Wenn die Leipziger Buchmesse mehr als ein Marktplatz der Eitelkeiten ist, dann ist ihr Preis, der in diesem Jahr zum 20. Mal vergeben wurde und mit dem bislang 58 Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer geehrt wurden, mehr als nur ein Marketing-Tool. Für Jury-Sprecherin Insa Wilke ist „der Preis vom Herzschlag der Messe nicht zu trennen“: Die Buchbranche – und damit eben auch die Messe und ihr Preis – seien eine Art „Resonanzverstärker der gesellschaftlichen Lage“.
Hier werden, so Wilke, Konflikte sichtbarer und deutlicher Formuliert als in anderen Bereichen. Insofern sei auch ein zentraler Vorwurf, ausgesprochen von verschiedenen Seiten, in verschiedene Richtungen adressiert, hier besonders scharf akzentuiert: Schweigen. Es ging in den letzten sechs Monaten ums Verschweigen von Leid, das Schweigen zu Traumata – in Israel, aber auch in Gaza und im Westjordanland. Auch die Buchmesse-Eröffnung stand unter diesem Vorwurf. „Ich hoffe“, so Insa Wilke in ihren nachdenklichen Bemerkungen unter der Glashallenkuppel, wo doch alle zum unbeschwerten Feiern gekommen waren, „dass wir die tiefen Gräben des voneinander Verlassenseins wenigstens im Nachhinein werden ansprechen können“. Werden wir dazu in der Lage sein, die „Gleichzeitigkeit von Unrecht“ (Meron Mendel) auszuhalten?
Bücher und die, die sie schreiben, kennen sich aus mit den vielen Formen des Schweigens – auch davon ist Insa Wilke überzeugt. 486 Einreichungen aus 177 Verlagen hat es 2024 gegeben; viele der 15 nominierten Titel öffnen sich, wenn man sie in Auseinandersetzung mit diesem Schweigen liest – auch wenn dies kein Kriterium für ihre Auswahl ist. „Es geht nicht nur um beste Bücher, sondern um Aufmerksamkeit für künstlerische Versuche, Gedanken und Erfahrungen zu formulieren, Problemlagen zu beschreiben.“ Bücher brauchen ein Gegenüber. „Es funktioniert nicht ohne die, die lesen. Der Ball liegt auch bei Ihnen!“
„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, wusste schon Karl Kraus. Dass der Preis der Leipziger Buchmesse im Zweifel auf das Übersehene, scheinbar Entlegene, nicht selten auch Sperrige setzt, hatten bereits die Nominierungen des Jubiläums-Jahrgangs gezeigt: Da fand sich mit Anke Feuchtenbergers genialem, autofiktionalem Werk „Genossin Kuckuck“ in der Belletristik erstmals eine Graphic Novel; in der Sachbuch-Kategorie fand mit der umfangreichen Sammlung von „Jahrhundertstimmen 1945-2000“ ein großartiges Hörbuch-Projekt Aufnahme.
Fast logisch, dass es nun Außenseitersiege in Serie gab: Sichtlich überwältigt und zu Tränen gerührt war in der Sparte Übersetzung die koreanische Übersetzerin Ki-Hyang Lee, die mit ihrer Übertragung von Bora Chungs „Der Fluch des Hasen“ (CulturBooks) siegte: Sie erinnerte sich an ihre „Rucksackreise“ quer durch Europa kurz nach dem Fall der Mauer und ihre erste Begegnung mit Leipzig. Der Preis, so Lee, sei „ein großer Trost“ für ihre 20-jährige einsame Arbeit. „Leipzig leuchtet heute so schön.“
Im Sachbuch entschied sich die Jury mit Tom Holerts „ca. 1972 – Gewalt, Umwelt, Identität, Methode“ (Spector Books) für eine ungewöhnliche Mischform aus Essay, Kunstprojekt, mentalitätsgeschichtlicher Recherche und Theorie – der Kritiker der „Süddeutschen“ wollte darin „eine Art Coffee-Table-Buch für Volksbühnen-Ultras“ erkennen, und Autor Tom Holert war zunächst auch komplett baff über die Juryentscheidung. Als er seine Worte wiedergefunden hatte, danke er dem Grafiker Elias Erkan, der nicht nur „ca. 1972“ gestaltet – sondern heuer auch den mit 3000 Euro dotierten Hauptpreis beim Walter Tiemann Preis 2024 abgeräumt hat. „Das Buch dekliniert einen Begriff durch, der bei der Buchmesse-Eröffnung auch eine Rolle gespielt hat, so Holert zu seinem ausgezeichneten Werk, „den Begriff der Radikalität“. Und weiter: „Es gibt keine saubere Form des Radikalseins!“
Ein Satz, den vermutlich auch Barbi Marković unterschreiben würde. Die 1980 in Belgrad geborene und in Wien lebende Erzählerin gewann mit ihrem Roman „Minihorror“ (Residenz) den Preis in der Belletristik-Kategorie. Mini und Miki heißt das comichafte Pärchen, das von Marković wie weiland Tom und Jerry durch ein Abenteuer namens „Alltag“ gejagt werden. Der Literaturwissenschaftler und Pop-Experte Moritz Baßler zählte sie in seiner kurzen Laudatio noch einmal auf, die Elemente unserer Situation, die Marković in ihren Geschichten von Mini und Miki montiert: „Hinten die Kriegsverbrechen, vorne der Klimawandel, dazwischen aber Linsenchips, die Blondierung beim Friseur und die neue Küchenplatte bei IKEA.“
Wie witzig Barbi Markovićs Prosa ist, demonstrierte die Autorin dann in ihrer Dankesrede, die sie vom Display ihres Smartphones ablas – und die, ganz im Stil ihres Romans, gegen alle Konventionen verstieß: „Mini bekommt den Preis der Leipziger Buchmesse und sie muss eine Rede halten… Eine Rede, die alle Probleme der Gegenwart lösen wird. Mini liest vor und die Welt bleibt gleich; das Publikum wendet sich von ihr ab… Minis Rede ist ein schreckliches Debakel und sie wird sofort aus der Welt der Literatur rausgeworfen. Mini muss den Preis zurückzahlen… Sie muss nach der Messe aufräumen.“ Ihre Fangemeinde konnte Barbi Markovićs mit diesem Auftritt schon mal deutlich vergrößern: „Minihorror“ befindet sich derzeit in der vierten Auflage.