Beginnen wir mit einer kleinen Runde Klischee-Bingo: Was sind die schlimmsten Vorurteile von Deutschen und Niederländern über den jeweils anderen?
Bettina Baltschev: Die Niederländer sind Hasch rauchende, Käse essende, auf „Klompen“ laufende Fahrradfahrer…
Kiffen, Käse, Holzschuhe…? Und die deutschen „Muffelköppe“, die „Moffen“?
Margot Dijkgraaf: Deutschland ist ein Land, wo die Züge immer pünktlich sind…
Ach herrje! …
MD: Die Deutschen verbringen ihre Ferien alle an der niederländischen Küste (lacht).
Tatsächlich sind die Niederlande und Flandern in Deutschland extrem beliebt – ähnlich wie Skandinavien. Woher kommt dieser Bonus?
BB: Das liegt wahrscheinlich an der Hartnäckigkeit, mit der sich Klischees halten. Radelnde Marihuanaraucher gelten wohl als tiefenentspannt – und damit sympathisch!
MD: Allerdings: Flandern ist nicht die Niederlande!
Alle Holländer sind Niederländer – aber nicht alle Niederländer sind Holländer!
MD: Auch das ist korrekt.
Wie war Leipzig im Frühjahr, das Vorglühen zum Gastlandauftritt? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Und wie haben die deutschen Leserinnen und Leser reagiert?
MD: Es hat sich sehr gut angefühlt, nicht nur, weil wir auf der Buchmesse viele Kopjes Koffie getrunken haben. Wir waren mit mehr als 20 Autorinnen und Autoren da, insgesamt gab es mehr als 30 Veranstaltungen, die einen ersten Vorgeschmack auf 2024 gegeben haben. Die Leute waren neugierig und interessiert.
BB: Der Stand war immer voll, da war immer ganz viel los. Ebenso beim Abendprogramm in der Stadt. Wir haben eingangs scherzhaft über die Klischees gesprochen – aber ich habe schon den Eindruck, dass es einen Sympathiebonus für die Niederländer – und die Flamen im Schlepptau! – gibt, von dem wir deutlich profitieren. Am Ende müssen wir natürlich auch liefern, das ist uns bewusst. Wir sind ja auch angetreten, mit ein paar Klischees aufzuräumen.
Über die Sprichwörtliche Lockerheit und Lässigkeit der Niederländer und Flamen haben wir gesprochen – gilt das auch für die Planung von Gastlandauftritten? Oder ist man da deutscher als die Deutschen?
MD: Bei der Orga geht’s hoffentlich cool zu – aber nein, natürlich ganz und gar nicht lässig! Wir wollen so wenig wie möglich dem Zufall überlassen (lacht).
Wie seid ihr an euren Kuratorinnen-Job rangegangen? Es ist ja kein leichtes Unterfangen, ganze Literaturen in all ihrer Vielschichtigkeit zu vermitteln?
MD: Die Kernsätze in unserem Statement zeigen, glaube ich, ganz gut, in welche Richtung es gehen soll: „Wenn die Welt sich verändert, verändert sich die Literatur“, heißt es da. Selten wurde uns das so deutlich vor Augen geführt wie in den vergangenen Jahren, mit Klimakrise, Überkonsum, Geflüchteten weltweit und Krieg in Europa. Aber umgekehrt gilt auch: „Wenn die Literatur sich verändert, verändert sich die Welt“. Unsere Sprache fungiert bei all diesen Prozessen als Antenne. Insgesamt erwarten wir in diesem und im kommenden Jahr um die 75 neu übersetzte Titel. Da auswählen zu müssen ist nicht einfach.
Welche Themen oder Debatten treiben Autorinnen und Autoren gegenwärtig in den Niederlanden und Flandern um? Verlaufen die Linien ähnlich wie in Deutschland? Schließlich leben wir ja in einer globalisierten Welt…
MD: Ich denke, es gibt viele Themen, von denen man auch in Deutschland redet: Klima- oder Flüchtlingskriese sind auch hier hot items. Natürlich auch der Krieg, und was er für Europa bedeutet. Vergessene Stimmen – Frauen, deren Rolle im öffentlichen Leben lange ignoriert wurde, Nachfahren versklavter Menschen – sprechen zu uns aus den Tiefen der Geschichte.
BB: Ich glaube, die großen Themen sind die gleichen. Aber die Perspektiven sind ein wenig anders. Nehmen wir, ganz simpel, den Klimawandel: Da sind die Niederlande und Flandern ganz offensichtlich noch viel bedrohter als wir. Gleiches gilt für die Kolonialismus-Debatte, die seit Jahren heftig in den Niederlanden geführt wird. Oder die Themen Gender und Diversität. In den Niederlanden wohnen zum Beispiel an die 18 Millionen Menschen, das ist vergleichsweise wenig. Aber wenn man in Amsterdam oder Rotterdam durch die Straßen geht, sind dort auf viel kleinerem Raum viel mehr unterschiedliche Menschen unterwegs. Was wir uns wünschen ist, dass es uns gelingt, Brücken zu schlagen, deutsche, niederländische und flämische Autor*innen miteinander ins Gespräch zu bringen.
Welche Formate erwarten uns mit Blick auf 2024?
MD: Wir möchten Dialoge anstoßen, ich denke, gerade das kann fürs Publikum interessant werden. Ich denke da an unser Freundschafts-Projekt…
BB: Wir haben schon drei Leipziger Autorinnen mit zwei Niederländerinnen und einer Flämin „verkuppelt“. Wir haben das Format „Du hast eine neue Freundschaftsanfrage“ genannt. Wer in den sozialen Medien unterwegs ist, kennt diesen Satz ja. Aber: Ist es wirklich Freundschaft, wenn ich dem Menschen nur online begegne? Was genau macht eine echte Freundschaft aus? Was bedeuten uns Freunde in unsicheren Zeiten? Wie weit würden wir in Zeiten von Krisen und Kriegen für einen Freund oder eine Freundin gehen? Die sechs Autorinnen sind eingeladen, über diese Fragen nachzudenken, sich darüber auszutauschen und – womöglich – Freundinnen zu werden. Am 25. Oktober findet im Rahmen des Literarischen Herbsts die erste Begegnung statt. Im Februar werden sich alle sechs in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Buchmesse Leipzig auftreten. Dann gibt es Kooperationen zwischen einer Schreibschule in den Niederlanden und dem Deutschen Literaturinstitut, wo die Studierenden sich über Übersetzungen austauschen wollen. In dieser Art gibt es eine ganze Reihe von Verbindungen. Es gibt einen flämischen Schwerpunkt beim Tanzfestival euro-scene, es gibt Residenzen an der GFZK, am Roger-Willemsen-Haus in Hamburg oder am Literarischen Colloquium Berlin und, und, und…
Wird es – ähnlich wie bei früheren Gastlandauftritten – eine Art „Headquarter“ in der Stadt geben?
BB: Wir werden die Schaubühne Lindenfels sehr massiv bespielen. Was aber nicht heißt, dass wir nicht anderswo in der Stadt auch präsent sein werden.
MD: Und wir wollen uns auch beileibe nicht auf die Literatur beschränken! Es gibt Filme, Musik, Ausstellungen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum…
BB: Wir erfinden das Rad nicht neu. Aber es ist schon unser Ehrgeiz, eine eigene Note reinzubringen… Und man darf nicht vergessen: Wir sind seit der Buchmesse im April permanent dabei, auch deutschlandweit Lesungen und Veranstaltungen zu organisieren – vom Literatursommer Schleswig-Holstein bis zu diversen Gastspielen in Literaturhäusern.
Ihr bemüht euch um Nachhaltigkeit…
MD: Absolut! Wobei auch die Übersetzerinnen und Übersetzer wichtig sind.
BB: Wir wollen sie natürlich einbeziehen, ihnen ein Podium geben. Interessant ist vielleicht auch, dass es eine Ringvorlesung an der Universität Leipzig zur niederländisch-flämischen Literatur geben wird. Da haben sich die Niederlandisten organisiert. Es wird Ausstellungen geben in Museen und Galerien Leipzigs, hier spielt die Botschaft der Niederlande eine wichtige Rolle. Man will das Gesamtbild präsentieren – mit der Literatur im Mittelpunkt, aber auch mit Kunst, Musik etc.
Welche Rolle spielt eigentlich der deutschsprachige Buchmarkt für die Niederlande und Flandern?
MD: Die Niederländer schauen stark Richtung USA und England. Es gibt tendenziell weniger Übersetzungen aus dem Englischen, gerade die Jüngeren kaufen oft originalsprachige Bücher.
BB: Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass der deutsche oder der französische Markt interessanter wird für Übersetzungen ins Niederländische. Ich glaube, dass Deutschland in Europa der wichtigste Bezugspunkt der Niederlande ist – wirtschaftlich, politisch, sicher auch kulturell. Es gibt ein geflügeltes Wort: Wenn Deutschland eine Grippe hat, hustet die Niederlande. Wenn ein niederländischer Autor in seiner Heimat ein paar Tausend Exemplare verkauft, ist das viel – wenn er in Deutschland die Chance hat, 15.000, 20.000 oder sehr viel mehr Bücher zu verkaufen, dann ist das natürlich extrem wichtig, hier präsent zu sein, einen Fuß in die Tür zu kriegen.
Man hat noch eine feste Vorstellung von gelungenen Gastlandauftritten: Das kleine Island hat Frankfurt im Sturm erobert, der nicht wahnsinnig großen Schweiz flogen in Leipzig die Herzen zu. Was soll man nach Leipzig 2024 in den Köpfen bleiben?
MD: Wir möchten zeigen, dass es hier eine ganz neue, spannende junge Generation gibt. Die nicht Cees Nooteboom heißt oder Connie Palmen – sondern im Zweifelsfall Valentijn Hoogenkamp oder Lisa Weeda. Das soll man behalten: dass es nicht nur flache Länder gibt, durch die der Wind gut durchpusten kann – sondern dass der Raum da ist zum Nachdenken, zum Schreiben, Raum für neue Stimmen, denen man offen und vorurteilsfrei begegnen kann.
Bleibt die Frage: Was sollen wir in den nächsten Wochen und Monaten lesen? Was liegt auf euren Nachttischen?
BB: Ich habe gerade zwei Bücher gelesen, die mir sehr gut gefallen haben: In „Kontur eines Lebens“ (DuMont, Übersetzung: Birgit Erdmann) von Jaap Robben erinnert sich die hochbetagte Floristin Frieda daran, wie sie in den Sechzigerjahren von einem verheirateten Mann schwanger wurde und ihren Traum von Familie und Geborgenheit nie leben konnte – heute kaum noch vorstellbar! „Der berühmte Tiefpunkt“ der jungen flämischen Autorin Amarylis De Gryse (Arche, Übersetzung: Ruth Löbner) erzählt von der Altenpflegerin Marieke, die sich auf die Spuren ihres Vaters begibt und schließlich in Familie, Beziehung und Beruf neu definiert. Beide Autorinnen behandeln schwerwiegende Themen – Entfremdung in der Familie, psychische Erkrankungen – dennoch schreiben sie in einem leichten Ton, der einen ganz schnell mitnimmt.
Das sind Romane – wie sieht es mit Essay und Lyrik aus?
MD: Für mich ein sehr wichtiges Buch ist „Verschiebungen“ von Stefan Hertmans, ein flämischer Autor, der in einem Dutzend Kapitel die großen Probleme der Welt angeht – und die Fragen stellt, die uns jeden Tag bewegen.
BB: Bei Lyrik würde mir Radna Fabias einfallen; sie wurde 1983 auf der karibischen Insel Curaçao geboren, wo sie auch aufwuchs. Ihr Debüt als Lyrikerin gab sie 2018 mit dem Gedichtband „Habitus“, der alle wichtigen Lyrikpreise in den Niederlanden und Belgien gewann, darunter den Herman de Coninck Preis und den Grote Poëzieprijs. Radna Fabias ist übrigens auch die niederländische Übersetzerin von Nobelpreisträgerin Louise Glück.
Und habt ihr auch einen interessanten, komplett nicht-flachen Musik-Tipp für mich, wenn ich mich korrekt auf den kommenden März eingrooven will?
BB: Wir sind auch im Gespräch, Musiker*innen mitzubringen, aber das ist noch nicht ganz spruchreif. Natürlich haben die Niederländer und Flamen eigene Musik-Szenen… Was bei MDR Kultur zurzeit häufiger läuft, ist Wouter Hamel, ein niederländischer Jazz-Sänger. Ich selbst bin Fan von Wende, bürgerlich Wende Snijders, eine niederländische Sängerin, die hier in Deutschland (noch) keiner kennt – die aber großartig ist…
Vielleicht bringt ihr sie einfach mit?
BB: Man muss natürlich auch schauen, was das Budget hergibt. Am Ende vielleicht lieber drei Autorinnen mehr als eine Sängerin? Aber wir sind längst noch nicht am Ende unserer Planungen.
MD: Zur Eröffnung im Gewandhaus wird es zeitgenössische Musik mit Ragazze Quartet geben – neue und zeitgemäße Klänge für drei Frauen, die viel zu lange am Rande der großen griechischen Mythen gewartet haben.
Also auch hier: Alles außer flach!
MD, BB: Genau!
Margot Dijkgraaf wurde 1960 in Amsterdam geboren, wo sie auch heute lebt. Als Literaturkritikerin, Autorin, Kuratorin und Moderatorin ist sie mit vielen niederländischen und europäischen Kultureinrichtungen eng verbunden und war unter anderem Gründungsdirektorin des akademisch-kulturellen Zentrums SPUI25 in Amsterdam. Margot Dijkgraaf reist viel und schreibt für die große niederländische TageszeitungNRC Handelsblad über Literatur und Kunst. Sie tritt regelmäßig in Radio und Fernsehen auf und berät Festivals, Vorstände und Jurys in den Niederlanden und darüber hinaus. Margot Dijkgraaf ist Autorin mehrerer Bücher über niederländische Schriftstellerinnen und Schriftsteller – darunter Cees Nooteboom und Hella S. Haasse – sowie über europäische und französische Literatur. 2021 wurde sie für ihr Engagement mit dem Literaturpreis De Gouden Ganzenveer ausgezeichnet.
Bettina Baltschev wurde 1973 in Berlin geboren. Sie studierte in Leipzig und Groningen und lebt heute in Leipzig und Amsterdam. Die Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin war unter anderem für das Internationale Literaturfestival Berlin und die Kurt Wolff Stiftung tätig. Heute ist sie Geschäftsführerin des Sächsischen Literaturrates und arbeitet als Literaturkritikerin für den Hörfunk der ARD und den Deutschlandfunk. Sie moderiert regelmäßig Lesungen und Podiumsdiskussionen und gehört zu den Präsentatorinnen von Kopje Koffie. Der niederländisch-flämische Bücherpodcast. Das Buch Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand wurde 2021 mit dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis ausgezeichnet und war für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.