Text: Martin Krafl*
Ende April flog ich von Wien nach Leipzig. Es war ein direkter Flug, und am Wiener Flughafen waren natürlich auch Passagiere aus Leipzig. Ich saß schon auf meinem Sitz im Flieger, als eine Leipziger Dame ins Flugzeug kam, mich sah und erkannte: „Sie sind der AHOJ-Mann!“ Wie berührend! Lächelnd bestätigte ich es und begrüßte sie mit „AHOJ“.
Dieser tschechische Gruß begleitete den Gastlandauftritt der Tschechischen Republik auf der Leipziger Buchmesse allerorts. Tatsächlich mit „j“ geschrieben, als Abkürzung von „Ad Honorem Jesu“ – wie ich nicht nur regelmäßig am tschechischen Nationalstand erklärte, sondern auch zum Beispiel dem Security-Team auf dem Messegelände auf deren neugierige Fragen hin. Auch die thailändische Prinzessin Maha Chakri Sirindhorn war interessiert und hat sogar während ihres Besuches des tschechischen Standes den AHOJ-Anstecker an ihrem Kleid getragen.
Der Messeauftritt gab der tschechischen Literatur die große Chance, sich 30 Jahre nach der Wende in Mittel- und Osteuropa neu auf dem deutschsprachigen Buchmarkt zu etablieren. Dank einer zweijährigen Zusammenarbeit der Verleger, Autoren, Übersetzer und literarischen Agenten sowie dank zweier Förderprogramme, des tschechischen Kulturministeriums und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, ist es Tschechien, auch aufgrund der großen Unterstützung der Medien gelungen, mit mehr als 70 Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum sichtbar zu werden. Hinter dem Erfolg stehen etwa 20 Mitarbeiter der Mährischen Landesbibliothek Brno unter der Leitung vom Prof. Tomáš Kubíček, 10 ModeratorInnen, 11 DolmetscherInnen und 25 ÜbersetzerInnen. Fast ein Wunder ist passiert: Alle Teilnehmer waren gut gelaunt und sorgfältig vorbereitet, niemand ist krank geworden, alle 130 (!) in Leipzig geplanten Veranstaltungen innerhalb der vier Tage an zwei Ständen auf der Buchmesse sowie an etwa zehn Leipziger Orten fanden statt und waren – mit einer einzigen Ausnahme – gut besucht!
Trotz der professionellen Vorbereitung habe ich ganz schön Herzklopfen gehabt. Niemand wusste, wie der Tschechische Nationalstand – „ein Schiff“ voll von tschechischen Büchern in deutscher Übersetzung – angenommen werden würde. „Doch der Stand entpuppt sich vom ersten Tag an in seiner Mischung aus Lesungen und Diskussionen als Publikumsmagnet“, schrieb die Leipziger Volkszeitung. Ich muss tatsächlich gestehen, er war eher zu klein dimensioniert. Auch unsere eigene Messezeitung half uns dabei, die bisher unbekannten neuen AutorInnen dem Publikum nahezubringen. Zu unserer Freude sind manche BesucherInnen zu richtigen Sammlerfans der ganzen Auflage geworden. Jeden Tag haben sie auf die neue Ausgabe beim Trabi auf Beinen (eine Installation von David Černý) in der Glashalle gewartet.
Nach Leipzig kamen 55 Autorinnen und Autoren – vor allem diejenigen, die bereits über deutsche Übersetzungen ihrer Werke verfügten oder Neuerscheinungen mitbrachten. Dabei waren aber auch solche, die noch keine deutsche Übersetzung haben und in den deutschsprachigen Ländern erst entdeckt werden sollten. Experten aus dem Dramaturgischen Rat des Gastlandauftritts haben sie nominiert. Die zahlreichen Gäste der Leipziger Buchmesse widmeten den neu übersetzten Titeln und Autoren aus Tschechien eine beachtliche Aufmerksamkeit! Unser Ziel wird aber erst dann erreicht sein, wenn auch in den kommenden Jahren verstärkt tschechische Werke auf dem Buchmarkt sowie in den Literaturhäusern und Bibliotheken in Deutschland, Österreich und in der Schweiz zu finden sind.
Wie die Leipziger und Leipzigerinnen bereits wissen, gab es für uns nicht nur die vier Tage Leipziger Buchmesse, sondern es gibt ein ganzes Tschechisches Kulturjahr von Oktober 2018 bis November 2019. Im ganzen deutschsprachigen Raum stellen die tschechischen AutorInnen ihre Neuerscheinungen im Rahmen der Programmreihe Echo Leipzig 2019 vor – auf den Buchmessen in Frankfurt und Wien, auf verschiedenen Literaturfestivals in Prag, Dresden, Bremen, Zürich und Basel sowie in verschiedenen Literaturhäusern. Und in Leipzig finden immer noch einige Ausstellungen statt: künstlerische Porträts der gegenwärtigen tschechischen SchriftstellerInnen von Karel Cudlín sind bis 22. Juni in der Stadtbibliothek zu sehen, die VHS Leipzig widmet sich bis Ende Mai dem Leben und Werk von Jiří Gruša und das Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek bietet in Kooperation mit der SLUB Dresden bis 11. August den Blick auf die tschechische Avantgarde in der Buchkunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an.
Im Herbst zeigt das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig die Ausstellung Charta Story über die Charta 77 mit eindrucksvollen Fotos, Dokumenten, Samisdat, Kunstwerken und Filmausschnitten (11.9.-17.11.). Mit der Übergabe der Ausstellung aus der Nationalgalerie Prag an Leipzig soll die Ausstrahlung der Charta in die DDR und Bundesrepublik und damit eine europäische Perspektive im Rückblick von 30 Jahren aufgezeigt werden. Die Ausstellung wird von einer Filmreihe sowie vielen Debatten und Vorträgen begleitet. Und am 8. November gastiert das Nationaltheater Brno mit Jenůfa von Leoš Janáček in der Oper Leipzig. Verpassen Sie es nicht!
Rappelvoll: Der tschechische Nationalstand präsentierte sich als Schiff im Büchermeer – nicht nur wie hier zur Eröffnung mit dem tschechischen Kulturminister Antonin Stanek war er meist dicht umlagert (Felix Abraham) | Zu den 55 tschechischen Autorinnen und Autoren, die in Leipzig zu Gast waren, gehörten Jáchym Topol und Radka Denemarková, hier im Gespräch mit Moderator Mirko Schwanitz (Felix Abraham) | Der Fall der Mauer 1989 bedeutete eine radikale Wende auch für die tschechische Literaturszene. In Leipzig, 30 Jahre später, erinnert daran die Skulptur „Quo Vadis“ von David Černý, hier zusammen mit Martin Krafl (rechts) und Jürgen Reiche, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig (Felix Abraham) | Highlight: Tolle Stimmung und ein Stelldichein der Szene bei der großen Tschechien-Nacht in der Schaubühne Lindenfels (Felix Abraham) | Kafka & Budweiser: Jaroslav Rudiš und Martin Becker im Lindenfels (Felix Abraham) | Wenn Jaroslav Rudiš so etwas wie der Mick Jagger des Gastlandauftritts war, lag das auch daran, dass sein Roman „Winterbergs letzte Reise“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war (Felix Abraham) | Ein Mann für alle Fälle: Unser Gastautor Martin Krafl, Programmkoordinator des Gastlandauftritts (LBM/Tom Schulze).
*Wenn Paul Watzlawick einst meinte, dass man nicht nicht kommunizieren kann, gilt das in besonderer Weise für den Kulturvermittler, Diplomaten a.D., Publizisten, Journalisten und Moderator Martin Krafl. Gerade die Vielfalt seiner kulturellen Erfahrungen und Kompetenzen macht ihn zur Idealbesetzung für den Posten des Programmkoordinators des Gastlandauftritts der Tschechischen Republik auf der Leipziger Buchmesse und des Tschechischen Kulturjahres, das sich noch bis in den November 2019 ziehen wird. Martin Krafl, geboren 1971 im nordböhmischen Teplice, hat zahlreiche berufliche Stationen durchlaufen: Bis heute prägend ist dabei die Tätigkeit als Sprecher der Präsidentschaftskanzlei und Leiter des Pressedienstes des ersten Staatspräsidenten der Tschechischen Republik, Václav Havel, in den Jahren 1996 bis 2003. Von 2004 bis 2007 war Krafl Pressesprecher des staatlichen tschechischen TV-Senders Česká televize; von 2007 bis 2017 stand er im diplomatischen Dienst der Tschechischen Republik und leitete die tschechischen Kulturzentren für Deutschland in Berlin (2007-2011) sowie in Wien (2012-2017), von wo aus Österreich und die Schweiz in seinen Verantwortungsbereich fielen. Ganz nebenbei stärkt Martin Krafl als Korrespondent des Tschechischen Rundfunks und der tschechischen Zeitschrift Xantypa in den deutschsprachigen Ländern sowie als Blogger des tschechischen Newsportals Aktualne CZ das Wissen über die deutschsprachige Kultur in der Tschechischen Republik. Als externer Lektor unterrichtete er „Kommunikation mit den Medien“ an der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Karlsuniversität Prag.