Projektionen für die Leipziger Buchmesse Ende Mai?
Gelinek: Alles ist derzeit enorm fragil, das ist eine Erfahrung, die, wie ich glaube, alle teilen. Alle bemühen sich mit unglaublichem Engagement um die Realisierung ihrer Projekte. Wir haben darüber auch hier im Team gesprochen, das unglaublich gut durchgehalten hat: Eigentlich muss man sein eigenes Befinden Tag für Tag mit dem abgleichen, was man überhaupt schaffen kann. Und zugleich ist es so wichtig, weiterzumachen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Ich hoffe, dass wir – in Berlin wie in Leipzig – vieles draußen im Grünen hinbekommen. Die Frage ist letztlich nicht so sehr, wann genau wir wieder öffnen dürfen. Sondern wie lange wir es uns noch leisten wollen, Kultur als „Freizeitvergnügen“ – und damit letztlich als verzichtbar – zu deklarieren.
Neueste Kommentare