Mozarts „Zauberflöte“, Verdi, Rossini, Puccini und eine „europäische“ Rede des Historikers Heinrich August Winkler. Alles wie immer? Die Eröffnung der Buchmesse im Gewandhaus war in diesem Jahr nicht nur ein Festakt, sie war eine Beschwörung des Geistes der Zivilgesellschaft, eine Manifestation der Freiheit und Vielfalt, für die ganz wesentlich auch Verlage und Buchhandlungen stehen. Ein starkes Zeichen für die Meinungsfreiheit wurde gesetzt, als Börsenvereins-Vorsteher Heinrich Riethmüller alle Gäste dazu aufforderte, vorbereitete Plakate mit dem Text „Für das Wort und die Freiheit“ hochzuhalten. Ein medienwirksames Bild, das an die Botschaft erinnerte, wie sie im vergangenen Jahr etwa mit „Je suis Charlie“ ausgesendet wurde.
„Ich bin ein Mensch – also bin ich frei“
Was manchem als wohlfeile Geste erscheinen mag, ist für den ägyptischen Verleger Mohamed Hashem ein herzwärmender Akt der Solidarität. Hashem, der 1998 in Kairo den unabhängigen Merit Verlag gründete, weiß, wie es – nur wenige Flugstunden von Leipzig entfernt – um die Freiheitsrechte steht. Als er 2011 für seine Verdienste um verfolgte Autoren den Hermann-Kesten-Preis des PEN erhielt, wurden seine Verlagsräume gestürmt, er selbst sollte verhaftet werden. Inzwischen werden kritische Geister wie er mit dubiosen „Steuernachzahlungen“ traktiert – ein neuer, subtiler Versuch, sie mundtot zu machen. Auch wenn sich Hashem zuweilen „wie in einem Irrenhaus“ fühlt -unterkriegen lassen will er sich nicht: Optimistisch stimmt ihn, dass es gelungen ist, eine Petition für die Freilassung des inhaftierten Autorenkollegen Ahmed Naji zu initiieren – mehr als 1000 Ägypter haben bereits unterschrieben. Dass die Apelle westlicher Regierungen und Organisationen etwas bewirken, zeigte der Fall des Dichters Ashraf Fayad. Dessen in Saudi-Arabien verhängtes Todesurteil wurde inzwischen in eine Haftstrafe umgewandelt. Für Sascha Feuchert, Vizepräsident des PEN-Zentrums Deutschland und Writers-in-Prison-Beauftragter, kein Grund zum Zurücklehnen: 2015 seien weltweit 800 Fälle von Autoren bekannt geworden, die verfolgt, gefoltert oder zum Tode verurteilt wurden. Und das, so Feuchert, sei „nur die Spitze des Eisbergs“. Die meisten Autoren sitzen derzeit nicht in China, sondern in der Türkei in Haft.
Denk-Raum statt Gastland
Bücher und Autoren rütteln auf, erklären, schlagen Brücken: Neben dem üblichen Geschäft war Leipzig in diesem Frühjahr eine pointiert politische Messe – von Anfang an. Der gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung initiierte, von der Frankfurter Literaturkritikerin Insa Wilke kuratierte Programmschwerpunkt Europa21 führte in sieben Diskussionsrunden auf dem Messegelände und im Neuen Rathaus Künstler, Intellektuelle, Journalisten und Wissenschaftler aus Syrien, Serbien, der Schweiz, Schweden, Russland, Polen und Deutschlandzusammen, um abseits von Talk-Show-Aufgeregtheiten über Zuwanderung und Integration zu diskutieren. Dazu widmete sich dem Komplex eine ganze Themenreihe mit rund 60 Lesungen und Diskussionen – nur konsequent angesichts der Flut an Neuerscheinungen, die sich in diesem Frühjahr, vor allem im Sach- und Kinderbuchsegment, mit Flucht, Migration, Willkommenskultur oder Fremdenangst beschäftigen. Dass das rechtspopulistische Magazin Compact seinen von Muskelmännern in eng sitzenden schwarzen Anzügen bewachten Stand auf der Buchmesse aufbauen konnte, war für viele eine Zumutung; am Samstag versammelten sich rund 200 Aussteller und Messebesucher zu einer kurzen, friedlichen Protest-Demo. Die im Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut – doch wo verläuft die rote Linie der Toleranz? Für „Zeit“-Politikchef Bernd Ulrich, Gast auf dem Europa21-Podium, ist sie dann erreicht, wenn Rassismus und Menschenverachtung propagiert werden: „Es gibt Dinge, die außerhalb des diskutablen Pluralismus stehen.“
Wer erzählt wie von wem?
Anders als wir haben die Länder Südosteuropas schon seit 30 Jahren erfahren müssen, welch unbeständiger und unsicherer Ort „Heimat“ geworden ist. Dass es einen Balkan auch jenseits der ominösen „Balkanroute“ der Flüchtenden gibt, zeigten die Veranstaltungen des Literaturnetzwerks TRADUKI, das 2016 bereits zum achten Mal in der Messestadt präsent war. Kein Zweifel: Flucht und Vertreibung, Exil und Fremde sind die Themen der Stunde, wenn es darum geht, Gegenwart zu beschreiben. Welche Möglichkeiten bietet die deutsche Sprache, und welche Fallstricke birgt sie, wenn es um den Raum des Asyls geht? Als Insa Wilke diese Fragen im Rahmen des Programmschwerpunkts „Europa21“ mit Shida Bazyar und Senthuran Varatharajah diskutiert, zwei jungen deutschen Autoren, die ihre Erfahrungen in genau diesem Raum gemacht haben, hat sie gelegentlich das Gefühl, „auf rohen Eiern zu laufen“. Wenn, so Varatharajah, über Geflüchtete in der Sprache von Naturkatastrophen verhandelt werde, sabotiere die Sprache noch das gutwilligste Anliegen. Wer erzählt wie von wem? In kreisrunden Hörstationen in der Glashalle kommen sechs Geflüchtete zu Wort, die noch vor Monaten in der Messehalle 4 kampierten. Ein 30jähriger Software-Programmierer aus dem irakischen Mossul berichtet, wie mitten auf dem Meer der Motor des überladenen Boots kaputtgeht und er seine drei Töchter angstvoll umklammert. Wo mögen sie jetzt sein?
Wie wir leben wollen
Kann Schreiben solidarisch sein? Für Matthias Jügler, der 2015 mit dem Roman „Raubfischen“ (Blumenbar) debütierte, lautet die Antwort: „Ja, unbedingt.“ Im letzten Hebst setzten dem in Halle/Saale geborenen Autor die zunehmend schärfer artikulierten fremdenfeindlichen Ressentiments in seiner allernächsten Umgebung so zu, dass er, wütend und ratlos, Schriftsteller-Kollegen um Texte bat, die sich mit Rassismus, Hass, Hoffnungen und Ängsten dieser Tage auseinandersetzen sollten. „Was soll ich meinen Enkeln sagen, wenn sie mich fragen, was ich getan habe?“ Binnen weniger Stunden bekam er ein Dutzend Zusagen; Suhrkamp brachte das Projekt in nur drei Monate zwischen Buchdeckel. In der Anthologie „Wie wir leben wollen“ zeichnen 25 junge Autoren eine so vielschichtige wie erhellende Karte unseres Landes. Ein Buch, das auch das Leben seines Herausgebers verändert hat: Die Arbeit am zweiten Roman liegt auf Eis. Lesungen wollen organisiert werden, das E-Mail-Postfach füllt sich rasant. Die Autorinnen und Autoren spenden einen Teil ihrer knappen Honorare an die Flüchtlingshilfe, „eine Herzensangelegenheit“, meint Jügler. Auf der Messe hastet der Autor, Medienprofi wieder Willen, von Termin zu Termin. Aber das geht in Ordnung: „Wie schlimm wäre es, wenn wir hier business-as-usual machen würden?“
Bildquellen: Leipziger Buchmesse, Monique Wüstenhagen, Nils Kahlefendt, Rainer Justen