Frau Küçük, was hat Sie als studierte Politologin gereizt, ans Theater zu gehen?
Esra Küçük: Ich glaube, man muss in ungewöhnlichen Zeiten Mut für ungewöhnliche Dinge haben. In der Jungen Islam-Konferenz hatten wir den Ansatz: Da, wo Unwissenheit und Vorurteile herrschen, ist Wissen gefragt! Man muss aufklären und den Diskurs versachlichen. Das hat gut geklappt, wir sind jedoch oft an eine Grenze gestoßen, an der man mit Fakten allein nicht weiterkommt. Deshalb hat es mich gereizt, einen Bereich kennenzulernen, der mehr mit Emotionen arbeitet. Das Theater weiß, wie man Geschichten erzählt, die Menschen erreichen.
Am Gorki Forum arbeiten Sie, so kann man lesen, an der Schnittstelle zwischen Kultur, Wissenschaft und Politik an „einem produktiven Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität“. Was heißt das genau?
Küçük: Grundsätzlich ging es um die Idee, dass Theater noch mehr rein in die Stadt muss. Die Themen, die wir behandeln, haben so viel diskursive Stahlkraft, dass wir nicht nur notorische Theaterbesucher erreichen wollen. Wir öffnen unsere Bühne auch regelmäßig für Partner. Der Junge Berliner Rat ist ein gutes Beispiel für diesen Ansatz: Für ein Jahr kommen hier junge Kreative zusammen, die sich zwischen politischer und ästhetischer Praxis bewegen. Ein „Think Tank“, der intervenieren, reflektieren, beraten, Dinge infrage stellen und eigene Aktionen planen wird. Die große Klammer ist die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen eine junge Generation eigentlich gern leben würde. Wir haben das, vielleicht etwas vollmundig, „Junge Berliner postmigrantische Internationale“ genannt: Wie würden deren Songs, Plakate und Texte aussehen? Eigentlich geht es darum, Leute ans Haus zu holen, die uns selbst einen kritischen Spiegel vorhalten. Wir haben mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren in Berlin zwar das jüngste Publikum, aber wir haben auch unsere blinden Flecken…
Diskursive Formate wie „Streitraum“ an der Berliner Schaubühne oder Harald Welzers Projekt „Die offene Gesellschaft“ haben derzeit Konjunktur, häufig finden sie an Theatern statt. Erreicht man dort nicht immer die eh schon Aufgeschlossenen?
Küçük: Der Vorwurf ist nicht neu: Preaching to the already converted (lacht). Es bleibt eine Herausforderung. Wir versuchen zwar, uns für die ganze Stadt zu öffnen; für die hier Aufgewachsenen wie für alle, die in den letzten Jahrzehnten dazugekommen sind – egal, ob durch Flucht, Exil oder Einwanderung. Aber ein Theaterraum bleibt ein Theaterraum. Leute, die Dialogformaten grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, wird man da nicht hin zwingen können. Aber den Raum für unsere Themen zu öffnen, die Auseinandersetzung offensiv zu führen, ist wichtig.
Die provokanten Lautsprecher, etwa jene der AfD, werden wahrgenommen – die saftlosen Liberalen nicht. Ein Problem für unsere Debattenkultur?
Küçük: Es gehört zur Strategie von Rechtspopulisten, erst mal mit steilen Thesen an die Rampe zu gehen – und dann, wenn die Aufregung groß ist, zurückzurudern: Sorry, war nicht so gemeint! Das hält ganz viele Leute in Atem, die eigentlich differenzieren, analysieren, Argumente in den faktischen Kontext rücken wollen. Die Frage ist: Wieso lassen wir uns eigentlich unsere Agenda so plump vorschreiben?
Sie stellen das Programm Europa21 im kommenden März unter das Motto „WIR in Europa – Wofür wollen wir einstehen?“. Haben wir es bislang versäumt, eine eigene, positive Narration in Umlauf zu setzen?
Küçük: In Deutschland wissen wir immer sehr schnell, was wir nicht sind: Wir sind kein Einwanderungsland, Multikulti ist tot… Da werden Scheindebatten geführt, und alle machen mit! Deshalb habe ich versucht, für Europa21 die Perspektive etwas zu verschieben: Schauen wir einfach mal, was uns in Europa eigentlich noch zusammenhält – und in wie weit sich unser Selbstbild, das oft mit den Attributen „demokratisch“, „offen“, „sozial“ und „tolerant“ beschrieben wird, mit den Realitäten deckt. Es ist viel schwieriger, eine eigene Vision zu formulieren, als Kritik zu üben.
Geredet wird in den gängigen Talkshowformaten ohne Ende. Was wollen Sie anders, wo möglich besser machen?
Küçük: All diese Talk-Runden zu Migration, Flucht, Integration, Identität und so weiter funktionieren nach denselben Schemata: Es wird nach bestimmten Rollen besetzt, und schon dieses Casting gefällt mir nicht. Richtig ärgerlich wird es, wenn man bedenkt, dass diese Formate Millionen Zuschauer erreichen. Das prägt unsere Debattenkultur viel stärker als eine Saison im Gorki. Wenn es wirklich um Dialog und Verständigung geht, muss man zusammen, gewissermaßen ‚live’, denken. Es kann nicht nur darum gehen, Positionen durchzubringen.
Dringen differenzierte Argumente in postfaktischen Zeiten überhaupt noch durch?
Küçük: Gerade in Wahlkampfzeiten sehen wir, dass Differenzierung auf der Strecke bleibt. Stattdessen ist „Fake-News“ das neue Buzzword. Deshalb ist es mir so wichtig, die Diskurskultur qualitativ aufrecht zu erhalten. Wir müssen neue Rhetoriken entwickeln, differenzierte Meinungen auch sexy zu machen. Wie das genau funktionieren soll, weiß momentan niemand.
Welche Erfahrungen aus Ihrer Arbeit fließen in die Vorbereitung von Europa21 in Leipzig ein?
Esra Küçük: Wir werden versuchen, die Diskurse performativer zu gestalten. Und dadurch auch Emotionen stärker ins Spiel zu bringen. Wir wollen mit Akteuren aus Kultur, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik zusammenkommen, um die verschiedenen Reaktionen auf die aktuellen Herausforderungen in Europa zu beleuchten. Gemeinsam mit dem Neuen Institut für Dramatisches Schreiben (NIDS) laden wir Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichsten europäischen Regionen ein, Texte zu lesen, die vor dem Hintergrund von Flucht, Vertreibung und Migration entstanden sind – und mit dem Publikum über ihre Erfahrungen zu sprechen. So werden komplexe, globale Zusammenhänge auf ganz konkrete Geschichten heruntergebrochen – und bekommen eine persönlich erlebbare Nähe. Die Frage nach dem „Wir“ ist letztlich eine Einladung, uns selbst zu begegnen und uns über unsere Rolle im Hier und Jetzt zu verständigen.
Welches Buch liegt gerade bei Ihnen auf dem Nachttisch, dem Sie besonders viele Leser wünschen?
Küçük: (lacht) Das Buch, das mich gerade beschäftigt, hat glücklicher Weise schon viele begeisterte Leserinnen und Leser – es ist Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ (Suhrkamp). Ein soziologischer Essay, der sich so fesselnd liest wie ein Roman.
Esra Küçük ist gebürtige Hamburgerin und Diplom-Sozialwissenschaftlerin. Sie absolvierte ein deutsch-französisches Doppeldiplom an der WWU Münster und am Institut d’Études Politiques (Sciences Po) in Frankreich. Nach Stationen bei der Stiftung Mercator, dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration sowie der Humboldt-Universität zu Berlin leitete sie das von ihr initiierte deutschlandweite Bildungsprogramm Junge Islam Konferenz. Seit März 2016 leitet Esra Kücüc das Gorki Forum, einen neuen Ort für Diskurs und Vermittlung am vielfach ausgezeichneten Maxim Gorki Theater in Berlin.
„Ich mach’ was mit Büchern“ – in der Branche ist das längst eine stehende Redewendung, bei Jugendlichen auf der Suche nach dem Traumjob fürs Leben steht der Satz hoch im Kurs. Auch Nora Furchner war von ihm elektrisiert, als sie – noch während ihrer Abiturzeit – nach Leipzig kam, um sich an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) über den Studiengang Bibliotheks-Management zu informieren. Von der Stadt war sie auf Anhieb begeistert, doch am Ende spuckte die Website Hochschulkompass, auf der sie ihr Interessenprofil eingegeben hatte, den Studiengang Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen aus. Bayern statt Sachsen. Furchner machte, mit Kunstgeschichte im Nebenfach und Jobs in der Erlanger Thalia-Filiale, in Franken ihren Bachelor; früh kristallisierten sich zwei Steckenpferde heraus – Kinder- und Jugendliteratur und Digitalisierung. „In einem Verlag an der Entwicklung digitaler Kinderprodukte mitzuarbeiten“, erinnert sich Furchner, „das konnte ich mir damals sehr gut vorstellen“.
„Du bekommst das hin!“
Doch es kam anders: Nora Furchner wechselte nach Leipzig, um an der HTWK ein Masterstudium Verlags- und Handelsmanagement zu absolvieren. Ein Praktikum führte sie in die Kommunikationsabteilung der Leipziger Messe. Sie blieb – und hatte es bald mit ihrer ersten großen Herausforderung zu tun: Als Schwangerschaftsvertretung für die Programm-Projektleiterin Gesine Neuhof kümmerte sie sich etwa um den Preis der Leipziger Buchmesse, das Programm autoren@leipzig und den Hörbuchbereich. Bald darauf war sie mit der Organisation des 6. Bibliothekskongresses betraut. „Der Anforderungsdruck ist hoch“, bekennt Furchner. „Doch mit der Zeit entwickelt sich so etwas wie ein Grundvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Man weiß: Du bekommst das hin.“ Nach einem Zwischenspiel im Organisations-Team von RoboCup, eines von der Leipziger Messe ausgerichteten internationalen Technologie-Events, hat Nora Furchner seit September fest beim Buchmesse-Team angedockt. Gemeinsam mit Michiko Wemmje verantwortet sie das junge Programm der Messe – die Bereiche Kinder- und Jugendbuch, Bildung sowie die Manga-Comic-Con (MCC).
Doppelspitze für das junge Messe-Programm
„So eine Doppelspitze gab es bislang nicht“, erklärt Furchner. „Aber dieser Stellenzuschnitt ist absolut sinnvoll. Er hilft uns zum einen, die eng mit der Messe verbundene MCC weiterzuentwickeln – andererseits können wir uns so mit mehr Power den gewachsenen Herausforderungen im Bildungsbereich widmen. Hier wächst die Buchmesse sehr dynamisch.“ Als Projektmanagerin koordiniert Nora Furchner konkret die Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugendbuch-Ausstellern in Halle 2 sowie die Bereiche Leseförderung und Fantasy. Bei der MCC ist sie für Verlage, deren Ehrengäste und die Gaming-Aussteller verantwortlich. „Ganz sauber lassen sich unsere Zuständigkeiten nicht trennen“, räumt sie ein, „es gibt durchaus Überschneidungen.“ Letztlich ist die Arbeit im Tandem bereichernd; die alte Weisheit, wonach vier Augen mehr als zwei sehen, bewahrheitet sich auch im Messealltag. Furchner, die die Abläufe eines normalen Messe-Zyklus’ bereits kennt, steht ihrer neu zum Team gestoßenen Kollegin dabei als Mentorin zur Seite.
„Jeder kann programmieren…“
Unsere Wissens- und Informationsgesellschaft setzt auf kluge Köpfe – ein Potenzial, das die Leipziger Buchmesse mit Phantasie und frischen Ideen wecken will. Manchmal gerät Nora Furchner ins Staunen, wie rasant die Entwicklung seit ihrer eigenen Schulzeit vorrangeschritten ist. Beim RoboCup im letzten Sommer hat sie ein Projekt betreut, bei dem Kinder und Jugendliche ihren eigenen Roboter bauen und programmieren konnten. „Eigentlich müsste man heute in jedem Studium lernen, wie eine App oder ein Enhanced E-Book funktioniert. Nicht nerdig IT-lastig, aber in Grundzügen! Das Know-how, das sich viele Verlage heute teuer einkaufen, sollten Studenten schon mitbringen.“ Zukunftsmusik? Einstweilen ist Nora Furchner froh, dort angekommen zu sein, wo sie, womöglich ohne es zu wissen, schon immer hinwollte – trotz aller Umwege.
Nora Furchner, geboren 1989 in Dresden, studierte nach dem Abitur in Erlangen Buchwissenschaft (BA) und Kunstgeschichte, danach absolvierte sie ihren Master im Verlags- und Handelsmanagement an der HTWK Leipzig. Erste Berufserfahrungen sammelte sie bei der Leipziger Buchmesse sowie bei der Organisation des 6. Bibliothekskongresses. Als Projektmanagerin koordiniert sie ab sofort die Bereiche Kinder- und Jugendbuch, Leseförderung, Fantasy und gemeinsam mit Michiko Wemmje die Manga-Comic-Con.
Soll man sich vorsichtig, Schritt für Schritt, an die neue Herausforderung herantasten – oder einfach ins kalte Wasser springen? Für Michiko Wemmje war das keine Frage: Die gebürtige Oldenburgerin, seit Mitte Oktober neu im Buchmesse-Team, stürzte sich am dritten Arbeitstag mit ihren Kolleginnen ins Frankfurter Messegetümmel, Termine im Halbstundentakt. Watt mutt, datt mutt, unter Seefahrern würde man es Äquatortaufe nennen. Wemmje stieß zur Mannschaft, nachdem sich die Leipziger Buchmesse entschlossen hatte, die wachsenden Bereiche der Hallen 1 und 2 – Bildung, Kinder- und Jugendbuch sowie die Manga-Comic-Con -, die bislang von einer Projektmanagerin betreut wurden, einem Zweier-Team anzuvertrauen: Während sich Michiko Wemmje im Rahmen von „Fokus Bildung“ um Verlage, Schulen und Kitas kümmert und bei der MCC als Ansprechpartnerin für den Kreativbereich, Händler und das Programm fungiert, ist ihre Kollegin Nora Furchner für die Messebereiche Kinder- und Jugendbuch, Fantasy und die MCC-Verlage verantwortlich. Die beiden Projektmanagerinnen, deren Arbeitsfelder so eng verzahnt sind, spielen sich die Bälle schon reichlich routiniert zu: „Ich bin Team-Arbeit gewohnt“, sagt Wemmje, „wir ziehen an einem Strang. Außerdem hilft mir Nora als Mentorin bei der Einarbeitung“. Die Konstellation passt.
Vom „Lambchop“-Konzert zum Seminar-Referat
Michiko Wemmje zog es nach dem Abitur nach Berlin, wo sie zunächst eine Ausbildung zur Europasekretärin absolvierte. „Sprachen und Literatur haben mich interessiert, ich konnte mich damals aber noch nicht für einen Studienplatz entscheiden. Also wollte ich was Handfestes lernen. Die BWL- und IT-Kompetenzen, vor allem die Fremdsprachen haben mir in späteren Jobs sehr geholfen.“ Insgesamt zehn Jahre lebte und arbeitete Wemmje in der Hauptstadt: Nach einer Station beim Europäischen Patentamt stieg sie bei der Konzertagentur Berthold Seliger ein, wo sie Touren für Bands wie Lambchop, Iron and Wine oder Jason Molina organisierte. Um schließlich doch noch ihren Bachelor in Kulturwissenschaften (Schwerpunkt: Literatur und Kulturgeschichte) abzulegen – an der Europa Universität Viadrina. Das Pendeln zwischen Berlin und Frankfurt/Oder war kein Zuckerschlecken („Man schafft es in einer guten Stunde – wenn der Zug pünktlich ist!“), doch Wemmje bewies Stehvermögen: Noch während eines Erasmus-Jahrs in Spanien arrangierte sie freiberuflich die Tourneeplanung für ein kleines deutsches Indie-Label.
Born in Borna
Nach Leipzig kam Michiko Wemmje, die nach dem Studium zunächst bei Stylepark in München arbeitete, der Liebe wegen; hier wohnt der Vater ihres Sohnes, der vor anderthalb Jahren in Borna das Licht der Welt erblickte. Das Stellen-Angebot der Buchmesse hat sie sofort elektrisiert – eine wunderbare Möglichkeit, Ausbildungs- und Joberfahrungen mit persönlichen Neigungen unter einen Hut zu bekommen. Manche reichen bis in die Oldenburger Kindheit – etwa die Begeisterung für die Filme des japanischen Anime-Regisseurs und Oscar-Gewinners Hayao Miyazaki („Chihiros Reise ins Zauberland“). Nun also: Leben in Leipzig. The better Berlin? Verglichen mit der trubeligen Hauptstadt ist die Stadt für Wemmje deutlich ruhiger, familienfreundlicher: „Das Kind in den Hänger, aufs Rad steigen, in fünf Minuten an der Sachsenbrücke, dann ab in den Auwald – wo gibt’s das noch?“ Jetzt, da die heiße Phase der Buchmesse-Vorbereitung für März 2017 läuft, wird die Zeit für derlei Luxus knapp. Michiko Wemmje nimmt’s gelassen: „Seit ich ein Kind habe, bin ich noch mal ne Nummer entspannter geworden. Eigentlich bringt mich gerade nicht mehr so viel aus der Ruhe.“
Michiko Wemmje, geboren 1983 in Oldenburg, studierte nach ihrer Ausbildung zur Europasekretärin Kulturwissenschaften an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Sie war u. a. als Sachbearbeiterin im Europäischen Patentamt (Berlin), als Tourneeproduzentin und Projektmanagerin bei Stylepark (München) tätig. Seit Mitte Oktober 2016 arbeitet Wemmje als Projektmanagerin bei der Leipziger Buchmesse.
In der Literatur-Geschichte eines Landes sind 15 Jahre eine verhältnismäßig kurze Zeit, vielleicht ein Wimpernschlag. Blickt man auf den komplizierten Prozess der Neu- und Wiederentdeckung der litauischen Literaturlandschaft für den deutschsprachigen Raum, scheinen die Uhren langsamer zu ticken. Fast 15 Jahre ist es her, dass sich Litauen als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2002 mit großen Lettern auf die europäische Literaturlandkarte einschrieb. Wenn sich der südlichste der drei baltischen Staaten im März 2017 als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse präsentiert, muss die Geschichte nicht mehr von Anfang an erzählt werden. Man kann an bestehende Netzwerke anknüpfen, auf- und anbauen: Nun, so erklärt Aušrinė Žilinskienė, Direktorin des litauischen Kulturinstituts und Kuratorin des Leipzig-Auftritts, geht es darum, „zu zeigen, wie genau wir anders sind im gemeinsamen Haus Europa“.
Differenzierung und Vielfalt
Während etwa in Deutschland aktuell die Flüchtlingskrise die gesellschaftliche Debatte bestimmt, leidet Litauen unter massiver Migration ins westliche Ausland: Seit der Unabhängigkeitserklärung von 1991 hat fast eine Million Litauer die Heimat verlassen – alarmierend für ein Land mit knapp drei Millionen Einwohnern. Nicht erste literarische Probebohrungen also, sondern Differenzierung und Vielfalt sind angesagt. Als Gastland in Leipzig will sich Litauen, das seit 2004 Mitglied der EU und der Nato ist und seit 2015 zum Schengen-Raum gehört, als moderner Staat mit 100jähriger Geschichte präsentieren. „Litauen. Fortsetzung folgt“ lautet konsequenterweise das Motto des Auftritts. 2018 begeht das baltische Land den 100. Jahrestag der Gründung der Republik Litauen – über 100 Jahre auf dem Weg in die Moderne wird eine eigens für Leipzig vorbereitete Messe-Anthologie berichten: 25 Autorinnen und Autoren beleuchten dort mit ganz individuellem Blick schlaglichtartig Entwicklungen in Kultur, Wirtschaft, Architektur und Wissenschaft. Spannende Lektüre.
Getrennte Welten rücken zusammen
Mit dem Tod zweier berühmter Schriftsteller – des Lyrikers Bernardas Brazdzionis und des Prosaisten Ricardas Gavelis – ging 2002, im Jahr des Frankfurter Gast-Auftritts, das 20. Jahrhundert in der litauischen Literatur zu Ende: Ein Jahrhundert, das von Exil, Unterdrückung, von der erzwungenen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus und mehreren Neuanfängen geprägt war. Seither haben es Jahr für Jahr nur eine Handvoll litauischer Autoren auf den deutschsprachigen Buchmarkt geschafft. Das wird sich 2017 gründlich ändern: Rund 20 Autorinnen und Autoren werden mit neu übersetzten Titeln in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu entdecken sein. Die Liste der engagierten Verlage reicht von Aufbau bis Wieser, der thematische Zugriff von der Auseinandersetzung mit der litauischen Geschichte bis in die unmittelbare Gegenwart. Zu entdecken gilt es moderne Klassikern der litauischen Literatur – aber auch die „Jungen Wilden“. Auf einen besonders wichtigen Punkt macht Aušrinė Žilinskienė aufmerksam: Die neu übersetzten Bücher ermöglichen nun auch eine Gesamtschau der lange getrennten Welten litauischer Literatur aus Exil und Mutterland; dazu treten die einst von ihren Wurzeln abgeschnittenen Autoren, die im sowjetische Litauen schrieben oder jene, die vergessen im sibirischen Gulag schmorten.
Keine Kompromisse mit der Macht
Viele litauische Schriftsteller von Rang, die das Inferno des 2. Weltkrieges überlebten, gingen in den Westen. Antanas Škėma etwa emigrierte 1949 in die USA; sein berühmter Roman „Das weiße Laken“ („Balta Drobule“), in Litauen Schullektüre, wird nun von dem auf literarische Wiederentdeckungen spezialisierten Guggolz Verlag zwischen Buchdeckel gebracht. Bei Suhrkamp erscheint 2017 ein neues Buch des in Klaipéda geborenen Lyrikers und Essayisten Tomas Venclova, der Litauen 1977 verließ. Venclova lehrt seither in Yale slawische Literaturen und hat sich mit seinen engen Kontakten zu den Nobelpreisträgern Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz in eine übernationale osteuropäische Kultur eingebürgert. Der 2002 gestorbene Jurgis Kunčinas war in Litauen geblieben: Er studierte Germanistik an der Universität Vilnius, wurde aber 1968 zwangsexmatrikuliert, als er sich weigerte, am obligatorischen Wehrkundeunterricht teilzunehmen. Später arbeitete er als Übersetzer aus dem Deutschen, Erzieher, Transportarbeiter und Krankenpfleger. Sein in den frühen 90ern erschienener Roman „Tula“ ist die autobiografische Geschichte eines jungen Literaten, der keine Kompromisse mit den Mächtigen eingehen will – und ein großartiger Vilnius-Roman, der nun endlich bei Corso zu entdecken sein wird.
Entdeckungen für deutschsprachige Leser
Mit seinem bewegenden Roman „Mein Name ist Maryte (Mitteldeutscher Verlag 2015), der das lange in Vergessenheit geratene Schicksal der ostpreußischen „Wolfskinder“ nach dem Einmarsch der Roten Armee aufgreift, hat der 1966 geborene Autor und Regisseur Alvydas Šlepikas bereits zahlreiche deutsche Leser gefunden. Von Šlepikas, der zu den im Ausland derzeit gefragtesten litauischen Autoren gehört, legt der Mitteldeutsche Verlag 2017 den Erzählband „Der Regengott“ („Lietaus dievas“) nach. Einen herausgehobenen Platz in der litauischen Gegenwartsliteratur nimmt, nicht zuletzt aufgrund ihres an Charms und Woody Allen geschulten Witzes, die 1967 geborene Undinė Radzevičiūtė ein, die nach ihrem Kunststudium in Vilnius zunächst in die Werbung ging und für Weltkonzerne wie Saatchi & Saatchi und Leo Burnett arbeitete. Nun hat sich der Salzburger Residenz Verlag die Rechte an ihrem bislang besten Roman „Fische und Drachen“ („Žuvys ir drakonai“) gesichert, der 2015 den Literaturpreis der EU gewann.
Buchmarkt im Umbruch
Dass die Rolle Litauens im zusammenwachsenden Europa im kommenden März in zahlreichen gesellschaftspolitischen Debatten thematisiert werden wird, steht außer Frage. Literaturbegeisterte können aber auch auf junge Kinderbuch-Illustratoren treffen – oder sich gleich Anregungen für den nächsten Urlaub holen: Als modernes Kulturreiseland hat Litauen mehr zu bieten als das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida auf der Kurischen Nehrung. Der litauische Buchmarkt, der sich vom mit der Weltwirtschaftskrise 2008 einhergehenden Einbruch noch nicht vollends erholt hat, erwartet sich einiges vom „Schaufenster“ Leipzig – noch haben gerade kleine, unabhängige Verlage einen schweren Stand gegen Konzerne wie Alma Littera – die größte Verlagsgruppe des Baltikums betreibt zugleich Litauens größte Buchhandels-Kette und einen Buch-Club.
Ein Hauch Brooklyn in Vilnius
Zu den Indie-Buchhändlern, die trotz Gegenwind neu gestartet sind, gehören die Karl-May-Fans von Mint Vinetu (http://www.mintvinetu.com) in der Altstadt von Vilnius: Gute Musik, starker Kaffee, kostenloses W-Lan, neue und gebrauchte einheimische und fremdsprachige Bücher, Schallplatten, an den Wänden stimmungsvolle Schwarz-Weiß-Fotos von Leserinnen und Lesern – dieses Bücherparadies könnte so auch in Berlin oder Brooklyn zu finden sein. Für ihre Print-Kampagne „Become Someone Else!“ wurden die Karl- May-Schwärmer sogar auf internationalen Werbe-Blogs gefeiert. Ganz gleich, ob man der Legende trauen kann, nach der im Paradies Litauisch gesprochen wird: Fürs neugierige Lesepublikum, das im Spiegel des Fremden mehr über sich selbst erfahren will, brechen im März 2017 paradiesische Zeiten an.
Fotos: Algimantas Aleksandravicius, Litauisches Kulturinstitut, Vladas Braziunas, Anika Matzke
2019 wird Tschechien Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse, Mitte Juli unterzeichneten der tschechische Kulturminister Daniel Herman und Buchmesse-Direktor Oliver Zille in Prag eine entsprechende Vereinbarung. Als Autoren und Verlage aus Tschechien 1995 erstmals im Leipziger Rampenlicht standen, war Mariella Bremer noch im Kita-Alter – die jetzt zum glücklichen Abschluss gekommenen Schwerpunktland-Verhandlungen hat sie selbst aktiv begleitet. Als Projektmanagerin im internationalen Bereich der Leipziger Buchmesse hält die 25-jährige engen Kontakt mit Kulturministerien und Verlegerverbänden, Programm-Kuratoren und Projektpartnern, bereitet Journalisten- und Verlegerreisen vor – die Timeline fest im Blick. Ein Job, der in Leipzig Tradition hat: Mit ihrem Schwerpunktland-Konzept fördern die Leipziger vor allem die Vernetzung von Büchermachern aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit ihren deutschsprachigen Kollegen: 2017 wird sich Litauen in Leipzig präsentieren, im Jahr darauf ist Rumänien Schwerpunktland der Frühjahrs-Bücherschau. Kein Wunder, dass Mariella Bremer in diesen Monaten zwischen Vilnius, Bukarest und anderen osteuropäischen Städten viel auf Achse ist: „Die Hallen füllen sich nicht von allein. Das gilt für Aussteller und Besucher.“
Ihren persönlichen Link zur Messe-Welt fand Bremer, die, kein Witz, in Bremen aufgewachsen ist und im Alter von 16 Jahren mit ihrer Familie nach Leipzig kam, auf einer Berufsbörse im Neuen Rathaus. Ein Zufall mit Folgen: 2009 nahm sie in Ravensburg ein duales BWL-Studium mit Schwerpunkt auf Messe-, Kongress- und Eventmanagement auf – jeweils drei Monate Theorie am Bodensee im Wechsel mit drei Monaten in unterschiedlichen Abteilungen des Praxispartners Leipziger Messe. Die Feuertaufe kam 2012: Frisch von der Uni, die Bachelor-Arbeit war eben abgegeben, übernahm sie für die Buchmesse die Organisation des im Frühjahr 2013 stattfindenden Bibliothekskongresses.
Nach einem halben Jahr stieg Bremer dann als Projektmanagerin fest bei der Leipziger Buchmesse ein. Eine Riesen-Herausforderung für die damals 21-jährige. Aber eben auch eine tolle Chance. „Als ich kam, wusste ich, dass mir mit diesem Team eigentlich nichts passieren kann. Wir arbeiten sehr gut und verlässlich zusammen; wenn es um einen Rat oder einfach nur eine zweite Meinung geht, sind alle sehr, sehr offen. Dieses Klima habe ich von Anfang an als sehr angenehm empfunden.“ Wie alle Mitarbeiterinnen im Team verantwortet Bremer neben ihrer übergreifenden Funktion auch spezielle Themengebiete – in ihrem Fall die Messe-Segmente Kunst und Musik sowie die Antiquariatsmesse. Stand- und Spielbein, eine gute Schule fürs „übergreifende Arbeiten“, wie Bremer findet. Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann, so nannte der französische Schriftsteller Francis Picabia das. Das Mariella Bremer nur noch selten zum Gitarrespielen kommt, steht auf einem anderen Blatt.
Bremers Traumjob kennt auch die Alltagsseite stupender Management-Kärrnerarbeit, to-do-Listen wollen abgehakt werden, Stress und Druck sind keine Fremdwörter. Doch immer wieder gibt es Sternstunden: Als die junge Frau 2015 in Vorbereitung des Messe-Schwerpunkts zu 50 Jahren deutsch-israelischer Beziehungen eine Journalistenreise nach Israel begleitet, trifft sie das Land ins Herz. Für die großen Namen der israelischen Gegenwartsliteratur hat sie sich schon länger interessiert, Amos Oz, David Grossmann oder Zeruya Shalev. Doch auf einmal mit jungen israelischen Autoren in einer Bar in Ost-Jerusalem ganz unverkrampft über Gott und die Welt, den Krieg, das Leben und die Liebe zu reden, ist etwas Anderes. „Ich möchte unbedingt wieder hin, möglichst bald.“
Zunächst muss Mariella Bremer noch ihre Masterarbeit fertig schreiben; an der Westsächsischen Hochschule Zwickau absolviert sie berufsbegleitend ein MBA-Studium. „Eigentlich wollte ich irgendwann ein ‚normales’ Master-Studium draufsatteln“, lacht sie. „Aber der Job lässt mich jetzt nicht mehr los“. Es kann kein Zufall sein, dass sich ihre Master-Arbeit mit der Innovationsfähigkeit von Messegesellschaften beschäftigt. „Ohne ausgeprägte Innovationskultur können Unternehmen heute nicht bestehen“, sagt sie, „egal, ob in der Buch- oder Messebranche.“ Im eigenen Arbeitsumfeld genießt Bremer die Freiheit, mit neuen Ideen auf offene Ohren zu treffen. „Und dann kann ich loslaufen.“ Initiativen wie der Book-Pitch für internationale Autoren oder der Musiklehrertag sind zweifellos ein Gewinn für die Buchmesse.
Dass Bremer, neben Fleiß, Talent und dem nötigen Quäntchen Mut auch ideale Rahmenbedingungen für ihren Blitzstart in den Beruf hatte, wurde ihr zuletzt während eines USA-Aufenthalts bewusst: Mit fünf Zwickauer Kommilitonen absolvierte sie nach der Messe im März ein einmonatiges Partnerprogramm an der Kettering University in Flint/Michigan. Der Druck, mit dem ihre Altersgenossen in den Staaten von der Schule zur Uni und in den Job hetzen, um ihre immensen Studienschulden abzustottern, hat sie nachdenklich gemacht – und ihren Blick auf die Heimat verändert. Von ihrer Wohnung in Schleußig zur Neuen Messe sprintet Mariella Bremer mit ihrem Rennrad in 35 Minuten. Bei der Buchmesse werden künftig ihre Langstrecken-Qualitäten gefragt sein.
Mariella Bremer, Jahrgang 1991, ist in Bremen aufgewachsen und Mitte der Nullerjahre mit ihrer Familie nach Leipzig gekommen. Nach dem Abitur am Evangelischen Schulzentrum absolvierte sie ein duales BWL-Studium mit Schwerpunkt Messe-, Kongress- und Event-Management in Ravensburg und Leipzig. Seit 2013 arbeitet sie als Projektmanagerin Internationaler Bereich, Musik, Buchkunst & Grafik im Buchmesse-Team.
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