OK, Harold ist vom Tod fasziniert und fährt einen zum Leichenwagen umgerüsteten Cadillac. Aber: Ein Theaterstück, frei nach Hal Ashbys berühmtem Film „Harold und Maude“, aufgeführt in der Kapelle eines altehrwürdigen Friedhofs – geht das? Volker Mewes, der seit 1987 in der Leipziger Friedhofsverwaltung arbeitet, sieht darin kein Problem. Im Gegenteil: „Das Abschiednehmen gehört zum Leben. Es ist keinem geholfen, sich dem zu verschließen. Wir haben lange darüber nachgedacht, wie man den Friedhof und unsere außergewöhnlichen Räume für die Bürger öffnen kann – als Kultur-Ort, unabhängig von den einschneidenden Momenten um Tod und Trauer.“
Monumentale Melancholie
Wenn Friedhöfe auch Spiegelbilder der sozio-kulturellen Eigenart einer Stadt sind, gilt das für den Leipziger Südfriedhof, der 2016 130 Jahre alt wird, ganz besonders: Das rund 80 Hektar umfassende Areal nahe des Völkerschlachtdenkmals hat die Form eines Lindenblatts; sie zählt neben Hamburg Ohlsdorf und Stahnsdorf bei Berlin zu den größten parkähnlichen Friedhöfen Deutschlands. Den Mittelpunkt bildet die 1910 eröffnete Kapellenanlage mit ihrem über 60 Meter hohen Glockenturm. Das neoromanische Ensemble hatte die Klosteranlage Maria Laach in der Eifel zum Vorbild und gilt als Deutschlands imposantestes Friedhofsbauwerk. Unzählige Gräber von bedeutsamen Leipziger Persönlichkeiten befinden sich auf dem Südfriedhof, so zum Beispiel die der Verlegerfamilien Baedecker und Ullstein oder der Mundartdichterin Lene Voigt.
Von Jason Dark bis Bernhard Hoëcker
Nicht nur für Besucher des Wave-Gotik-Treffens, einem Musik- und Kulturfestival, das seit den frühen Neunzigern tausende Fans nach Leipzig lockt, gehören abendliche Führungen über den Südfriedhof zum Pflichtprogramm. Seit Mitte der Nullerjahre zählt die Kapellenanlage im Süden der Stadt zu den interessantesten Locations von Leipzig liest. Das Spektrum der Veranstaltungen ist breit und reicht von der Krimi-Lesung bis zu schrägen Comedy-Formaten: Wenn Geisterjäger John Sinclair oder der Schauspieler Bernhard Hoëcker hier auftreten, sind nicht zusätzliche Stühle notwendig. „Es kam schon vor, dass sich 300 Leute in der Hauptkapelle drängten“, erinnert sich Mewes, „bis hinauf zu den Emporen war alles belegt“. Normaler Weise ist die Hauptkapelle für rund 160, die intimere, als „Sprechkapelle“ konzipierte Westkapelle für 60 Plätze ausgelegt.
Zwei Lesungen messetäglich
Bis zu sieben Veranstaltungen gehen pro Buchmesse-Jahrgang über die Bühne, übers Jahr sind es ein gutes Dutzend, bis hin zu sommerlichen oder vorweihnachtlichen Konzerten. „Voll ist es eigentlich immer“, sagt Volker Mewes. Der Mann, der sich offiziell „Sachbearbeiter für Friedhofsrecht und Grundsatzfragen“ nennt, lässt es sich nicht nehmen, gelegentlich selbst eine Lesung zu besuchen. Zuletzt lauschte er einem Spoken-Word-Poeten. Enttäuscht war er noch nie. „Für mich ist es bereichernd. Ich finde es toll, unser historisches Ambiente für Leipzig liest-Nachtschwärmer zu öffnen.“