Kateřina, Sie sind Schriftstellerin, Kuratorin und Programm-Chefin des Festivals „Meeting Brno“ – das mehr als ein „normales“ Literaturfestival zu sein scheint…
Kateřina Tučková: Stimmt, es ist ein Festival quer durch alle Genres. Es ist eine Plattform, wo wir uns mit wichtigen Themen der jüngsten Vergangenheit beschäftigen, die für die Gegenwart relevant sind. Jedes Jahr Ende Mai kann man über zehn Tage rund 50 Veranstaltungen mit Autorinnen und Autoren, Künstlern, Musikern und Schauspielern erleben. Dazu organisieren wir ganz bewusst die Begegnung zwischen den Generationen.
Nächstes Jahr werden wir der 30. Wiederkehr der „friedlichen Revolution“ gedenken, die in Ihrer Heimat die „samtene“ genannt wird. Damals waren Sie neun Jahre alt – haben Sie noch Erinnerungen an diese Zeit?
Tučková: Ich wurde in der Mährischen Provinz geboren und lebte 1989 mit meiner Familie in einem kleinen Arbeiterstädtchen, in dem das Heulen der Fabriksirene den Alltag strukturierte: Jeder wachte um 5 Uhr morgens auf, um Punkt sechs in der Maschinenfabrik seine Arbeit zu beginnen – bis die Sirene um 14.30 Uhr das Ende des Arbeitstags markierte. Alles war wohlorganisiert, niemand in meinem Umfeld zog das politische Regime in Zweifel. Die samtene Revolution, mit der sich quasi über Nacht alles änderte, war, so gesehen, ein Schock. Eine große Unsicherheit bemächtigte sich der Leute. Und bald kam der nächste Schock, als die verdrängten Geschichten auftauchten: Über die Schauprozesse der 50er, den Prager Frühling, die verhafteten Intellektuellen. Was ich von dieser Zeit mitgenommen habe? Dass es extrem wichtig ist, sich gründlich zu informieren, offenen Auges durch die Welt zu gehen, um nicht von der Wahrheit überrascht zu werden.
Mit „Gerta. Ein deutsches Mädchen“ haben Sie 2010 einen der wichtigsten tschechischen Literaturpreise gewonnen. Das Thema des Romans, die Vertreibung der Deutschen nach 1945, war lange ein blinder Fleck – wie sind sie darauf gekommen?
Tučková: Die Vertreibung der Deutschen aus meiner Heimatstadt Brno im Mai 1945 war zu Zeiten der kommunistischen Herrschaft ein Tabu – keiner sprach darüber. An manchen Fassaden konnte man noch die verwitterten deutschen Aufschriften lesen. Als ich meine Nachbarn darauf ansprach, blieben sie stumm. Sie wollten nicht über die Juden und Deutschen sprechen, die vor uns in unseren Straßen, unseren Häusern, unseren Wohnungen lebten. Es war ziemlich schräg. So begann ich zu graben. Und fand die Geschichte von Gerta, der 21jährigen Mutter eines kleinen Babys, die 1945 zusammen mit 19.800 weiteren Frauen, Kindern und Alten aus Brünn auf den so genannten „Todesmarsch“ geschickt wurden. Allein, weil sie Deutsch sprachen! Viele Alte und Kranke haben das nicht überlebt; sie wurden rund 30 Kilometer von Brno entfernt in Massengräbern beerdigt. Ich war sehr berührt von diesem Fund, auf den ich dank befreundeter Historiker, in Büchern und Archiven gestoßen war. Und ich beschloss, Gertas Geschichte aufzuschreiben.
Können wir von Flucht und Vertreibung nach 1945 etwas für unseren Umgang mit der heutigen Flüchtlingskrise lernen?
Tučková: Die Nachkriegssituation war chaotisch, halb Europa schien unterwegs zu sein: Überlebende des großen Schlachtens, der Arbeits- oder Konzentrationslager, Waisen, Menschen mit psychischen Erkrankungen. Für Europa war das eine Extremsituation – aber man hat das letztlich organisiert bekommen. Ich bin überzeugt, dass es das ist, was wir von der Vergangenheit lernen können: Dass so ein Problem zu bewältigen ist, dass Hilfe für Bedürftige menschlich und selbstverständlich ist. Ich glaube, es wäre ein schrecklicher Fehler, Menschen, die in Gefahr sind und uns um Hilfe bitten, den Rücken zu kehren.
Sie sind Anfang November als Stipendiatin des deutsch-tschechischen Residenzprogramms in Leipzig angekommen. Wie sehen Ihre Pläne aus?
Tučková: Ich freue mich sehr auf diese Wochen. Ich will die Arbeit an meinem Roman „Bílá Voda“ (Weißwasser) fortführen, der mich seit 2015 beschäftigt und der auf tatsächlichen Begebenheiten basiert: In den 50er Jahren wurden in der kommunistischen Tschechoslowakei sämtliche Orden verboten; man warf ihnen „Zersetzung des Staates“ vor. Nonnen aus dem ganzen Land wurden in das kleine tschechisch-schlesische Dorf Bílá Voda an der Grenze zu Polen deportiert. Bis heute ist ihr Schicksal den meisten Tschechen unbekannt. Ich habe dazu lange recherchiert – was ich jetzt brauche, ist Zeit, mich aufs Schreiben zu konzentrieren. Dafür ist das Residenzprogramm ideal. Natürlich ist Leipzig auch als Stadt mit einem reichen Kulturleben bekannt – für mich ist die Stadt ein sehr inspirierender Platz!