Hotel Leipzig

Hotel Leipzig

Ich bin im Hotel aufgewachsen, in einem Touristenort voller weiterer Hotels. Ferien- und Nebenjobs suchte ich mir natürlich auch im Hotel, ich kann ein Double-de-luxe-Bett in weniger als einer Minute mit einem Classic-Leintuch beziehen. Als ich meinen Mann kennenlernte und er erzählte, sein Vater betreibe eine Pension auf Rügen, dachte ich, dass das Leben eben doch verlässliche Konstanten bietet. Diese Konstante erhalte ich aufrecht, indem wir jährlich zur Leipziger Buchmesse Gäste beherbergen, und obschon sie dafür nichts bezahlen müssen und unsere Wohnung sich stark von einem Hotel unterscheidet, bin ich in den vier Tagen Hotelierin und nichts sonst. Meine Töchter räumen bereitwillig ihre Zimmer und übernachten bei Freundinnen, und zum guten Service unseres Hauses gehört auch das große Frühstücksbüfett am Sonntagmorgen für alle Gäste. Auch Daniela Seel ist seit sieben Jahren Stammgästin bei uns, und ich sehe sie dann weniger als Verlegerin und Dichterin, sondern eben als Gast. Wir begegnen uns gerade so viel, wie in einem Hotel Gast und Wirt sich begegnen. Manchmal sind wir beide verlegen darüber, dass wir in solch anderem Zusammenhang aufeinandertreffen als sonst. Ich argwöhne dann, dass ich in meinem Gastronomie-Modus ungewohnt auf Daniela wirke, geschäftig und beflissen. Dann stehen wir ein paar Sekunden verlegen in der Küche und sagen nichts, und ich trockne hektisch Töpfe ab. Oft müssen wir auch ein bisschen darüber lachen, zum Beispiel, wenn ich ihr sagen muss, dass dieses Mal wegen Überbelegung Umbuchungen notwendig sind und sie eventuell jede Nacht in einem anderen Zimmer schlafen muss. Ich bin aber im Herbergswesen versiert genug, dass ich jedes Mal rasch zu meinem Geschäft zurückfinde und Daniela frage, ob sie noch etwas braucht. Immer ist sie zufrieden und braucht nichts. Morgens stehe ich noch früher auf als sie, wie es die Hoteliers eben tun, und koche Kaffee für sie. Das ist eigentlich eine sehr schöne Beschäftigung.

Martina Hefter, geboren 1965 in Pfronten/Allgäu, lebt als Dichterin und Performerin in Leipzig. Sie veröffentlichte zuletzt den Gedichtband „Vom Gehen und Stehen. Ein Handbuch“ (kookbooks, 2013).

Familienaufstellung

Familienaufstellung

„Nachbarn“ heißt die Kurzgeschichte, mit der sich Madeleine Prahs 2005 in München für die Autorenwerkstatt „Manuskriptum“ bewirbt. Die Frage des Kursleiters, ob dies der Anfang eines Romans sei, lässt sie stutzen. Doch sie merkt: Ihr Stoff lässt sie nicht los: Sechs Menschen, vom arbeitslos gewordenen Eisenbahner bis zum Intellektuellen mit IM-Vergangenheit, die ihre biografischen Wurzeln in der DDR haben – und sich mit ihren Sehnsüchten und Träumen plötzlichin einem von Grund auf veränderten Leben behaupten müssen. Prahs verließ die IndustriestadtChemnitz, die damals noch Karl-Marx-Stadt hieß, 1989 zusammen mit ihren Eltern. Und fand sich mit Neun in der Idylle Oberbayerns wieder. Die Suchbewegung ihrer Figuren ist ihr nicht fremd.

Solche Verwandtschaft, weiß Prahs, kann anstrengend sein: „Man will sie aus seinem Leben schieben. Doch wenig später stehen sie wieder vor der Tür.“ Irgendwann ist klar: „Ich muss sie zu Ende schreiben.“ Sechs Leben, begleitet über eine Zeitspanne von 17 Jahren: Es gibt Tage, an denen Madeleine Prahs vor den Stoffmassen kapitulieren möchte. Sie arbeitet weiter, verrennt sich in Sackgassen, nimmt falsche Abbiegungen. Doch ihre Figuren kennt sie bald besser als sich selbst.

Mit 40 Seiten bewirbt sie sich 2007 für die Autorenwerkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin. Als die Zusage kommt, ist sie überrascht und glücklich zugleich. Zehn Jahre zuvor war die Werkstatt begründet worden, ihre Mentoren Katja Lange-Müller und Burkhard Spinnen arbeiteten damals mit jungen, noch unbekannten Autoren wie Judith Hermann oder Georg Klein. Vier lange Wochenenden trifft Prahs im geschützten Raum der Wannsee-Villa auf Gleichgesinnte, diskutiert wird mit offenem Visier. Kritik, sagt Prahs, kann sehr produktiv sein. „Den eigenen Ton gilt es jedoch auch zu schützen – sonst landet man in der Beliebigkeit.“

Als sie im Rahmen der „Prosa Prognosen“ auf der Leipziger Buchmesse ihren Text erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorstellt, ist sie nervös; zu wenig Schlaf in den Nächten zuvor. Es läuft gut: Mehrere Lektoren hinterlassen diskret ihre Visitenkarten. Doch Prahs will nichts Unfertiges aus der Hand geben. Irgendwann ist der Gipfel erreicht, fügen sich die Puzzleteile plötzlich zu einem Ganzen. Dann kann Schreiben wie eine Schussfahrt vom Mont Ventoux sein. „Man strampelt sich ab – und auf einmal ist alles ganz einfach.“ Am Ende ist es der Schriftsteller Michael Wildenhain, ihr Seminarleiter an der Schreibwerkstatt des Berliner Brecht-Forums, der das fertige Roman-Manuskript an den Deutschen Taschenbuchverlag empfiehlt. Ein Glücksfall, auch für Lektor Günther Opitz: „Es war sofort spürbar: Der Text ist gewachsen, sehr dicht, durchgearbeitet. Da kann jemand erzählen!“ Als Madeleine Prahs 2014 die ersten Exemplare ihres Romans in der Post findet, der eigene Name auf dem Umschlag, hat der Moment nach Jahren des Kampfes etwas Unwirkliches. Freude? Ja, natürlich. Das Buch wird nun seinen eigenen Weg nehmen. Doch auch Loslassen will gelernt sein. „Plötzlich reagiert man wie eine überbesorgte Mutter. Und möchte seinen Figuren am liebsten hinterher rufen: Bitte geht nicht bei Rot über die Kreuzung!“

Bildquelle: Nils A. Petersen

Frühlingsgefühle mit Irritation

Frühlingsgefühle mit Irritation

Vom Thema her könnte man meinen, dass dieses Büchlein in den Geschenkbuch-Ecken der Buchhandlungen gut aufgehoben wäre: Erzählungen über die Liebe, von 13 Schriftstellerinnen zwischen 1899 und 1981 verfasst. Kurze, leicht verdauliche Lektüre? Die Bildsprache der Illustrationen, schon auf dem Einband, ist eine ganz andere: Der aufkommende Sturm über der Außenterrasse mit Blick aufs Meer verrät die drohenden Turbulenzen.

Wer davon nicht abgeschreckt ist, wagt einen Blick auf die Liste der Autorinnen und schon wird klar, woher die Bedrohung rührt: hier kommen Schriftstellerinnen von Weltrang zu Wort, solche, die es sich beim Thema Liebe nicht einfach machen: wie Ingeborg Bachmann, Marguerite Duras, Virginia Woolf oder Katherine Mansfield, deren wunderbare Erzählung Glück das sehr unbestimmte, erst aufkommende Glücksgefühl der Verliebtheit inmitten einer Ehe beschreibt. (Und ob die Verliebtheit dem Ehemann oder einem Konkurrenten – oder gar einer Konkurrentin? – gilt, soll hier nicht verraten werden.)April-Sturm-IllustrationJeder Erzählung steht eine Illustration von Susanne Wurlitzer voran. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass der Leser, der das Buch nicht von vorne bis hinten lesen möchte, die nächste Geschichte anhand der Illustration auswählen kann.

Die “poetischen Raum-Bilder” (wie der Klappentext sie ankündigt) beinhalten fast ausnahmslos ein (ver)störendes Element oder irritieren durch eine allzu überdeutliche Idylle. Gewöhnungsbedürftig sind diese Illustrationen, aber sicherlich nicht “absurd hässlich”, wie 54 books in einem Artikel kürzlich fast sämtliche Büchergilde-Illustrationen über einen Kamm schert.

Erinnerungen neu erfinden

Erinnerungen neu erfinden

Das kleine Kaffee am Rand des Prenzlauer Bergs ist gut gefüllt; der schmale jungen Mann mit Brille, der hinter einem Milchkaffee in sein Notebook tippt, könnte als Student durchgehen, der an seiner Hausarbeit schreibt. Doch Ron Segal, der Autor und Filmemacher, sitzt wieder einmal auf gepackten Koffern. Seine deutsche Freundin studiert in London; in wenigen Tagen fliegt er zu seiner Familie nach Tel Aviv. Seit 2009 lebt Segal, mit Unterbrechungen, in Berlin. Ein DAAD-Stipendium ermöglichte ihm die Recherche im Shoah Foundation Institute für Visual History an der Freien Universität, in dem 52.000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden aus mehr als 50 Ländern aufbewahrt werden. Aus unzähligen dieser Puzzleteile erstand Adam Schumacher, der Held von Segals erstem Roman „Jeder Tag wie heute“: Ein 90jähriger Schriftsteller, der nach Jahrzehnten der Verweigerung wieder nach Deutschland reist, um seine Erinnerungen aufzuschreiben – im Wettlauf mit einer ausbrechenden Alzheimer-Erkrankung. Ron Segal hat große Pläne: Aus seinem Debütroman soll ein abendfüllender Animationsfilm werden. Im Herbst 2015, hofft er, kann die Produktion beginnen. Segal weiß, dass er ein Marathon-Projekt vor der Brust hat: „Das wird ein langer Prozess. Viel länger, als ein Buch zu schreiben.“

Was bringt einen jungen, lebenslustigen Israeli von knapp 30 Jahren dazu, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen – noch dazu in Berlin?

Ron Segal: Ich fand immer, dass alles, was ich über dieses Thema wusste, bereits vor mir gedacht und gesagt wurde. Ich wollte etwas eigenes sagen – und konnte das nicht. Ich musste recherchieren. Dazu kommt die Geschichte meiner Großeltern. Sie lebten in Berlin und schafften es, rechtzeitig zu fliehen. Sie waren beide sehr jung; meine Oma kam mit 16 Jahren nach Israel. An Berlin hatten sie eigentlich gute Erin-nerungen, wollten jedoch nie zurück. Als ihr Mann 70 wurde, haben die beiden Deutschland noch einmal besucht. Das Tagebuch, das Großmutter damals geführt hat, hat sie mir vorgelesen. Das fand ich sehr spannend: Eine Mischung aus Hass und Liebe…

Als Sie das erste Mal in Deutschland waren, haben Sie die Schuhe Ihres Opas getragen?

Segal: Stimmt. Es waren sehr schöne Schuhe, vermutlich in Deutschland gearbeitet. Ich habe es gemocht, hier mit ihnen zu laufen, eine interessante Erfahrung. Die Idee, der Hauptfigur meines Romans den Namen „Schumacher“ zu geben, kam mir allerdings beim Lesen eines Märchens der Gebrüder Grimm. Sie kennen es bestimmt: Der Schuster, dessen Schuhe nachts von fleißigen Wichtelmännchen besohlt werden… Ich dachte: Was, wenn wir an Stelle des Schuhmachers einen Schriftsteller hätten? Und statt der Schuhe Erinnerungen – oder Geschichte?

Wie kann Literatur mit dem Holocaust umgehen, wenn ihr nur noch die Fiktion oder die Erinnerung aus zweiter, dritter Hand bleibt?

Segal: Sie schafft eine persönliche Verbindung zu den Lesern. Es ist beispielsweise sehr schwierig, eine Gedenkstätte zu besuchen – und tatsächlich etwas zu fühlen. Man weiß natürlich, wie man sich respektvoll verhält, was man spüren müsste. Aber das passiert nicht immer. Die Situation ist ein bisschen künstlich. Mit einer guten Geschichte ist der Leser gleichsam in den Schuhen der Figuren unterwegs.

Sie nähern sich Ihrem ernsten Thema sehr leicht, mitunter mit schwarzem Humor. In Deutschland taucht da reflexartig die Frage auf: Darf man das?

Segal: Das geschieht auch in Israel. Doch wenn sich nur die Generation der Holocaust-Überlebenden zu Wort melden darf, wäre die Geschichte auserzählt. Erinnerungen muss man immer wieder neu erfinden. Ich versuche, eine zweite oder sogar dritte Ebene der Erinnerung zu bauen. Eine Interpretation von authen-tischer Erfahrung. Das darf Literatur! Kunst, die etwas nicht darf, ist für mich nicht interessant.

Sie haben für Ihr Buch 18 Monate im Visual History Archive des Shoah Foundation Institute an der FU Berlin recherchiert. Eine einschneidende Erfahrung?

Segal: Zugegeben, ich hatte Angst davor. Aber es war einfacher, als ich dachte. Vielleicht hat sich das auch auf die Stimmung des Buches ausgewirkt. In den Videos begegneten mir Männer und Frauen, die oft mit viel Humor über ihre schlimmen Erfahrungen sprechen. Auch bitterem Humor. Manchmal musste ich sogar laut lachen, was die Archivare natürlich geschockt hat. Viele der Zeitzeugen sind tatsächlich gute Geschichten-Erzähler! Und genau die habe ich gesucht.

Momentan arbeiten Sie daran, einen Animationsfilm zu Ihrem Roman fertigzustellen. Wieso gerade dieses Genre?

Segal: Warum soll ein Klavierspieler nicht Trompete spielen? (lacht) Animation erscheint mir sinnvoll, gerade bei diesem heiklen Gegenstand: Dokumentar-filme benutzen Archivmaterial, für Spielfilme werden Locations und Geschehnisse nachgebaut. Ich würde mich dort verlieren, das ist nicht meine Welt. In der Animation kann ich mich auf die persönliche Geschichte hinter der erdrückenden Erzählung vom Holocaust konzentrieren.

Sehen Sie sich in Israel mit Blasphemie-Vorwürfen konfrontiert? Oder ist so etwas spätestens seit Art Spiegelmans „Maus“ kein Thema mehr?

Segal: Filme wie „Persepolis“ oder „Waltz with Bashir“ haben gezeigt, dass sich das Genre auf seriöse Weise zeitgeschichtlichen Themen annähern kann. Wir sind also nicht die ersten, die so etwas tun. Die Japaner machen es schon seit vielen Jahren: Es gibt Animee-Filme über Hiroshima und Nagasaki. Anne Frank ist Heldin in einem Dutzend Animee-Streifen! Für uns, die wir es gewohnt sind, Pixar- und Disney-Filme zu schauen, mag es etwas Neues sein.

Sie leben abwechselnd in Berlin und Tel Aviv. Was haben beide Städte gemeinsam?

Segal: Die kosmopolitische Stimmung der Städte ist durchaus vergleichbar. Auch, dass man viel Fahrrad fährt. Und inzwischen gibt es hier in Berlin so viele Israelis, dass es mir manchmal tatsächlich wie ein zweites Tel Aviv vorkommt. Beide Städte sind ziemlich groß, trotzdem findet man in seinem Kietz alles, was man zum Leben braucht.

Wie funktioniert das Zusammenleben mit Palästinensern, Libanesen, Syrern in dieser Stadt? Geht man sich eher aus dem Weg – oder aufeinander zu?

Segal: Wir sind weit entfernt von den Konfliktzonen des Nahen Ostens. Wahrscheinlich können wir hier deshalb besser miteinander reden. Wir müssen zumindest nicht streiten.

Berlin als gelobtes Land?

Segal: Ich habe im Rahmen meines Stipendiums gerade zwei Monate in Moabit gelebt, wo es 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund gibt. Ich wohnte in einer Art Künstler-Kommune, dem Zentrum für Kunst & Urbanistik. Auch hier gab es ein paar Leute aus dem Iran – wir haben uns sehr gut angefreundet. Ich habe viel Arabisch auf der Straße gehört, Türkisch, ein wahres Sprachgemisch – es funktioniert irgendwie!

Der Nahostkonflikt ist jedoch auch hier Thema, als junger Israeli können Sie dem nicht ausweichen. Eine Bürde?

Segal: Ich glaube, kein Schriftsteller möchte auf die Rolle eines Posterboys für die israelische Politik reduziert werden. Ich bin Autor – kein Politiker. Ich verstehe die Neugier, ich schätze sie auch. Es ist gut, Fragen zu stellen. Das bedeutet ja, dass man sich auf den anderen einlässt.

Manchmal würden Sie lieber nur über Filme, Musik oder Literatur reden?

Segal: Literatur und Politik lassen sich nicht trennen. Man kann auch kluge politische Fragen stellen. Dann bekommt man die richtigen Antworten.

Ron Segals erster Roman „Jeder Tag wie heute“ ist 2014 im Wallstein Verlag erschienen.

Bildquelle: Tobias Bohm

Magische Orte

Magische Orte

Im Westen was Neues! Auf der Georg-Schwarz-Straße, zwischen dem alten Arbeiterviertel Lindenau und dem angrenzenden Leutzsch, atmet fast jeder Pflasterstein Geschichte: Hier, wo die Tram-Linie 7 entlangrumpelt, erinnern Jugendstilfassaden und verblasste Schriftzüge an einst florierende Geschäfte, Gaststätten oder Kinos – weniger an die soziale Not der Gründerzeit oder aufmüpfige Jugend-Meuten, die gegen das NS-Regime opponierten. Nach 1989 drohte das unangepasste, zu DDR-Zeiten immer grauer gewordene Viertel jedoch endgültig den Anschluss zu verlieren. Längst hat die wundersame Wandlung des Leipziger Westens vom Problem-Kietz zum Trendquartier auch die Georg-Schwarz-Straße erreicht: Ein Biotop für Lebenskünstler, Studenten und junge Familien auf der Suche nach günstigem Wohnraum ist sie geworden. Vieles ist hier in Bewegung, fast alles möglich – sogar eine eigene Internetseite. Getragen werden die Aktivitäten von einem Netzwerk lokaler Akteure: Das Magistralenmanagement, dazu Bürgervereine oder sozio-kulturelle Initiativen, die alte Häuser selbst in Schuss bringen und neu beleben. Die urbane Ideenwerkstatt „kunZstoffe“, die Künstlern, Manufakturisten und Handwerkern Räume für kreatives Arbeiten zur Verfügung stellt. Das „hinZundkunZ“, das in einem selbst renovierten ehemaligen Uhren- und Schmuckgeschäft zu Konzerten, Lesebühnen und Filmabenden einlädt. Das Kinderbüro „Tüpfelhausen“, aus einem Familienportal entstanden. Der „Wollzirkel“ einer Modedesignerin oder die „Autodidaktische Initiative“, die auch Deutschkurse für Migrantenfamilien anbietet. Im Mai, wenn in den grünen Höfen, vor den Läden und Lokalen der wieder wachgeküssten Schönen das Georg-Schwarz-Straßenfest swingt, mit Live-Bands, Bratwurst und veganer Schoko-Tarte, trifft man sie alle. Mit der Reihe „westwärts“ hat seit 2012 auch „Leipzig liest“ den Sprung in das immer bunter werdende Viertel gewagt. Ob Krimis im Büro des Bürgervereins, junge Dichter im „Café Schwarz“ oder ein Abend über Leipzigs „Lost Places“ in einem der selbstverwalteten Projekte-Häuser – zu den mehr als ein Dutzend Veranstaltungen kommt das Publikum längst nicht mehr nur aus der Nachbarschaft. Einmal mehr erweisen sich die vier Tage im März als Inspirationsquelle und Mutmacher für neue, spannende Ideen. Davon haben am Ende alle etwas: Kietz-Akteure, Büchermacher – und neugierige Leser.

Das Foto von Karen Lemme ist dem wunderbaren Georg-Schwarz-Straßen-Blog entnommen, den die Studentin Helena Mohr von Juni 2012 bis November 2013 betrieb. www.georgschwarzstrasse.wordpress.com

Grenzüberschreitungen Die Geschichte der naTo handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume – und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Übernahme. Bis dahin hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“ in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden, Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual. Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünstler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die Jazz-, Rock- und Punkszene. Unvergessen die mit Judy Lübke, dem Galeristen der Eigen+Art, eingefädelte, offiziell als „Faschingsveranstaltung“ deklarierte Verleihung des unabhängigen Kunstpreises „Prix de Jagot“. Grandios die Auftritte des „Front-Theaters“ mit Peter Turrinis „Rattenjagd“. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990 das monetäre Ende der DDR besiegelt. Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren, Avantgarde und Volksfest fließend sein können – ob mit den legendären Badewannen- und Seifenkisten-Rennen oder der Weltpremiere einer Band wie Rammstein. Neben Musik, Filmkunst und Off-Theater hat sich die naTo, gerade in Buchmesse-Zeiten, längst auch als wichtiger Literatur-Veranstaltungsort etabliert. Dabei blicken die Programm-Macher gern über den eigenen Tellerrand hinaus: Länder-Specials wie die Nordische Literaturnacht sind Highlights im „Leipzig liest“-Programm. Egal, ob Ost, West, Nord oder Süd: Die Mutter aller Kulturkneipen ist immer für eine literarische Weltreise gut. Immer geht es um spannende Autoren, um packende Geschichten. Wetten, dass das Licht in der naTo, wie vor 30 Jahren, erst gegen Morgen ausgeht?

Der Band „30 Jahre naTo“ (Passage Verlag, Leipzig 2012) bietet in persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte dieses besonderen Kulturortes.

naTo, Karl-Liebknecht-Straße 46

Im Schatzhaus der Bücher Martin Walser hat hier seinen Geburtstag gefeiert, Michael Krüger und Josef Haslinger lasen aus dem Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard. Ob intime Runden im Fürstenzimmer oder großes Kino mit Margret Atwood, Dave Eggers, Christian Kracht, Franz Xaver Kroetz – Abende in der Bibliotheca Albertina sind Sternstunden im an Höhepunkten nicht eben armen Programm von „Leipzig liest“. Wenn es in den prächtigen, bis auf den letzten Platz gefüllten Lesesälen, in denen tagsüber gelernt, geforscht, vielleicht auch geträumt wird, mucksmäuschenstill wird, wenn sich das Haus der Bücher in eine pulsierende Bühne der Literatur verwandelt – dann schlägt die Bibliothek lesende Autoren und Publikum gleichermaßen in Bann. Die Halbmillionenstadt Leipzig verfügt über eine lebendige Bibliothekslandschaft, um die sie mancher beneidet – doch die Albertina ist ein besonderer Glücksfall. Rund 64 Millionen Euro flossen von 1992 bis 2002 in den Wiederaufbau der Bibliothek. Nach zehn Jahren waren 31.000 Quadratmeter benutzbar gemacht, 750 moderne Arbeitsplätze geschaffen und 240.000 Werke in Freihand aufgestellt – auch dort, wo vorher Kohlen unter freiem Himmel lagerten. Und die Zeit steht nicht still: Mehr und mehr entwickeln sich wissenschaftliche Bibliotheken zu Lernorten, in denen weniger gelesen als konzentriert geschrieben wird. Die Nutzer erwarten heute lange Öffnungszeiten und unterschiedlichste Arbeitsplatzqualitäten – bis hin zum Eltern-Kind-Raum. Im Frühjahr eröffnen eine Lese-Lounge mit Café und ein neuer, großer Vortragsraum mit 250 Plätzen. Mit einem attraktiven Veranstaltungs-und Ausstellungsprogramm ist die Bibliotheca Albertina ein Kultur-Ort für alle Leipziger, nicht nur für Studierende und Wissenschaftler. Wer den Zauber des Hauses an einem Messeabend gespürt hat, kommt wieder.

Universitätsbibliothek Leipzig, Bibliotheca Albertina, Beethovenstraße 6

Bildquelle: Karen Lemme, Nato, Universitätsbibliothek Leipzig