Nach „Leipzig liest extra“ 2021 schien es lange möglich, in diesem Frühjahr – unter weiterbestehenden, aber beherrschbaren Corona-Bedingungen – eine physische Buchmesse durchzuführen. Nun bleiben die Hallentore zu, die Idee der Leipziger Buchmesse wird jedoch mit einer Vielzahl von literarischen Initiativen weitergetragen. Wie blicken Sie auf diese phantasievolle Selbstermächtigung eines nicht kleinen Teils der Kulturbranche?
Oliver Zille: Natürlich hätten wir Mitte März unglaublich gern die Leipziger Buchmesse eröffnet. Da das in diesem Jahr aber nicht möglich ist, freuen wir uns, dass unser Partnernetzwerk bereits entwickelte Konzepte an vielen Orten der Stadt weiterträgt. Das zeigen die Begegnungen mit Autoren und Büchern aus Portugal, Österreich und Südosteuropa – ebenso wie die Autorinnen und Autoren, die im März in Leipzig mit hochkarätigen Preisen geehrt werden.
Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und der Preis der Leipziger Buchmesse werden live an symbolträchtigen Orten verliehen – in der Nikolaikirche und unter der Glashallenkuppel. Wie wichtig ist ihnen das?
Zille: Es ist ein Zeichen in die Branche. Wir freuen uns über alle, die mit uns und den Autoren feiern. Und wir wollen, auch in diesen herausfordernden Tagen, zeigen, dass wir sehr lebendig sind – und uns keinesfalls verstecken brauchen. Wir kriegen in diesen Tagen von vielen Verlagen, großen wie kleinen, enorm ermutigende Signale. Behaltet die Nerven, heißt es da, 2023 wuppen wir das wieder zusammen!
Was tun Sie jenseits der beiden großen Preisverleihungen für die Teile des geplanten Programms, die nun an dezentralen Orten und im Netz stattfinden?
Zille: Wir kommunizieren diese Einzel-Initiativen unter dem Slogan „Leipzig liest trotzdem“ auf unserer Website www.leipziger-buchmesse.de. Das Team hat hier trotz Vollbremsung kurz vorm Zieleinlauf sehr gut gearbeitet und hinter den Kulissen viel Ermöglichungs-Arbeit geleistet.
Zwischen die Buchmesse und ihr Lesefest „Leipzig liest“, so lautete stets Ihr Mantra, passe kein Blatt Papier, beide gehörten zueinander wie das Amen in die Nikolaikirche. Ist beides nur zusammen zu haben?
Zille: „Leipzig liest“ ist ein Gemeinschaftsprojekt von vielen, vielen Partnern – und nur als Gemeinschaftsprojekt in dieser Dimension hinzustellen. Mit der Messe fehlt der starke Magnet, der alles zusammenhält.
Wie funktioniert die Kombination aus Messe und Lesefest idealerweise?
Zille: Wir sind Messe, Convention und Lesefest in einem, wobei „Leipzig liest“, anders als klassische Literaturfestivals, als Marketing-Verstärker für den Messeauftritt der Verlage gebaut ist. Statt zu den bereits Bekehrten zu predigen, ist unsere Grundidee, niederschwellig breiteste Zielgruppen für neue Bücher und fürs Lesen zu begeistern. Dafür ist das große Orchester notwendig.
Deshalb auch die Entscheidung gegen eine halbherzige Notausgabe? Mancher vermisste im dritten Jahr der Pandemie einen Plan B…
Zille: Eine rein digitale Veranstaltung halte ich bei einer Publikums-Messe, die so stark auf Begegnung setzt wie wir, für nicht zielführend. Dieses Signal bekommen wir auch aus der Branche. Und auch ein reines Lesefest wäre ein komplett anderes Geschäftsmodell, mit ganz anderen finanziellen Implikationen.
Über die Absage im Februar wurde sehr emotional gestritten. Hat Sie die Wucht der Diskussion überrascht?
Zille: Leipzig war die erste kulturelle Großveranstaltung, der 2020 pandemiebedingt der Stecker gezogen wurde. Wenn ein Ereignis mit diesem politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Gewicht das dritte Mal in Folge nicht stattfinden kann, werden natürlich Fragen gestellt. Aber eine Buchmesse ist letztlich ein Spiegel der gesellschaftlich virulenten Debatten und dazu eine von Corona weichgeklopfte Branche – und, ja, die Psychologie. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen und Projektionen. Alle sind verantwortungsbewusst – können aber zu je anderen Entscheidungen kommen. Am Ende haben Verlage die Reißleine aufgrund der Corona- Bedingungen gezogen, nicht etwa, weil sie unser Konzept der Begegnungs-Messe in Zweifel gezogen hätten. Wir sind nicht am Markt gescheitert, sondern an einer Pandemie, das wird gern vergessen.
Immerhin hat sich gezeigt, dass Leipzig und Literatur offenbar nicht ohne einander zu denken sind…
Zille: Am Ende kann die Buchmesse von den Ausschlägen der Erregungskurve vielleicht auch profitieren: Ist heiß und kalt nicht allemal besser als lau?
Der Krieg in der Ukraine erinnert uns daran, dass der Blick zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn stets integraler Teil des Selbstverständnisses der Leipziger Buchmesse war; Leipzig ist historischer erprobter und geografisch ausgezeichneter Ort für das Gespräch über politische, kulturelle und mentale Grenzen hinweg. Wie sehr vermissen Sie das, gerade jetzt?
Zille: Wenn es Institutionen wie den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und die in Jahrzehnten geknüpften Netzwerke zwischen all unseren Partnern, vom Auswärtigen Amt über TRADUKI bis zur Bundeszentrale für politische Bildung, nicht existierten, müssten sie schleunigst erfunden werden. Als Plattform für den gesellschaftlichen Dialog ist die Messe unverzichtbar. Wir verstehen uns als Literatur- und Debatten-Plattform mit gesamtdeutscher, europäischer Ausstrahlung. Deswegen investieren Verlage – große wie kleine – in Leipzig; es gibt im Zusammenspiel von Messe und Lesefest einen Medienauftrieb und einen Marktdurchsatz, die es bei klassischen Festivals in dieser Dimension nicht geben kann.. Die Formel, dass wir hier ein bisschen in Kultur machen, während andernorts die großen Deals passieren, wird auch durch ständige Wiederholung nicht stimmiger.
Wird die Buchmesse 2023 so wie 2019 – oder muss sich Leipzig neu erfinden?
Zille: Ein Stück weit habe wir uns immer neu erfunden, denken Sie an den Umzug aufs neue Messegelände. An unserem Grundansatz ändert das nichts: Wir wollen für neue Literatur werben, sie sichtbar machen, neue Leserschaften erschließen – und dabei in die Breite gehen. Es geht also nicht nur um die wenigen großen Namen. Das unterscheidet uns auch von klassischen Literaturfestivals und anderen Messen im In- und Ausland. Reichweite ist ein ganz wesentlicher Punkt für den Auftritt eines Verlags oder Content-Gebers in Leipzig. Digitale Erweiterungen müssen dieses Konzept bedienen. Wir sind eine Messe der Begegnung für Autoren und Leser, für Medienleute, Lektoren, Übersetzer. Wenn wir von hybriden Erweiterungen sprechen, gilt es, all das, was die Verlage im digitalen Werkzeugkasten haben, mit unseren Tools zu verbinden. Aus diesem Grund bauen wir, mit Unterstützung des BKM, gerade unsere „Leipzig liest“-Datenbank neu.
Jörg Sundermeier, der Verleger des Verbrecher Verlags, hat die großen Konzernverlage unlängst mit Tankern verglichen, denen es manchmal an Wendigkeit fehlt. Sind nicht auch die Buchmesse und ihr Lesefestival, die zuletzt, also im März 2019, immerhin 286.000 Besucher anlockten, solche Tanker?
Zille: Wir müssen zwingend darüber nachdenken, wie wir uns in post-pandemischen Zeiten flexibler aufstellen können. Mir fällt der ironische Filmtitel von Alexander Kluge und Edgar Reitz aus dem Jahr 1974 ein: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“.
Die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretzschmer haben die Branche mit Blick auf Leipzig zu einem Zukunftsgespräch eingeladen. Was erhoffen Sie sich?
Zille: Keine Mittelwege (lacht)… Stattdessen Sensibilität für die Erfordernisse einer ziemlich solitären Veranstaltung wie der Leipziger Buchmesse.