Auf Orientierungssuche

Auf Orientierungssuche

„Die Europäer sind oft traurige Zuschauer.“ Mathias Enard, der für seinen Roman Kompass mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrte französische Autor, hielt seine Dankesrede im vollbesetzten Gewandhaus in flüssigem Deutsch – und artikulierte mit sanfter Stimme doch harte Fakten. Selten zuvor dürfte der engagierte Einspruch für die Idee eines friedlichen, geeinten Europas dringlicher gewesen sein als in diesen unwägbaren und politisch erhitzten Zeiten. Während Enard sprach, gingen die ersten Meldungen vom Anschlag in London über die Ticker. Enard, der polyglotte Kosmopolit, erinnert in seiner bewegenden Rede daran, wer Europa war – „eine libanesische Prinzessin, am Strand bei Sidon von Zeus entführt… eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute“. Der Genussmensch Enard, der neben seiner Schreibarbeit ein Fusion-Restaurant in den verschlungenen Gassen seiner Wahlheimat Barcelona betreibt, schöpft für seine phönizische Küche aus allen Regionen rund ums Mittelmehr. Wer wüsste besser als er, dass Europa, wenn es diesen Teil seiner Geschichte vergisst, sich selbst zu einer Art Einsamkeit verdammt – zu einer „Festung wider Willen“?

„Europa, wir müssen reden!“

So wie Enard in seiner Küche Aromen und Zutaten mischt, lebt die Leipziger Buchmesse von der Mischung aus lauten und leisen Tönen. Im Frühjahr 2017, zwischen Trump-Tiraden, Brexit und Erdogan-Ausfällen, hat sich das Mischungsverhältnis geändert. Politisch ist die Messe seit Jahren – doch der gesellschaftlichen Klimawandel sorgt für ordentlich Druck im Kessel und aus den Nähten platzende Arenen. Die Spiegel an der Bühnenrückwand des Café Europa signalisierten den Perspektivwechsel, den Kuratorin Esra Kücük dem Programmschwerpunkt Europa21 verordnete: In einer Reihe von „Salongesprächen“ versuchen Kulturschaffende und Intellektuelle zu erkunden, inwieweit sich unser Selbstbild mit den Realitäten deckt. Klar, dass in postfaktischen Zeiten nicht alles über den Kopf funktioniert: In ihrer Eröffnungs-Performance zerlegt die Schauspielerin Idil Nuna Baydar alias Jilet Ayse unsere Klischees und Vorurteile mit Brachial-Humor – und nimmt verschreckte Messebesucher nicht nur auf, sondern in den Arm. Das gemeinsame „Live-Nachdenken“, bei dem es nicht, wie sonst in Talk-Runden üblich, um das Durchpauken der je eigenen Positionen geht, funktioniert auf dem turbulenten Messe-Jahrmarkt erstaunlich gut. Das Ringen um den eigenen Standpunkt wird dem andächtig lauschenden Publikum niemand abnehmen.

Keine Scheu vor heißen Eisen

Das Bedürfnis nach Aufklärung, nach Reflexion und Durchdringung dessen, was in Europa in Zeiten des Terrors und in der Welt in der Zeit eines Trumps vor sich geht und wie man den Krisensymptomen beikommen kann, ist immens. In Halle 4, im „Café Europa“ und seiner Umgebung – den Ständen der Länder Osteuropas, der Schweiz und Österreichs – war der Andrang ähnlich groß wie in der Glashalle, wo die Lesungen der Stars auf dem Blauen Sofa oder den Bühnen der anderen TV-und Radiosender stattfinden. „Plötzlich ist Schluss mit p.c. und Canettis Massen beginnen wieder zu rasen“, so beschreibt etwa die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse das Gespenst des Populismus. Für ihren Autoren-Kollegen Ingo Schulze kommt er nicht aus heiterem Himmel, sondern hat seine Ursache in der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Das austro-sächsische Podium zum Populismus in Deutschland und Österreich, sekundiert vom Soziologen Robert Misik, moderiert vom NZZ-Kulturkorrespondenten Joachim Güntner, war zweifellos ein Highlight in der gemeinsam mit dem LCB aufgelegten Reihe Im Brennpunkt. Bei der klug besetzten Fortschreibung des ehemaligen „Autorenspecials“ wurden subjektive Autoren-Sichten durch die Expertise von Fachleuten ergänzt; eine Dramaturgie, die es – vom Baltikum und seinen schwierigen Nachbarschaften bis zum Ukraine-Konflikt – erlaubt, politisch heiße Eisen anzufassen. LCB-Organisator Thomas Geiger zieht ein rundum positives Fazit: „Wahrscheinlich erleben wir hier das größte offene politische Forum im deutschsprachigen Raum, das sich um europäische Themen kümmert.“

Die Stunde der Verleger

Die polnische Verlegerin Beata Stasinska (W. A. B. Verlag) kommt sich dieser Tage nicht selten vor wie im „Traum eines Verrückten“: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und andere Medien werden politisch instrumentalisiert, was nicht selten auf „Freiheit für Hassreden“ statt freier Meinungsäußerung hinausläuft. In Viktor Orbáns Ungarn, so berichtet Gábor Csordás, Chef des renommierten Jelenkor Verlages im südungarischen Pécs, wird das System von „Checks and Balances“ ausgehöhlt, ein Großteil der Medienlandschaft von regierungsnahen Medien kontrolliert. Wie Verlegerinnen und Verleger aus Mittel- und Osteuropa auf derlei Entwicklungen reagieren – und was ihre Kollegen im Westen von ihren Erfahrungen lernen können – war Gegenstand eines vom Börsenverein organisierten Panels auf der Leipziger Buchmesse. Die Meinungsfreiheit einzuschränken, um sie zu schützen, darin wusste man sich auf dem Podium einig, kann kein Weg sein. Fakten setzen, Transparenz schaffen – nie war das wichtiger als heute. „Eigentlich“, so Börsenvereins-Hauptgeschäftsführer Alexander Skipis, „schlägt genau jetzt die Stunde der Verleger. Wir haben die Verpflichtung, den Mund aufzumachen.“

„Unsere Hände brennen“

Mit einer Solidaritätsaktion für die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan setzte die Branche auf der Buchmesse ein klares Zeichen für die Meinungsfreiheit. Erdogan steht stellvertretend für über 150 derzeit in der Türkei inhaftierte Journalisten, Schriftsteller und Verleger. 2008 hatte sie die Leipziger Buchmesse noch selbst besucht – in diesem Jahr wurde eine sichtlich gezeichnete Asli Erdogan live aus dem ZDF-Studio in Istanbul zum Blauen Sofa in der Glashalle zugeschaltet. Die Türkei darf sie derzeit nicht verlassen, in der Messe-Vorwoche begann ihr Prozess. Ob sie Hoffnung auf eine Verbesserung der Zustände habe, wurde die 50-Jährige Autorin gefragt. „Die Hoffnung liegt in unseren eigenen Worten“ antwortete Erdogan. Man könne nicht schreiben, ohne sich die Hand zu verbrennen: „Unsere Hände, Arme, Haare brennen. Aber wenn ich nicht mehr schreiben würde, würde ich alles verlieren. Das ist keine Option.“

Meinungsfreiheit – nicht zum Nulltarif

Um zu zeigen, dass man den in Ankara in U-Haft sitzenden Deniz Yücel – und all die anderen in der Türkei verhafteten Journalistinnen und Journalisten – nicht mundtot machen kann, organisierten Kristine Listau (Verbrecher Verlag) und Katharina Florian (Nautilus) eine Buchmesse-Fortsetzung der Solidaritätslesung, die unmittelbar vor Messestart den Festsaal Kreuzberg in Berlin füllte. Etliche Veranstalter schlossen sich der Aktion an, und so traten Verleger und Autoren an vielen Leseorten der Messe mit Texten von Yücel auf. Es sind geistreiche Texte, kämpferisch und klar in der Sache, oft voller Ironie. Inzwischen lassen sie sich nachlesen: Mitte April erschien, unterstützt von der Druckerei Beltz (Bad Langensalza) und der Tageszeitung „Die Welt“, eine aktualisierte Neuausgabe von Yücels Nautilus-Flugschrift Taksim ist überall (2014). „Da Deniz die Neuausgabe nicht selbst autorisieren kann, hat er über seine Anwälte 15 Freunde und Kollegen benannt, die jeweils ein Kapitel Korrektur lesen“, erklärt Katharina Florian. Yücel selbst, so war zu erfahren, freue sich wahnsinnig über das Buch. Auch das ein Stück gelebte Solidarität.

Fernes, nahes Land

Fernes, nahes Land

Der Himmel über Vilnius: „Greetings from snowy Vilnius“, schrieben die supernetten Mitarbeiterinnen des Litauischen Kulturinstituts unter ihre Mails, zuletzt sogar „please wear your warm clothes“. Nun sind wir da, und beim Blick in den Winterhimmel über Vilnius fallen einem gleich Zeilen aus einem Gedicht von H. C. Artmann ein, mit dem Cornelius Hells literarischer Reise-Begleiter aus dem Wieser Verlag beginnt: „habt ihr keine augen im / kopf ihr europäer schaut / ein bernsteinlöffelchen / spiegelt sich im himmel / es rührt in der wolke um / den tee ohne zuckerstück“ (Aus eine fenster des hotels lietuva).

© Foto: Nils Kahlefendt

Hashtag Freiheit: Wer sich, wie die Litauer, lange mit Unterdrückung und Totalitarismus auseinanderzusetzen hatte, für den ist Freiheit ein hohes Gut. Am materialisierten Hashtag vor dem Präsidentenpalast am Simonas-Daukantas-Platz wird am 16. Februar regelmäßig die erste Unabhängigkeit Litauens gefeiert. Er erinnert aber auch daran, dass man in der Balten-Republik stolz auf die hohe WLAN-Abdeckung ist.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Die Gelehrtenrepublik: Der von Pranciškus Smuglevičius und seinem Bruder Antanas ausgemalte Saal ist der prächtigste der Vilniuser Universitätsbibliothek. Während uns der Dichter, Essayist und Übersetzer Laurynas Katkus auf einen fulminanten Crash-Kurs durch die litauische Literaturgeschichte mitnimmt, blicken Pindar, Sokrates, Plutarch & Co. stumm auf uns herab.

© Foto: Ramūnas Danisevičius

Der Jongleur: Für den zu Sowjetzeiten in einem Vilniuser Plattenbauviertel aufgewachsenen Laurynas Katkus kam der Fall des Eisernen Vorhangs zur rechten Zeit. Hölderlins „Hyperion“ hat er ebenso ins Litauische gebracht wie Bücher von Walter Benjamin, Octavio Paz oder Jan Wagner. Neben den Übersetzungen schreibt er seine eigenen Bücher. „Es funktioniert“, sagt er, „aber man jongliert mit sehr vielen Bällen“. Katkus’ Lieblingsbuchhandlung Eureka! befindet sich im Zentrum von Vilnius, nahe der Uni. „Dort gibt es neben neuen Büchern auch ein Modernes Antiquariat mit Titeln aus der SU-Zeit oder den 90er Jahren, man kann wunderbar stöbern.“

© Foto Nils Kahlefendt

Magischer Ort: Gute Musik, starker Kaffee, kostenloses WLAN, neue und gebrauchte einheimische und fremdsprachige Bücher, Schallplatten – Mint Vinetu könnte so auch in Helsinki, Berlin oder Brooklyn zu finden sein. Selbst die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, die in der Altstadt von Vilnius zur Schule ging, brachte schon ein paar ausgelesene Lieblingsbücher mit, um sie gegen neuen Lesestoff einzutauschen. Und was bedeutet der seltsame Name? Jonas Valonis, der den Laden mit ein paar Freunden vor sieben Jahren aufmachte, muss die Frage vermutlich mehrmals am Tag beantworten: „Die Bücher von Karl May, vor allem natürlich ‚Winnetou’, waren die Bücher unserer Kindheit, heute erinnern sie uns an den Zauber selbstvergessenen Lesens. Das ‚Mint’ steht ganz allgemein für Tee und Frische.“

© Foto Nils Kahlefendt

Gekommen, um zu bleiben: Die Mietpreise im Herzen der Altstadt klettern, doch noch hält sich „Mint Vinetu“ tapfer gegen den Mainstream. „Wenn du in Vilnius eine Bar aufmachst, hast du zwei Jahre, um zu überleben – oder zu scheitern“, sagt Jonas Valonis. „Wir sind jetzt seit sieben Jahren hier.“

© Foto Nils Kahlefendt

Bildnis des Künstlers als junger Mann: Die Bücher des litauischen Kinderbuchautors und Illustrators Kęstutis Kasparavičius sind in knapp 30 Sprachen rund um den Erdball übersetzt worden. Gemessen an diesem Erfolg ist der Mann, der uns in seinem Atelier in der Vilniuser Altstadt – genau dort, wo sich ehedem das jüdische Ghetto befand – mit Chrysanthemen-Tee und selbstgebackenem Kuchen bewirtet, extrem bescheiden und freundlich. An den Atelier-Wänden hängen auch die Originale der Illustrationen, die Kasparavičius einst zu Limericks von Edward Lear schuf. Und siehe da: Der skurrile Brite mit Schnurrbart und Nickelbrille trägt die Züge des Künstlers als junger Mann.

© Foto Nils Kahlefendt

Vilnius erlesen: Ob Napoleon, Dostojewski, Theodor Herzl, Alfred Döblin oder Joseph Brodsky – sie alle haben Vilnius besucht. Der in Kanada aufgewachsene Litauer Laimonas Briedis hat aus ihren Aufzeichnungen eine wunderbare Kulturgeschichte dieser west-östlichen Multikulti-Metropole zusammengestellt, die im März bei Wieser erscheint. Einen Vorgeschmack aufs Buch gab Briedis mit einer spannenden Stadtführung.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Moment der Muße: Der österreichische Kritiker, Essayist und Übersetzer Cornelius Hell gehört zu den wichtigsten Transporteuren der litauischen Literatur ins Deutsche; ein halbes Dutzend der 2017 erscheinenden Titel hat er übertragen. Als kundiger Literatur-Führer und Dolmetscher hatte er wesentlichen Anteil am Gelingen der Reise.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Speed-Dating: Unter den Autorinnen und Autoren, die wir in der Nationalbibliothek treffen, ist auch Undinė Radzevičiūtė. Die 1967 geborene Schriftstellerin ging nach ihrem Kunststudium in Vilnius zunächst in die Werbung und arbeitete als Art Director für Weltkonzerne wie Saatchi & Saatchi und Leo Burnett. Im Salzburger Residenz Verlag wird nun ihr bislang bester Roman, „Fische und Drachen“, erscheinen, der 2015 den Literaturpreis der EU gewann.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Kaffee, Tee & Poesie: Der Schriftsteller Antanas A. Jonynas begrüßt uns in der holzvertäfelten guten Stube des litauischen Schriftstellerverbandes in Vilnius.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Besuch in Kaunas: Im Zentrum der zweitgrößten Stadt Litauens, die rund 100 Kilometer westlich der Hauptstadt Vilnius am Zusammenfluss von Memel und Neris liegt. Die Freiheitsallee verbindet Alt- und Neustadt von Kaunas.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Aufbruch in die Moderne: Die Kirche Christi Auferstehung wurde nach der ersten Unabhängigkeit Litauens gebaut; im Jahr der sowjetischen Besetzung stand jedoch erst der Rohbau. Auf Geheiß Stalins wurde das Gebäude 1952 einer Radiofabrik zugeschlagen („Banga“), auf dem Turm hieß es nun „Ruhm der KPdSU“. Heute ist der inzwischen aufwändig sanierte gewaltige Sakralbau eine Dominante der Skyline von Kaunas.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Alt und neu: Im Zentrum von Kaunas stößt man immer wieder auch auf traditionelle Holzhäuser.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Zwischen Tradition und Avantgarde: Am Textilkunst-Department der Kunstakademie treffen wir auf Kuratorinnen und Künstlerinnen der Ausstellung „Oxymora“, die bereits ab 25. Februar in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen ist.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Textil-Design: Die von Virginija Vitkienė (Textil-Biennale Kaunas) ausgewählten Werke zeitgenössischer litauischer Künstlerinnen sind doppelt eindrucksvoll: Sie verknüpfen jahrhundertealte Textiltechniken wie Tapisserie oder Stickerei mit Digitaldruck und Videoanimation.

© Foto: Nils Kahlefendt

Schreibeinsamkeit: 40 Kilometer von Vilnius entfernt, in dem Dörfchen Zabarija, hat sich der Lyriker und Essayist Eugenijus Ališanka ein malerisches Holzhaus ausgebaut.

© Foto: Mindaugas Mikulenas

Ein Schluck auf die Poesie: Eugenijus Ališanka, einer der meistübersetzten Dichter Litauens.

Wanderer zwischen den Welten

Wanderer zwischen den Welten

Laurynas Katkus ist in einem Plattenbauviertel in Vilnius aufgewachsen, ein Viertel, wie man es zwischen Leipzig-Grünau und Wladiwostok vermutlich unzählige Male wiederfinden könnte. Die mehrspurige Kalvarienstraße, die vom Stadtzentrum schnurgerade bergan führt, trug zu Sowjetzeiten den Namen Felix Dserschinskis, des nahe Wilna aufgewachsenen ersten Chefs der Tscheka. Heute sieht man hier wieder Prozessionen; auf dem Kalvarien-Markt werden geschmuggelte Zigaretten feilgeboten. In Katkus’ Familie – der Vater ist Bratschist in einem Streichquartett, die Mutter Englisch-Dozentin an der Uni – spielten Bücher, noch mehr die Musik, eine wichtige Rolle. Ein waschechter Intelligenzija-Haushalt in der von Arbeitern und kleinen Angestellten bewohnten Betonwüste von Šnipiškės. Nicht ganz unbekannte Dichter saßen regelmäßig um den Küchentisch, Katkus’ Vater lud Kollegen und Studenten zu Wohnzimmer-Konzerten ein, auch wenn der Platz für mehr als ein Cello knapp wurde. Musik und Diskussionen; Laurynas lauschte mit großen Ohren.

Punk und Perestroika

Mitte der 80er wurde Bach dann durch The Stranglers, Tears for Fears und The Cure verdrängt, „die heilige Dreieinigkeit unserer Clique“, wie sich Katkus erinnert. Westlicher Punk und Postpunk als Soundtrack gegen das realsozialistische Grau-in-Grau. Wenn sich in den späten Achtzigern, der Zeit von Perestroika und der erstarkenden Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis, litauische Punks mit russischen Poppern prügelten, war schon zu ahnen, dass der soziale Schmelztiegel, bislang von den Machthabern auf kleiner Flamme gehaltent, auch in Vilnius am überkochen war. „In diesen Jahren habe ich viel gelesen. Und irgendwann begonnen, zu schreiben.“ 1990, im Jahr der litauischen Unabhängigkeitserklärung, schreibt sich Laurynas Katkus an der Universität Vilnius ein; er studiert Litauische Philologie und Komparatistik. Die ganze Welt, so scheint es, steht ihm nun offen.

LE on My Mind

1995 kommt Katkus, mit einem Erasmus-Stipendium, zum ersten Mal nach Leipzig. „Eine schöne, wilde und sehr fruchtbare Zeit“, sagt er heute. „Meine Ost-DNA hat es mir ermöglicht, an die Mentalität und die Geschichte der Leute hier anzuknüpfen, wir haben schnell eine gemeinsame Sprache gefunden. Damals glaubte ich, dass die Erfahrung des Totalitarismus einen fürs ganze Leben prägt, dass man einander nur wirklich versteht, wenn man diese Erfahrung teilt.“ Inzwischen ist er sich dessen nicht mehr so sicher. Während die postkommunistischen Umwälzungen in seiner Heimat damals nur im Schneckentempo vorrankommen, wird der Erasmus-Student in Leipzig jedoch auch mit der Wucht der Erneuerung konfrontiert. Das Leben im Transit zwischen Gestern und Morgen sensibilisiert ihn für Zwischentöne. Katkus genießt Leipzig in vollen Zügen: Lesungen, Nächte in halblegalen Clubs, Parties in maroden Hinterhöfen mit Grunge-Musik aus geöffneten Garagentoren, das Weihnachtsoratorium in der Nikolaikirche. „Diese Stadt ist zur richtigen Zeit in meine Leben getreten und hat mich verändert“, wird er sehr viel später in einem Erinnerungs-Text („LE on My Mind“) gestehen.

Transporteur der Literatur

Als Litauen vor 15 Jahren Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, erscheint der erste Gedichtband von Katkus („Tauchstunden“) in deutscher Übersetzung in Viktor Kalinkes Leipziger Edition Erata (heute: Leipziger Literaturverlag). „Damals ging eine Tür auf; wir wurden nun öfter zu Lesungen oder Festivals eingeladen, bekamen Aufenthalts-Stipendien.“ Auch Katkus ist seitdem mehrfach für längere Zeit in Deutschland, etwa als Stipendiat der Akademie Schloß Solitude (Stuttgart) oder der Akademie der Künste (Berlin). Die Kontakte sind intensiv, denn der junge Litauer erarbeitet sich auch einen Ruf als Übersetzer. Hölderlins „Hyperion“ hat er ebenso ins Litauische gebracht wie Bücher von Walter Benjamin, Ernst Jünger, Susan Sonntag, Octavio Paz oder Jan Wagner. Der Transfer von Gegenwartslyrik liegt ihm besonders am Herzen: „Bei der Poesie bin ich völlig frei, hier kann ich nach rein ästhetischen Kriterien entscheiden. Die Marktgängigkeit eines Titels spielt keine Rolle.“ Es gibt staatliche Förderungen für Übersetzungen, der litauische Schriftstellerverband publiziert viele Gedichtbände sogar in einem eigenen Verlag; Festivals wie der „Poesiefrühling“ oder der „Poesieherbst“ in Vilnius laden regelmäßig internationale Autoren ein. „Die dazu erarbeiteten Anthologien sind eine wahre Fundgrube für zeitgenössische Lyrik“, schwärmt Katkus. Eine seiner bislang härtesten Nüsse: Die Übertragung von Gedichten Lutz Seilers ins Litauische. Katkus lächelt: „Wenn es schwierig ist, ist es auch schön.“

„Man jongliert mit vielen Bällen“

Meist folgt darauf fast zwangsläufig die Frage: Kann man davon leben? Auch für den Freiberufler Laurynas Katkus ist sie nicht neu: „Ich schreibe meine eigenen Bücher, übersetze, mache Projekte im Bildungsbereich. Manchmal gibt es ein Künstler-Stipendium. Es funktioniert – aber man jongliert mit sehr vielen Bällen.“ Innerhalb der letzten fünf Jahre sind die Startauflagen in Litauen um zirka ein Drittel gesungen; Independents wie Kitos Knygos („Andere Bücher“), Katkus’ belletristischer Stammverlag, haben einen schweren Stand gegen Konzerne wie Alma Littera, die zugleich über eigene Buchhandlungsketten verfügen. Eine Preisbindung existiert nicht. Katkus’ eigene Lieblingsbuchhandlung Eureka! befindet sich im Zentrum von Vilnius, nahe der Uni. „Dort gibt es neben neuen Büchern auch ein Modernes Antiquariat mit Titeln aus der SU-Zeit oder den 90er Jahren, man kann wunderbar stöbern.“

Aus dem „Kabuff“ nach Leipzig

Mit Frau und Kindern wohnt Katkus in einem Mehrfamilienhaus im Stadtteil Antakainis, am linken Ufer der Neris. Zum Schreiben zieht er sich in die Unterwelt zurück: Sein „Kabuff“ ist ein nur wenige Quadratmeter großer, fensterloser Kellerraum, eine Mönchszelle ohne Internet-Anschluss. Das neben dem Computer wichtigste Gerät im Raum ist der kleine Elektroheizer unterm Schreibtisch. Hier, vor dem flimmernden Rechteck des Monitors, ist der Autor ganz bei sich. Keine Ablenkung, nirgends. Was er in den langen Wintermonaten versäumt, holt er im Sommerhäuschen der Eltern nach. Hier, rund 60 Kilometer von Vilnius entfernt, lebt die Familie in der warmen Jahreszeit. Bevor es soweit ist, wird er seiner alten Liebe Leipzig wiederbegegnen – beim Auftritt Litauens zur Buchmesse im März. „Ich hoffe, dass diese Begegnung Stereotype aufbricht, dass deutsche Leserinnen und Leser unsere litauische Literatur als zeitgenössisch und modern für sich entdecken.“ Das sollte gelingen: Für Laurynas Katkus, den Wanderer zwischen den Welten, ist der Leipziger Bücherfrühling ein Heimspiel.

Laurynas Katkus, Jahrgang 1972, studierte Philologie in Vilnius, Leipzig und Berlin und promovierte über Exil in der modernen Lyrik. Sein aktueller Essayband „Moskauer Pelmeni“ ist im Leipziger Literaturverlag erschienen. Katkus lebt als freier Autor und Übersetzer mit seiner Familie in Vilnius.

Fotos: Ramūnas Danisevičius

Startschuss Dragonball

Startschuss Dragonball

In Deutschland stellt Manga immer noch ein sehr junges Genre dar. Wie schwierig die Anfänge auf dem hiesigen Buch- und Comicmarkt waren und welche Voraussetzungen zunächst erfüllt sein mussten, erzählt Kai-Steffen Schwarz, Programmleiter bei Carlsen Manga, im Interview.

Manga-Reihen erschienen erst seit Anfang der 90er Jahre, mit „Akira“. Doch erst 1997, mit dem Erfolg von „Dragon Ball“, wurde ein eigenes Manga-Label gegründet? Warum so spät?

Die Veröffentlichung von Akira erfolgte in den westlichen Ländern mit der kolorierten und in die westliche Leserichtung adaptierten US-Version Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Bis Mitte der Neunziger erschienen einige weitere Manga-Serien bei Carlsen und auch anderen deutschen Verlagen in „verwestlichter Form“ – meist auf Basis amerikanischer Bilddaten, allerdings in schwarzweiß. Bei Carlsen zum Beispiel Battle Angel Alita, Sarah und Okami.

Die farbige Akira-Edition war also zunächst ein Türöffner. Die damalige Manga-Produktionsformel an sich – ca. 17 x 26 cm, schwarzweiß, etwa 120 Seiten mit einer Viertelstunde Lesezeit für etwa 20 DM – zeitigte keine großen Verkaufserfolge. Bis 1997 hatte sich in den Köpfen der Eindruck verfestigt: „Manga läuft nicht, Comic-Taschenbücher – abgesehen vom Lustigen Taschenbuch – auch nicht, schwarzweiß erst recht nicht“.

In Ländern wie Frankreich änderte sich das Mitte der 90er-Jahre aber. Mit Dragon Ball war Carlsen dann 1997 der erste europäische Verlag, der einen Mainstream-Manga originalgetreu in japanischer Leserichtung im preisgünstigen Taschenbuch-Format veröffentlichte, und ab 1999 mit Neon Genesis Evangelion, Magic Knight Rayearth oder Record Of Lodoss War auch weitere Manga in dieser Form verlegte.

Das alles lief bis dato aber immer noch unter dem Label „Carlsen Comics“ auf den Büchern, die erst kurz darauf zusätzlich mit einem rotblauen „Manga!-Böppel“ beworben und gelabelt wurden. Als eigenes Label im programmatischen Sinne, mit separater Redaktion, gibt es „Carlsen Manga“ sogar erst seit 2005/06. Ich glaube, vor Dragon Ball – also in den Neunzigern – hätte es gar keine Grundlage dafür gegeben, ein eigenes Manga-Label erfolgreich zu etablieren.

TV-Sender strahlten schon in den 70er und 80er Jahren viele Anime-Serien aus. Warum dauerte es so lange, bis deutsche Verlage nach Manga-Stoffen suchten?

Fast keiner der hier erfolgreichen Anime-Kinder-Klassiker aus den 1970er-Jahren – wie Heidi, Sindbad, Pinocchio oder Wickie – basierte im Ursprung auf Manga, allenfalls Kimba, der weiße Löwe war eine Ausnahme. Allerdings gab es zu fast allen dieser aus dem Fernsehen bekannten Serien ja viele günstige, farbige Comichefte (mit inhaltlich abgeschlossenen Geschichten) am Kiosk, von Verlagen wie Bastei oder auch Condor.

Die wesentlichen Merkmale von Manga – japanische Leserichtung, schwarzweiß, Fortsetzungen von Band zu Band – wären zum Beispiel auch in den 80er-Jahren für deutsche Verlage sicher noch eine große Hürde gewesen, den japanischen Comicmarkt hatten damals zudem vermutlich weder Pressecomic- noch Buch-Verlage wirklich auf dem Radar.

In den 80er-Jahren waren die deutschen Comic-Anbieter, allen voran Carlsen, ja überhaupt noch schwer damit beschäftigt, zunächst die wesentlichen frankobelgischen und amerikanischen Klassiker erstmals komplett in ordentlichen Ausgaben zu veröffentlichen.

Yusei Matsui, Autor und Zeichner des Manga-Erfolgs „Assassination Classroom“, ist Ehrengast auf der Manga-Comic-Con 2017. Was tut er hier – und was nehmen japanische Mangaka mit, von ein paar Tagen Leipziger Buchmesse?

Zum Zeitpunkt dieses Interviews sind wir noch dabei, Details zu klären – mit Sicherheit wird er, wie es ja Tradition ist, für (zeitlich begrenzte) Signierstunden zur Verfügung stehen, und nach Möglichkeit zum Beispiel Fans und Presse Fragen beantworten.

Was japanische Mangaka aus Leipzig für sich mitnehmen sind sicher Eindrücke von ihren Fans im Ausland – etwas, das noch immer nicht so endlos viele japanische Manga-Zeichner überhaupt erleben konnten – und natürlich, je nach Möglichkeit und Interesse, auch ein bisschen „Sightseeing“ in und um Leipzig herum.

Das Interview führte Stefan Mesch, freier Journalist.

Magischer Ort

Magischer Ort

Die Espressomaschine faucht auf Hochtouren, aus den Boxen nölen Bob Dylan und Jake Bugg um die Wette, darüber liegt ein babylonischer Sprach-Mischmasch: Englisch, Französisch, Litauisch. Die Tische sind besetzt mit mal lautstark diskutierenden, mal still über ihre Notebooks gebeugten jungen Leuten. Was treibt sie her? Gute Musik, natürlich, starker Kaffee und feiner Tee, selbstgebackene Muffins, kostenloses WLAN. Dazu jede Menge gebrauchte und handverlesene neue Bücher, alte Schallplatten. „Mint Vinetu“, das Bücherparadies in der Altstadt von Vilnius könnte so auch in Helsinki, Brooklyn oder Berlin Kreuzberg zu finden sein. Jonas Valonis, der den Laden mit ein paar Freunden vor sieben Jahren aufmachte, hat an diesem kalten Winternachmittag alle Hände voll zu tun. Die Frage nach dem seltsamen Namen muss er vermutlich mehrmals am Tag beantworten: „Die Bücher von Karl May, vor allem natürlich ‚Winnetou’, waren die Bücher unserer Kindheit, heute erinnern sie uns an den Zauber selbstvergessenen Lesens. Das ‚Mint’ steht ganz allgemein für Tee und Frische.“

Jonas Valonis wurde 1982 in Panevėžys, der fünftgrößten Stadt Litauens geboren; die Unabhängigkeit des Landes kam für ihn und seine Altersgefährten gerade zur rechten Zeit. Er hat in diversen Jobs gearbeitet, Bücher haben ihn immer umgeben. Als es die Chance zur Gründung des Ladens gab, machte er Nägel mit Köpfen. Die Frage, ob „Mint Vinetu“ ein Buchladen mit Café-Anschluss oder ein florierendes Café mit Bücherregalen bis zur Decke ist, scheint für ihn so unwichtig wie jene nach Henne oder Ei. „Wir haben hier einen besonderen Ort geschaffen, an dem Touristen oder Einheimische miteinander ins Gespräch kommen können. Wir heißen jeden willkommen, egal ob er etwas kaufen oder vielleicht einfach nur sein Handy aufladen möchte.“ Ein Klavier und eine Gitarre in der Fensternische warten auf Gäste, die selbst musizieren wollen – was, wie Jonas erklärt, wohl ziemlich häufig vorkommt.

Auf dem Tresen liegen Comics und Literaturzeitschriften aus; in den Regalen finden sich nicht nur Bücher in litauischer Sprache, sondern ganze Sektionen für englische, russische, französische, spanische, italienische und deutsche Bücher. So blättern wir neugierig in einer englischsprachigen Ausgabe von Hesses „Narziss und Goldmund“ und in einer Anthologie mit litauischer Poesie aus zwei Jahrhunderten, die 1983 im Verlag Volk und Welt erschienen ist. Die Nachdichtungen stammen von namhaften DDR-Autoren wie Heinz Czechowski, Franz Fühmann oder Sarah Kirsch; der Klappentext zitiert Herders „Stimmen der Völker in Liedern“: „Das litthauische Mädchen, das von Allem ihres Hauses Abschied nimmt und die ganze Brautwelt aus ihrem Aug und Herzen mahlet, ist größere Dichterin, als der possierlichste Fabrikant einer Abschiedsrede – an der sein Pult und nichts als sein Pult klebt.“ Über 200 Jahre ist das her, die litauische Studentin am Nebentisch tippt versonnen in ihr Apple-Notebook.

An den Wänden von „Mint Vinetu“ hängen noch einige der stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Porträts von Leserinnen und Lesern des Ladens; die Fotoserie war ein studentisches Projekt der Uni, die meisten Bilder sind inzwischen an die Porträtierten verschenkt worden. Für ihre zusammen mit einer Werbe-Agentur entwickelte Print-Kampagne „Become Someone Else!“ wurden die Karl-May-Schwärmer aus Vilnius sogar auf internationalen Werbe-Blogs gefeiert. Selbst die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė, die in der Altstadt von Vilnius zur Schule ging, brachte schon ein paar ausgelesene Lieblingsbücher mit, um sie gegen neuen Lesestoff einzutauschen. Die Mietpreise im Herzen der Altstadt klettern, doch noch hält sich „Mint Vinetu“ tapfer gegen den Mainstream. „Wenn du in Vilnius eine Bar aufmachst, hast du zwei Jahre, um zu überleben – oder zu scheitern“, sagt Jonas Valonis. „Wir sind jetzt seit sieben Jahren hier.“ Howgh, so soll es bleiben.

www.mintvinetu.com