Im allerersten Moment sind es nur drei Buchstaben, die der Autorin Iris Hanika nach dem Gewinn des Belletristik-Preises der Leipziger Buchmesse einfallen: „Puh!“, rutscht der 58-Jährigen heraus. Die dann doch schlagfertig die Kurve kriegt: „Ich bin sehr schlecht im unmittelbaren Reagieren auf irgendwas. Deswegen schreibe ich auch, damit ich hinterher wieder korrigieren kann.“ Überraschende Momente einer außergewöhnlichen Preisvergabe. Immerhin: Der scheidende Juryvorsitzende Jens Bisky findet es dann doch schön, dass „der letzte Akt der Juryarbeit“ in diesem verrückten Jahr in der Kongresshalle am Zoo stattfindet: „Es ist Jahrzehnte her, dass ich das letzte Mal in diesem Saal gewesen bin“, sagt Bisky, „damals in einem Schülerkonzert unterm Dirigat von Kurt Masur“.
Die digital übertragene Verleihung aus dem riesigen Saal – glücklicherweise ist die Jury live dabei! – führt vor Augen, wie sehr das übliche Summen und Brummen der Buchmesse vermisst wird. Da ist die Verleihung unterm Rund der Glashallenkuppel seit Jahren verlässliches Highlight. In kleinen Gesprächen mit den anwesenden Politikerinnen und Politikern, eingestreut zwischen der Bekanntgabe der glücklichen Gewinnerinnen, trägt man der sehr speziellen Situation Rechnung. „Ich habe Camus’ Roman ‚Die Pest’ wiedergelesen“, verrät etwa Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, als er von Oliver Zille gefragt wird, ob Literatur als „Pandemie-Krisenbewältigungs-Instrument“ bei ihm eine Rolle gespielt habe. „Was hätte wohl Heinrich Böll zur heutigen Situation gesagt?“, schiebt der ehemalige Deutschlehrer Jung nach.
An dieser Stelle müssen wir einmal hinter die Kulissen schauen: Einem Mann wie Jörg Wagner, der seine Dienste gewöhnlich geräuscharm im Bauch des Buchmessetankers versieht, ist wohl nicht an der Wiege gesungen worden, dass er einmal zu den Schlüsselfiguren eben jener Messe werden würde. Mit dem Team von Show Concept stellt er, unter anderem, die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse auf die Bühne der Kongresshalle und ins Netz. Keine triviale Aufgabe, gilt es doch, im je rechten Moment 17 Nominierte aus allen möglichen Welt-Gegenden per Video zuzuschalten – vom Neu-Metelner Bauernhaus der Helga Schubert bis zum Schweizer Residuum Christian Krachts. Kein Wunder also, dass es im – kein Witz! – ehrwürdigen Wagner-Saal der Kongresshalle so aussieht wie in einer Server-Farm im Silicon Valley.
Technisch besteht die Messe diese Herausforderung, und auch die Jury hält sich getreulich an das Diktum von Karl Kraus: „In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.“ Alle drei Gewinnerbücher stammen aus dem Pandemie-Jahr 2020, und der mit je 15.000 Euro dotierte Preis könnte Iris Hanika („Echos Kammern“, Droschl), Heike Behrend („Menschwerdung eines Affen“, Matthes und Seitz) und der Leipziger Übersetzerin Timea Tankó („Apropos Casanova“, Andere Bibliothek) im Buchhandel durchaus einen „Zweiten Frühling“ bescheren. Verständlich, dass die Berichterstattung sehr auf den Belletristik-Preis fokussiert; umso wohltuender die Worte des scheidenden Juryvorsitzenden Jens Bisky, der darauf hinweist, dass alle drei Kategorien das Grundgerüst unserer Gegenwartsliteratur bilden: „Ich glaube, dass wer bei Gegenwartsliteratur nur an Romane denkt, auch bei Romanen des Entscheidende verpasst.“