Manchmal, weiß Sassette Scheinhuber, ist es einfach gut, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Als die Leipziger Buchmesse für die 2014 aus der Taufe gehobene Manga-Comic-Con (MCC) Verstärkung sucht, jobbt die angehende Veranstaltungskauffrau gerade als Aushilfe in der Vorab-Akkreditierung der Messe – und kauft sich in einer Arbeitspause ein paar druckfrische Mangas. Die wache Personalerin der Messegesellschaft bekommt das mit und spricht Scheinhuber an. Der Rest ist Formsache: Die junge Frau im zweiten Lehrjahr organisiert Workshops, Vorträge, Bühnenprogramme und kümmert sich um den Künstler-Bereich MCC Kreativ – quasi aus dem Stand. „Ich hatte noch nie so viel Verantwortung in einem Team bekommen.“
Von AC/DC zu Metal-Core
Aufgewachsen ist Scheinhuber in Sermuth bei Grimma, einem 600-Seelen-Örtchen, an dem sich die Freiberger und die Zwickauer Mulde vereinigen. Ihren Mittelschul-Abschluss macht sie in Colditz. Das Lernen fällt ihr leicht, sie liest viel und gern, hat einen anderen Musikgeschmack als der Mainstream. Eine Freundin bringt sie auf die Manga-Spur; Freitagnachmittag schauen die Mädchen zusammen Animes auf RTL II, auf der Buchmesse wird gecosplayed. „Im Bus nach Leipzig wurde man schon manchmal schräg angeguckt“, erinnert sich Scheinhuber lachend. „Aber ich hab’ mein Ding gemacht.“ Bei den Eltern entdeckte sie AC/DC und Kiss; heute besucht sie Metal-Core-Konzerte im Conne Island oder im Täubchenthal. Seit zwei Jahren gibt es sogar ein großes Festival auf dem Leipziger Messe-Gelände, das „Impericon-Festival“ in Halle 1. „Live-Veranstaltungen sind ungeheuer intensiv, einfach toll.“
BWL und Versammlungsstättenverordnung
Rückblick: Nach einem 14tägigen Schülerpraktikum bei der Messe „Modell Hobby Spiel“ bewirbt sich Sassette Scheinhuber für die Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau bei der Leipziger Messe. Drei Jahre lang durchläuft sie diverse Abteilungen des Hauses; alle zwei Wochen besucht sie die Berufsschule in Riesa. Sie lernt die Grundlagen des Berufs vom BWL-Einmaleins bis zur Bilanzierung. Und nebenbei ganz praktische Dinge: Etwa, was alles in der typisch deutsch durchgeregelten „Versammlungsstättenverordnung“ drinsteht. Als Ausbildungsbetrieb ist die Messe in der Branche sehr geschätzt, Scheinhuber stehen nach der Ausbildung viele Türen offen. Soll sie im Messegeschäft bleiben, sich in einer Konzert- oder Eventagentur versuchen, im Sport- und Vereinswesen? „Überall, wo es Veranstaltungen gibt, wird jemand gesucht, der Ahnung davon hat“, sagt sie selbstbewusst.
Nahtloser Übergang
Als im Sommer 2014 eine Projektassistenz für die MCC ausgeschrieben wird, ist Scheinhuber noch mitten in der Ausbildung – und etwas verunsichert: Macht es Sinn, sich zu bewerben? „Mehr als Absagen können wir Ihnen nicht“, heißt es in der Personalabteilung. Und: Nur Mut! Das Vorstellungsgespräch läuft blendend. Wenn der zweite Einsatz bei der MCC gut laufe und sie die Ausbildung bestehe, heißt es da, werde man sie gern übernehmen. Und so geschieht es: Als Sassette Scheinhuber im November 2014 erneut zum MCC-Team stößt, wird sie schon in ihren künftigen Job eingearbeitet. Am 1. Juli 2015 besteht sie die letzte mündliche Prüfung. Am 2. Juli beginnt ihre Arbeit als Projektassistentin bei der MCC. „Besser“, sagt sie, „hätte es nicht laufen können.“ Längst haben sich auch ihre Eltern im Muldental mit der nicht ganz alltäglichen Arbeit ihrer Tochter angefreundet. „Wenn es nach meinem Vater gegangen wäre“, lacht sie, „dann wäre ich jetzt entweder verbeamtet oder bei der Wasserwirtschaft.“ Inzwischen freuen sie sich mit ihrer Tochter über den MCC-Job – und kommen natürlich jeden März zur Buchmesse.
An einem Strang
Unter Federfühung der beiden Projektmanagerinnen Michiko Wemmje und Lea Peterknecht kümmert sich Sassette Scheinhuber bei den rund 350 Ausstellern der MCC ums Administrative. Und immer noch um MCC Kreativ. Das Dreier-Team sitzt auch im Großraumbüro nahe beieinander, man spricht viel und intensiv; Kommunikation wird im Messegeschäft großgeschrieben. „Wenn ein Aussteller mit einer Projektidee kommt, kann ich Input aus der Szene heraus geben, in die ich aus meiner Cosplayer-Zeit immer noch gute Kontakte habe. Oder wenn wir merken: K-Pop wird groß – dann organisieren wir halt eine K-Dance Area, in der die Choreos der Bands in so genannten Flashmobs nachgetanzt werden.“
Noch einmal die Schulbank drücken
Die eigenen Interessen zum Beruf machen – was könnte es Besseres geben? Es läuft gut für Sassette Scheinhuber, sie ist sehr zufrieden mit ihrem Job. Dennoch – oder vielleicht gerade darum – hat sie im letzten Sommer ein berufsbegleitendes Bachelor-Fernstudium an der IUBH Bad Honnef aufgenommen. Es ist auf weitere vier Jahre und als reines Online-Studium angelegt. Jetzt, im Sommer, geht es, aber in der heißen Buchmesse-Vorbereitungszeit schlaucht es schon. „Sich nach zehn Stunden auf der Arbeit abends noch mal aufraffen – das ist hart.“ Aber immer wieder gibt es auch Erfolgserlebnisse. So wie im Dezember, als Scheinhuber eine Mathe-Klausur mit 1,3 bestanden hat. Job, Studium und Freund unter einen Hut bekommen, dazu noch das ein oder andere Live-Konzert – das alles ist nicht immer einfach. Sassette Scheinhuber geht ihren Weg einfach weiter, Schritt für Schritt. „Mal sehen, was in vier Jahren kommt.“
Sassette Scheinhuber ist in Sermuth bei Grimma aufgewachsen, in Colditz zur Schule gegangen und wohnt inzwischen in Leipzig. Bei der Leipziger Messe GmbH absolvierte sie von 2013 bis 2015 eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau – und wurde im Juli 2015 vom Fleck weg als Projektassistentin für die MCC engagiert. Derzeit absolviert sie ein berufsbegleitendes Bachelor-Studium an der IUBH Bad Honnef.
Wenn man sich die Besetzung des aktuellen bücher.macher-Podiums im CCL anschaute, konnte die Runde schon als Symbolbild herhalten: Vier Frauen, zwei Männer – Quote übererfüllt, alles paletti? Unter dem Titel „Patriarchendämmerung. Wie sich das Bild des Verlegers wandelt“ diskutierte Mara Delius, Leiterin der „Literarischen Welt“, zum Messeauftakt mit einer hochkarätig besetzten Runde über vermeintlich gläserne Decken, alte Hierarchien und neuen Teamgeist – und darüber, was nach dem Abschied der Alphatiere kommt. Mit dabei: Moritz Kirschner, Junior-Verleger bei Kunstmann, die Verlagsleiterinnen Kerstin Gleba (KiWi), Constanze Neumann (Aufbau) und Felicitas v. Lovenberg (Piper) sowie Thomas Rathnow, CEO der Verlagsgruppe Random House.
Frauen spielen in der zu 80 Prozent weiblichen Buchbranche eine ökonomisch wichtige Rolle. Sie kaufen mehr Bücher als Männer und lesen häufiger – in den Spitzenpositionen der Verlage waren sie bis vor kurzem eher selten vertreten. Das ändert sich gerade: Felicitas von Lovenberg, seit vier Jahren auf dem Chefsessel bei Piper, staunte, dass sie „die Älteste in dieser Verlegerinnen-Runde“ sei; als sie in der Bonnier-Gruppe begann, war sie mit Siv Bublitz (Ullstein) und Renate Herre (Carlsen) gleich auf Kolleginnen gestoßen. „Vielleicht ist Bonnier, was das angeht, schon immer schwedisch-zukunftsträchtig gewesen?“ Für Aufbau-Verlagsleiterin Constanze Neumann hat der nun langsam sichtbar werdende Wandel lange vor der #metoo-Debatte begonnen: „Seit ein paar Jahren ist die gläserne Decke nicht mehr da. Aber in so einer Position zu sein, ist immer noch anders als für einen Mann. Manchmal merkt man bei seinen Gegenübern ein gewisses Erstaunen.“ Eine Sicht, der KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba zustimmte: „Die kulturellen Stereotype der Gesellschaft ändern sich sehr langsam. In manchen Köpfen ist der Typus des alles selbst bestimmenden Verlegers alter Schule noch sehr virulent.“ Zum Glück werde es inzwischen selbstverständlicher, dass Verlage von Frauen und Männern geleitet werden.
Random House-CEO Thomas Rathnow erinnerte daran, dass in seiner aus drei großen „Divisionen“ bestehenden Verlagsgruppe mit Nicola Bartels und Grusche Juncker zwei Verleger Frauen sind – die rund 100 Millionen Euro Umsatz verantworten. „Das zeigt ihre Bedeutung.“ Allerdings ist die Frage, „wie in Verlagen geführt wird“, für Rathnow wichtiger als die nach dem Geschlecht. Führung müsse entschieden sein – aber eben nicht in top-down-Manier alter, hierarchischer Art. „Wir brauchen eine Unternehmenskultur, die es ermöglicht, dass wir Gespräch, Transparenz, eine Durchlässigkeit von unten nach oben haben.“ Hier rannte Rathnow bei Kunstmann-Junior-Publisher Moritz Kirschner offene Türen ein. Er bekannte, als Sohn einer feministischen Verlegerin nicht vor sich hin zu dämmern, „bis ich mein Patriarchen-Dasein erfüllen kann“ – und begrüßte ausdrücklich den gewachsenen Frauenanteil in den Führungsetagen von Konzern-Verlagen.
Haben wir damit das Problem fehlender Gleichberechtigung überwunden, sind Initiativen wie #frauenzählen überflüssig geworden? „Ich glaube, es ist wichtig, dass der Umbruch fortgeführt wird“, warnte Kerstin Gleba. „Der Blickwinkel muss sich verändern – und das nicht nur in unserer Branche. Gab es jemals eine Chefredakteurin bei den Magazinen von SZ und ZEIT?“ Mit Blick auf Ostdeutschland stelle sich die Lage in der Branche noch einmal anders dar: „Man kann die Leute aus dem Osten in Führungspositionen an höchstens zwei Händen abzählen“, stellte Constanze Neumann fest. „Bei Frauen wird es noch mal weniger.“ Ein Umstand, der geändert werden müsse, wenn unser Land wirklich zusammenwachsen soll. Thomas Rathnow nahm das Diversity-Thema generell auf: „Wir müssen uns fragen: Wie agieren wir als Unternehmen, als Arbeitgeber?“ Letztlich würde das auch bedeuten, nicht mehr nur Angestellte aus dem akademischen Mittelstands-Milieu zu favorisieren. „Wir sind sehr weit davon entfernt, dass die Verlagsmitarbeiter einen Spiegel unserer Gesellschaft repräsentieren. Da muss man andere Impulse setzen.“
Jede Buchmesse hat für uns etwas von einer Klassenfahrt: Man trifft die Autorinnen und Autoren des Verlags, dazu die geschätzten Kolleginnen und Kollegen. Und immer freut man sich, einander wiederzusehen. Dieses Mal hing allerdings ein Ereignis wie eine dunkle Wolke über uns: die KNV-Pleite. Und so folgte der herzlichen Begrüßung am Dienstag beim Standaufbau sogleich ein sorgenvoller Blick, verbunden mit der Frage: „Und, wie ist es bei euch?“ So gut wie alle Indie-Verlage sind betroffen, der Schock und die Verärgerung saßen immer noch tief. Co-Verleger Leif Greinus hatte vorab dazu einen Text in unserem Blog veröffentlicht, der auf der Messe für viel Gesprächsstoff sorgte. Tenor unter den Kollegen: „Endlich sagt es mal einer.“
Doch die KNV-Insolvenz bestimmte natürlich nicht alles, was auf der Messe bei uns passierte. Für uns besteht der Tag auf dem Messegelände aus zahlreichen Terminen, abends jagt eine Veranstaltung die nächste. Gastland der diesjährigen Messe war Tschechien, und wir hatten zwei Titel dazu im Programm, Tereza Samotamovás Roman „Im Schrank“ (übersetzt von Martina Lisa) und die Graphic Novel „Tschechenkrieg“ von Jan Novák und Jaromír 99 (übersetzt von Mirko Kraetsch). Beide Titel bekamen vor und während der Messe viel Medien-Aufmerksamkeit, was uns sehr freute.
Donnerstag
Der erste Messetag ist einer der längsten und dichtesten für uns. Tagsüber: Termine mit Veranstaltern, Agenten und Journalisten. Abends, gewisser Maßen als Krönung, unser Verlagsabend im Horns Erben, zu dem wir traditionell unsere aktuellen Titel präsentieren. Dieses Jahr waren das Tereza Semotamovás Roman, Benedikt Feiten mit „So oder so ist das Leben“, unser Leipziger Autor André Herrmann („Platzwechsel“) und das Duo Nora Gomringer mit Philipp Scholz als poetisch-musikalischer Abschluss („Peng Peng Parker“); jeweils etwa 20 Minuten Programm, moderiert von Co-Verlegerin Karina Fenner und mir. Die Atmosphäre im Horns Erben zur Buchmesse ist etwas Besonderes, finde ich: Es ist immer rappelvoll, die Nähe von Bühne und Publikum sorgt für Intimität und Stimmung, dazu das rustikale Ambiente dieser alten Weinstube einer ehemaligen lokalen Schnapsbrennerei.
Aber das Horns Erben war nur ein Programmpunkt von mehreren an diesem Abend: Parallel fand die Buchpremiere von „Tschechenkrieg“ in der Galerie KUB statt, wir mussten uns also aufteilen:
Kollege Björn Reinemer fuhr von der Messe in die Galerie, Leif nahm am Indie-Dinner im Chinabrenner teil. Und Karina musste den Verlagsabend zur Halbzeit verlassen, um mit Benedikt Feiten zu dessen Auftritt bei der Langen Leipziger Lesenacht L³ in der Moritzbastei zu fahren.
Ein langer Abend, nach einem langen ersten Tag – aber man wird auch dafür belohnt: Im Anschluss an die Lesung im Horns Erben kamen einige Gäste zu mir und bedankten sich für den inspirierenden Abend.
Später ging es dann gemeinsam wie jedes Jahr zur Tropen Party im Café der GfZK, wo es zwar immer viel zu eng und zu voll ist, aber man eben doch auch wirklich alle und jeden trifft. Die Stimmung changiert zwischen ausgelassen und euphorisch. Da man nimmt das Gedränge gern in Kauf, um links und rechts zu grüßen, zu reden und zu tanzen, den Tag mit Kollegen ausklingen lassen, die man viel zu selten sieht.
Freitag
Wieder ein Tag mit Terminen im Halbstundentakt. Was mir sicher in Erinnerung bleiben wird: Eine Diskussionsveranstaltung zu unserem Erzählband „Leben“ von Oleg Senzow im Forum Leipzig liest weltoffen, die ich moderieren durfte. Die beiden Übersetzerinnen Claudia Dathe und Christiane Körner sprachen über den unschuldig in einem russischen Arbeitslager am Polarkreis einsitzenden ukrainischen Regisseur und Autor. Aber es blieb nicht bei Senzow allein, auch die Situation in der Ukraine wurde von beiden sehr anschaulich dargestellt. Eine Veranstaltung, aus der man definitiv klüger rauskam als man hineingegangen war – und die auch beim anwesenden Publikum sichtlich für Betroffenheit und anschließenden Gesprächsbedarf sorgte. So soll es sein.
Die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Anke Stelling für „Schäfchen im Trockenen“ war natürlich nicht nur ein großer Sieg für die Autorin, sondern auch für den befreundeten Verbrecher Verlag – und gefühlt auch einer für uns alle. Es war schließlich erst das zweite Mal, dass ein Autor oder eine Autorin aus einem Indie-Verlag diesen Preis erhalten hat. Wir haben uns sehr mit den Kolleg*innen gefreut. Und tun es noch immer!
Ein jährliches Highlight am Freitagabend ist die UV-Lesung der Unabhängigen Verlage im Lindenfels Westflügel – oder vielmehr war, denn nach 10 Jahren ist nun Schluss, die Kosten sind einfach zu stark gestiegen und konnten nicht im gleichen Maße kompensiert werden. Die Reihe wird uns allen fehlen und dem Verein UV-Lesung ist es zu verdanken, dass diese Veranstaltung lange Jahre im Abendprogramm von Leipzig liest ein echter Fixpunkt war. Hier konnte man als Besucher einen bestens kuratierten Überblick über das Schaffen der Autorinnen und Autoren von Indie-Verlagen bekommen.
Nachts ging es dann ins Institut für Zukunft, wo dieses Jahr die Party der Jungen Verlage stattfand. Die Leipziger DJs Donis und Johny Bravo legten auf und die Branche tanzte ausgelassen im dunklen Technokeller, als gäbe es nicht noch zwei Tage Arbeit auf der Messe zu absolvieren … Feiern bis in den Morgen, und dann trotzdem am nächsten Tag auf der Messe einen glänzenden Eindruck auf die Besucher zu machen – die jährliche Samstags-Challenge.
Samstag
Der Samstag war dann terminmäßig eher entspannt. Schön war André Hermanns Lesung aus „Platzwechsel“ auf der Leseinsel der jungen Verlage in Halle 5. André merkt man seine Bühnenerfahrung an: Von Anfang an hat er sein Publikum im Griff und sorgt für ordentlich Gelächter, und das lockte dann auch im Laufe der Lesung immer neue Zuhörer an, was die Menschentraube um die Leseinsel stetig anwachsen ließ. Den Tag beschlossen wir ausnahmsweise ganz gemütlich – mit einigen Kolleginnen und Kollegen aus befreundeten Indie-Verlagen in der Kulturapotheke, einem der schönsten Veranstaltungsorte Leipzigs.
Sonntag
Am Sonntag dann konnten wir uns schließlich ein wenig zurücknehmen. Wir konnten uns vor allem um die Besucher am Stand kümmern, Leif moderierte zudem eine gut besuchte Lesung mit Tereza Semotamová im Forum Die Unabhängigen. Das Forum in Halle 5, kuratiert von Barbara Weidle, wird von der Kurt-Wolff-Stiftung betreut. Auf dem Messegelände kriegt man hier wohl den besten Überblick über die Veröffentlichungen der Indies. Ein Highlight hier ist natürlich die Verleihung des Kurt-Wolff-Preises, bei dem es regelmäßig so eng zugeht, dass nur rechtzeitiges Erscheinen Plätze sichert. Der mit 26.000 Euro dotierte Hauptpreis ging an Andreas J. Meyer vom Merlin Verlag, der Förderpreis an die edition.fotoTapeta.
Nora Gomringer und Philipp Scholz waren zum Gespräch ins ARD-Forum geladen. Hauptgesprächsthema hier: Die New Yorker Künstlerin und Kritikerin Dorothy Parker, deren Texte die beiden für ihr aktuelles Album „Peng Peng Parker“ vertont haben.
Und während meine KollegInnen den Standabbau betreuten, ging es für mich ins UT Connewitz, wo wir in Kooperation mit dem Livelyrix e.V. immer einen Abend mit vier Autor*innen aus der Lesebühnenszene organisieren: Für mich jedes Mal ein schöner Messeausklang mit klugen, oft satirischen Texten, über die man auch lachen kann.
Zehn Jahre und kein bisschen leiser: Lyrik auf der UV-Lesung, hier mit Jörg Schieke, Lina Atfah, Katja Cassing, Max Sessner und Sabine Franke (Franziska Frenzel) | Make Some Noise: Zum Buchmesse-Auftakt lädt EDIT in die GfZK ein (Sophie Valentin) | Peng Peng Parker: Im Horns Erben lassen es Nora Gomringer und Philipp Scholz krachen (V&Q) | Tschechenkrieg: Buchpremiere in der Galerie KUB (V&Q) | Benedikt Feiten ist bei großen Lesungs-Marathon in der MB am Start (V&Q) | Schäfchen im Trockenen: Anke Stelling gewinnt den Preis der Leipziger Buchmesse für einen Indie-Verlag (Ulrich Koch) | Willkommen und Abschied: Die UV-Lesung im zehnten Jahr (Franziska Frenzel) | Platzwechsel: Andre Hermann auf der Leseinsel der jungen Verlage (V&Q) | Publikumsmagnet seit 2015: Das Forum Die Unabhängigen (V&Q) | Aufgalopp der Indie-Szene: Die Kurt-Wolff-Preisträger 2019 (Ulrich Koch) | Lesebühnen-Battle: Das UT Connewitz gibt den stimmungsvollen Rahmen zum Messe-Schluss (V&Q) | Unser Autor, Voland & Quist Verleger Sebastian Wolter (Thomas Bär) |
Sebastian Wolter, geboren 1980, lebt und arbeitet in Leipzig. Nach dem Studium der Verlagswirtschaft in Leipzig und Edinburgh gründete er mit Leif Greinus 2004 den Indie-Verlag Voland & Quist. 2010 erhielt Voland & Quist den Kurt-Wolff-Förderpreis.
Ende April flog ich von Wien nach Leipzig. Es war ein direkter Flug, und am Wiener Flughafen waren natürlich auch Passagiere aus Leipzig. Ich saß schon auf meinem Sitz im Flieger, als eine Leipziger Dame ins Flugzeug kam, mich sah und erkannte: „Sie sind der AHOJ-Mann!“ Wie berührend! Lächelnd bestätigte ich es und begrüßte sie mit „AHOJ“.
Dieser tschechische Gruß begleitete den Gastlandauftritt der Tschechischen Republik auf der Leipziger Buchmesse allerorts. Tatsächlich mit „j“ geschrieben, als Abkürzung von „Ad Honorem Jesu“ – wie ich nicht nur regelmäßig am tschechischen Nationalstand erklärte, sondern auch zum Beispiel dem Security-Team auf dem Messegelände auf deren neugierige Fragen hin. Auch die thailändische Prinzessin Maha Chakri Sirindhorn war interessiert und hat sogar während ihres Besuches des tschechischen Standes den AHOJ-Anstecker an ihrem Kleid getragen.
Der Messeauftritt gab der tschechischen Literatur die große Chance, sich 30 Jahre nach der Wende in Mittel- und Osteuropa neu auf dem deutschsprachigen Buchmarkt zu etablieren. Dank einer zweijährigen Zusammenarbeit der Verleger, Autoren, Übersetzer und literarischen Agenten sowie dank zweier Förderprogramme, des tschechischen Kulturministeriums und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, ist es Tschechien, auch aufgrund der großen Unterstützung der Medien gelungen, mit mehr als 70 Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum sichtbar zu werden. Hinter dem Erfolg stehen etwa 20 Mitarbeiter der Mährischen Landesbibliothek Brno unter der Leitung vom Prof. Tomáš Kubíček, 10 ModeratorInnen, 11 DolmetscherInnen und 25 ÜbersetzerInnen. Fast ein Wunder ist passiert: Alle Teilnehmer waren gut gelaunt und sorgfältig vorbereitet, niemand ist krank geworden, alle 130 (!) in Leipzig geplanten Veranstaltungen innerhalb der vier Tage an zwei Ständen auf der Buchmesse sowie an etwa zehn Leipziger Orten fanden statt und waren – mit einer einzigen Ausnahme – gut besucht!
Trotz der professionellen Vorbereitung habe ich ganz schön Herzklopfen gehabt. Niemand wusste, wie der Tschechische Nationalstand – „ein Schiff“ voll von tschechischen Büchern in deutscher Übersetzung – angenommen werden würde. „Doch der Stand entpuppt sich vom ersten Tag an in seiner Mischung aus Lesungen und Diskussionen als Publikumsmagnet“, schrieb die Leipziger Volkszeitung. Ich muss tatsächlich gestehen, er war eher zu klein dimensioniert. Auch unsere eigene Messezeitung half uns dabei, die bisher unbekannten neuen AutorInnen dem Publikum nahezubringen. Zu unserer Freude sind manche BesucherInnen zu richtigen Sammlerfans der ganzen Auflage geworden. Jeden Tag haben sie auf die neue Ausgabe beim Trabi auf Beinen (eine Installation von David Černý) in der Glashalle gewartet.
Nach Leipzig kamen 55 Autorinnen und Autoren – vor allem diejenigen, die bereits über deutsche Übersetzungen ihrer Werke verfügten oder Neuerscheinungen mitbrachten. Dabei waren aber auch solche, die noch keine deutsche Übersetzung haben und in den deutschsprachigen Ländern erst entdeckt werden sollten. Experten aus dem Dramaturgischen Rat des Gastlandauftritts haben sie nominiert. Die zahlreichen Gäste der Leipziger Buchmesse widmeten den neu übersetzten Titeln und Autoren aus Tschechien eine beachtliche Aufmerksamkeit! Unser Ziel wird aber erst dann erreicht sein, wenn auch in den kommenden Jahren verstärkt tschechische Werke auf dem Buchmarkt sowie in den Literaturhäusern und Bibliotheken in Deutschland, Österreich und in der Schweiz zu finden sind.
Wie die Leipziger und Leipzigerinnen bereits wissen, gab es für uns nicht nur die vier Tage Leipziger Buchmesse, sondern es gibt ein ganzes Tschechisches Kulturjahr von Oktober 2018 bis November 2019. Im ganzen deutschsprachigen Raum stellen die tschechischen AutorInnen ihre Neuerscheinungen im Rahmen der Programmreihe Echo Leipzig 2019 vor – auf den Buchmessen in Frankfurt und Wien, auf verschiedenen Literaturfestivals in Prag, Dresden, Bremen, Zürich und Basel sowie in verschiedenen Literaturhäusern. Und in Leipzig finden immer noch einige Ausstellungen statt: künstlerische Porträts der gegenwärtigen tschechischen SchriftstellerInnen von Karel Cudlín sind bis 22. Juni in der Stadtbibliothek zu sehen, die VHS Leipzig widmet sich bis Ende Mai dem Leben und Werk von Jiří Gruša und das Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek bietet in Kooperation mit der SLUB Dresden bis 11. August den Blick auf die tschechische Avantgarde in der Buchkunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an.
Im Herbst zeigt das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig die Ausstellung Charta Story über die Charta 77 mit eindrucksvollen Fotos, Dokumenten, Samisdat, Kunstwerken und Filmausschnitten (11.9.-17.11.). Mit der Übergabe der Ausstellung aus der Nationalgalerie Prag an Leipzig soll die Ausstrahlung der Charta in die DDR und Bundesrepublik und damit eine europäische Perspektive im Rückblick von 30 Jahren aufgezeigt werden. Die Ausstellung wird von einer Filmreihe sowie vielen Debatten und Vorträgen begleitet. Und am 8. November gastiert das Nationaltheater Brno mit Jenůfa von Leoš Janáček in der Oper Leipzig. Verpassen Sie es nicht!
Rappelvoll: Der tschechische Nationalstand präsentierte sich als Schiff im Büchermeer – nicht nur wie hier zur Eröffnung mit dem tschechischen Kulturminister Antonin Stanek war er meist dicht umlagert (Felix Abraham) | Zu den 55 tschechischen Autorinnen und Autoren, die in Leipzig zu Gast waren, gehörten Jáchym Topol und Radka Denemarková, hier im Gespräch mit Moderator Mirko Schwanitz (Felix Abraham) | Der Fall der Mauer 1989 bedeutete eine radikale Wende auch für die tschechische Literaturszene. In Leipzig, 30 Jahre später, erinnert daran die Skulptur „Quo Vadis“ von David Černý, hier zusammen mit Martin Krafl (rechts) und Jürgen Reiche, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig (Felix Abraham) | Highlight: Tolle Stimmung und ein Stelldichein der Szene bei der großen Tschechien-Nacht in der Schaubühne Lindenfels (Felix Abraham) | Kafka & Budweiser: Jaroslav Rudiš und Martin Becker im Lindenfels (Felix Abraham) | Wenn Jaroslav Rudiš so etwas wie der Mick Jagger des Gastlandauftritts war, lag das auch daran, dass sein Roman „Winterbergs letzte Reise“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war (Felix Abraham) | Ein Mann für alle Fälle: Unser Gastautor Martin Krafl, Programmkoordinator des Gastlandauftritts (LBM/Tom Schulze).
*Wenn Paul Watzlawick einst meinte, dass man nicht nicht kommunizieren kann, gilt das in besonderer Weise für den Kulturvermittler, Diplomaten a.D., Publizisten, Journalisten und Moderator Martin Krafl. Gerade die Vielfalt seiner kulturellen Erfahrungen und Kompetenzen macht ihn zur Idealbesetzung für den Posten des Programmkoordinators des Gastlandauftritts der Tschechischen Republik auf der Leipziger Buchmesse und des Tschechischen Kulturjahres, das sich noch bis in den November 2019 ziehen wird. Martin Krafl, geboren 1971 im nordböhmischen Teplice, hat zahlreiche berufliche Stationen durchlaufen: Bis heute prägend ist dabei die Tätigkeit als Sprecher der Präsidentschaftskanzlei und Leiter des Pressedienstes des ersten Staatspräsidenten der Tschechischen Republik, Václav Havel, in den Jahren 1996 bis 2003. Von 2004 bis 2007 war Krafl Pressesprecher des staatlichen tschechischen TV-Senders Česká televize; von 2007 bis 2017 stand er im diplomatischen Dienst der Tschechischen Republik und leitete die tschechischen Kulturzentren für Deutschland in Berlin (2007-2011) sowie in Wien (2012-2017), von wo aus Österreich und die Schweiz in seinen Verantwortungsbereich fielen. Ganz nebenbei stärkt Martin Krafl als Korrespondent des Tschechischen Rundfunks und der tschechischen Zeitschrift Xantypa in den deutschsprachigen Ländern sowie als Blogger des tschechischen Newsportals Aktualne CZ das Wissen über die deutschsprachige Kultur in der Tschechischen Republik. Als externer Lektor unterrichtete er „Kommunikation mit den Medien“ an der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Karlsuniversität Prag.
Als das Kunstmagazin „Art“ vor einigen Jahren über das Druckgrafik-Revival einer jüngeren Künstlergeneration berichtete, lag der Schwerpunkt des Reports auf Leipzig. Kein Wunder, hat sich doch hier, zunächst mit der Baumwollspinnerei als Nukleus, ein ganz neues „Grafisches Viertel“ etabliert. Die Technik ist – in ihrer ganzen Bandbreite von Lithografie bis Hochdruck – vorhanden, auch namhafte Maler der Neuen Leipziger Schule machen Druck; der von Christoph Ruckhäberle gegründete Lubok Verlag oder die Galerie Thaler Originalgrafik ziehen Sammler aus nah und fern an. Zu dieser Szene gehört auch das achtköpfige Künstlerinnen-Kollektiv augen:falter, das sich 2008 mit einem ganz pragmatischen Ansatz formierte – man wollte zusammen auf der Leipziger Buchmesse ausstellen. Natürlich haben sich die Portfolios der einzelnen Künstlerinnen in den letzten zehn Jahren verändert. Die Grundübereinkunft aber blieb konstant: Man arbeitet jährlich an ein bis zwei gemeinsamen buchkünstlerischen Projekten und stellt diese Gemeinschaftswerke neben den eigenen Büchern, Mappen und Grafiken auf Messen in Deutschland und international aus. Fürs laufende Jahr sind allein vier Ausstellungen quer durch Deutschland geplant.
Zwei Mitglieder von augen:falter, die Leipziger Grafikerinnen Katja Zwirnmann und Petra Schuppenhauer, waren es auch, die durch ihre Initiative dem bis 2011 eher stagnierenden Messesegment buch + art, heute Buchkunst & Grafik, neues Leben einhauchten. Gemeinsam mit Wolfgang Grätz (Büchergilde artclub, Frankfurt/Main) suchten sie das Gespräch mit dem Buchmesse-Team, am Ende stand das Konzept für den Marktplatz Druckgrafik, der zur Leipziger Buchmesse 2012 Premiere hatte: Eine neue, zusätzliche Präsentationsfläche, auf der Drucker, Künstler, Galerien, kleine Pressen und Verlage ihre Arbeiten präsentieren können – wesentlich konzentrierter und qualitativ geschlossener als bisher. Während sich die Initiativgruppe mit viel ehrenamtlicher Arbeit, Kontakten und Know-how einbrachte, richtete die Messe ein neues, für Grafikpräsentation optimiertes Standsystem ein, das mit preiswerten Kleinst-Modulen auch für Einzelkünstler erschwinglich ist. Seit 2013 lobt das neu formierte Grafiknetzwerk auch einen Druckgrafik-Wettbewerb aus; den Siegern winken 2-Quadratmeter-Förderkojen auf dem Marktplatz Druckgrafik. Petra Schuppenhauer erinnert sich: „Wir wollten junge Künstlerinnen und Künstler fördern; auch wir galten ja anfangs eher als Grafik-Punks. Und wir wussten, wie groß das Loch ist, in das man nach dem Studium fallen kann. Zudem ist die Druckgrafik-Szene sehr lebendig, sie braucht den Nachwuchs ebenso wie die Sammler-Klientel.“ Zum siebten Mal wurden auf einer Jurysitzung Anfang Januar vier Förderkojen vergeben; Martin König, Andrea Manfredini, Carmen Weber und Gemma Wilson hatten sich im März mit eigenem Ständen präsentiert.
Rund 50 Aussteller finden sich zur Messe am Marktplatz Druckgrafik ein; von Einzelkünstlern und kleinen Pressen wie Jens Henkels burgart presse oder Sabine Goldes Carivari bis zur Pirckheimer-Gesellschaft oder dem artclub der Büchergilde. Petra Schuppenhauer produziert zum Selbstkostenpreis ein Ausstellerheft, das in 5000 Exemplaren erscheint; ihre augen:falter-Kollegin Franziska Neubert betreut Website und Blog des Grafiknetzwerks. Jedes Jahr gibt es am Messe-Donnerstag einen Aussteller-Abend, bei dem sich Künstler und Grafik-Aficionados auch außerhalb des Messegeländes begegnen können. Nach Stationen im „Café Fleischerei“ in der Jahnallee, bei den Buchkindern oder der Grafikdruckwerkstatt im Werk II lädt in diesem Jahr die Leipziger Künstlerin Petra-Natascha Mehler in die von ihr geleitete Siebdruckwerkstatt der HGB. Neben augen:falter und dem Engagement für den Marktplatz Druckgrafik betreiben Petra Schuppenhauer und Franziska Neubert noch das Zweier-Label lieblingsdruck.de; wenn man den beiden in Schuppenhauers Plagwitzer Atelier, zwischen hundert Jahre alten Kniehebelpressen und ganz frischen Arbeiten, beim Pläneschmieden zuhört, springt der Funke schnell über. Ihrer Initiative, die die grafischen Künste wiederbeleben, Newcomer fördern und Leipzig als Treffpunkt der Szene weiter stärken will, wünscht man noch mehr Aufmerksamkeit – und jede Menge zahlungskräftige Sammler. „Das Potenzial ist da“, weiß Franziska Neubert. „Wo, wenn nicht in Leipzig?“
Fotos: [1] Im Reich der Kniehebelpressen: Die Leipziger Künstlerinnen Petra Schuppenhauer (links) und Franziska Neubert (Nils Kahlefendt) [2] Leidenschaft für originalgrafische Techniken: Die Künstlerinnen-Gruppe augen:falter (Andreas Labes) [3] Den Nachwuchs fördern: Jurysitzung zum aktuellen Druckgrafik-Wettbewerb, im Bild Kerstin Grüner, im Buchmesse-Team zuständig für den Bereich Buchkunst und Grafik, Buchmesse-Direktor Oliver Zille und Franziska Neubert (Thomas Müth).
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